Herr Gehl, Sie sagen: Wenn wir Städte menschenfreundlicher machen wollen, können wir gleich morgen damit beginnen – auch hier in Stuttgart.
Jede Stadt, mit der ich zusammengearbeitet habe, hat eine Abteilung, die für den Verkehr zuständig ist. Und alle Verkehrsbehörden haben ausgezeichnete Statistiken. Sie wissen, wie viel Verkehr es im letzten Jahr gab, wie viel in diesem Jahr, und sie machen davon ausgehend Voraussagen. Sie sagen, wir brauchen hier mehr Spuren, da mehr Parkplätze und so weiter. Wir sagen: Was man zählt, darum kümmert man sich.
Wie und wo würden Sie denn anfangen mit dem Zählen?
Das erste, was ich tun würde, wäre eine Untersuchung über das Leben in der Stadt. Das ist überraschend einfach. Sie müssen nicht an jedem Tag Radfahrer und Fußgänger zählen, es genügt ein gewöhnlicher Tag in der schönen Jahreszeit, ein Wochentag und ein Samstag, und vielleicht noch ein, zwei Tage im Winter. Dann können Sie anfangen, die Ergebnisse mit anderen Städten zu vergleichen. Als ich Moskau beraten habe, war eines der besten Argumente: Auf der Haupt-Einkaufsstraße war nur ein Viertel so viele Fußgänger unterwegs wie in New York oder London. Ebenso in Sydney: Die Gehwege waren sehr schmal. Und es gab halb so viele Fußgänger wie man in einer Stadt dieser Größe erwarten würde. Also haben wir gesagt: Macht die Gehwege breiter, dann werdet ihr bessere Geschäfte machen. 'Oh, so einfach ist das?', wurde ich gefragt. Die Antwort: Ja, so einfach ist es. Ich empfehlen, eine eigene Abteilung dafür einzurichten. Viele Städte haben dies schon getan.
Die Radfahrer werden in Stuttgart tatsächlich gezählt. Aber wenn festgestellt wird, dass der Autoverkehr zunimmt, werden die Straßen ausgebaut.
Wir wissen inzwischen ganz genau: Wer Platz macht für mehr Verkehr, bekommt mehr Verkehr. Wer dagegen den Fußgängern und dem öffentlichem Leben mehr Raum gibt, bekommt davon mehr. Und wer zum Radfahren einlädt und dies ernsthaft und sorgfältig betreibt, wird auch mehr Radfahrer bekommen. Es gab diese Debatten im Gemeinderat von Kopenhagen. Sie haben sich für eine Politik entschieden, die darauf hinausläuft: Wir sind die beste Stadt der Welt für Menschen und Radfahrer. Wann immer jetzt ein Entwickler oder Architekt dort ein Projekt vorstellt, überprüft die Stadt dieses an ihrer Strategie. Und wenn beispielsweise nicht genug für den Radverkehr getan wurde, schicken sie den Entwickler wieder nach Hause und sagen: 'Sie können in einem Monat wiederkommen, wenn Sie das überarbeitet haben.'
Stuttgart will den Radverkehrsanteil auf 20 Prozent erhöhen und den Autoverkehr um 20 Prozent reduzieren. Nun fahren zwar mehr Leute Rad, aber auch der Autoverkehr nimmt zu. Viele Menschen kommen nach Stuttgart wegen der Arbeit, finden aber keine bezahlbare Wohnung und ziehen zum Teil weit hinaus aufs Land, wo es kein ausreichendes ÖPNV-Angebot gibt.
8 Kommentare verfügbar
Martina Auer
am 07.02.2019In Stuttgart gibt es keine Strategie. Außer, dass hier der Daimler, der IHK-Filz und der Wirtschafts-Politik-Medien-Sumpf das Sagen haben. Man beseitigt hier lieber…