30 Prozent der Leistungen ihres Hartz-IV-Satzes sind ihr gestrichen worden. Nennen wir die sympathische junge Frau, die die meiste Zeit unseres Gespräches in der Mitte des Wohnzimmers der Böblinger Dachgeschosswohnung steht, in der sie zusammen mit ihrer Mutter wohnt, Ingrid Moretti. Sie heißt eigentlich anders, wohnt nicht in Böblingen und will unerkannt bleiben. Mit ihren 25 Jahren hat Moretti eine bereits zehnjährige "Hartz-IV-Karriere" hinter sich, die wunderbar zum RTL-2-Klischee passt. Als sie 15 Jahre alt ist, trennen sich ihre Eltern, sie bleibt bei der Mutter, schlechter Hauptschulabschluss, Berufseinsteigerjahr, Gerichtsverhandlung gegen den Vater wegen nicht bezahlten Unterhalts, abgebrochene Malerlehre, Ein-Euro-Job, Arbeitsverhältnisse im Niedriglohnbereich. Als Burgerbraterin, Zeitungszustellerin, bei einem Klamottendiscounter, in der Gastronomie, das volle Programm.
Doch Moretti kriegt die Kurve, geht auf die Realschule, macht einen guten Abschluss und bekommt den ersehnten Ausbildungsplatz als Rechtsanwaltsfachangestellte bei einem Anwalt vor Ort. Und dann das: Kaum hat sie angefangen, geht ihr Chef in Urlaub und gibt ihr Arbeitsanweisungen vom Autotelefon aus – bei Gericht anrufen, bei Mandanten ausstehende Gelder eintreiben, was Moretti sehr unangenehm ist, weiß sie doch selbst, wie ohnmächtig es sich anfühlt, wenn man Schulden nicht bezahlen kann. Als ihr Chef aus dem Urlaub zurück ist, erzählt sie, wird sie kaum eingearbeitet. Er macht Witze über mittellose Menschen, die mit ihrem Beratungshilfeschein von Pontius zu Pilatus rennen, um einen Anwalt zu bekommen, und wird ihr gegenüber mehrfach laut. Ein Choleriker. "Das Arbeitsklima war schrecklich", fasst die junge Frau ihre Erlebnisse zusammen.
Als er droht, ihr zu kündigen, überlegt Ingrid Moretti, ihm zuvorzukommen, von sich aus das Arbeitsverhältnis zu beenden und zu versuchen, an einer anderen Stelle in das gerade erst begonnene Ausbildungsjahr einzusteigen. Also geht sie, wie in den Jahren vorher, erneut den schweren Gang zum Jobcenter. Sie schildert dort ihre Lage und bekommt von der Dame der Leistungsabteilung die Auskunft, wenn sie unter diesen Umständen kündigt, dürfte es voraussichtlich keine Probleme geben. Erleichtert reicht Moretti ihre Kündigung ein, gibt eine Kopie beim Jobcenter ab – und erhält eine Woche später einen Sanktionsbescheid. Sie habe, so das Amt, ihre Hilfebedürftigkeit bewusst herbeigeführt. Deshalb wird ihr der so genannte Regelbedarf von 416 Euro, der für den Lebensunterhalt mit Ausnahme der Wohnkosten vorgesehen ist <link https: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft eine-kugel-eis-ist-luxus-4978.html external-link-new-window>und selbst Kleinigkeiten zum Luxus macht, für den Zeitraum von drei Monaten um ca. 125 Euro gekürzt. Mit freundlichen Grüßen.
Weihnachten fiel letztes Jahr aus, so Moretti lapidar. Ein paar selbstgebackene Plätzchen hat sie verschenkt, für weitere Geschenke war kein Geld da. Und wenn sie von der Beratungsstelle der Diakonie, an die sie sich gewendet haben, nicht etwas Geld bekommen hätten, wirft ihre Mutter ein, hätten sie Ende Dezember hungern müssen. Denn auch Morettis Mutter erhält aufgrund verschiedener Rückforderungsbescheide des Jobcenters, die sie schon lange nicht mehr nachvollziehen könne, nur 70 Prozent des Regelbedarfes.
Natürlich hat Moretti mit 25 Jahren auch Träume – auf dem Bildungsweg vorankommen, sich befreien von Hartz IV. Oder auch der kleine Traum, sich mit Gleichaltrigen in einer Kneipe zu treffen. Aber drei Stunden lang an einer kleinen Cola zu trinken, ist genauso wenig prickelnd wie der Gedanke, sich immer wieder von den anderen einladen zu lassen. Da bleibt sie lieber zuhause – und wenn sie aus dem Haus geht, nimmt sie inzwischen lieber den Hinterausgang. Damit sie möglichst keiner sieht.
4 Kommentare verfügbar
Jue.So Jürgen Sojka
am 28.02.2019Do. 28.02.2019 Debatte um Hartz IV
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