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Carpe DiEM

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Seit gut zwei Jahren gibt es DiEM 25, initiiert von Yanis Varoufakis, dem ehemaligen Finanzminister von Griechenland. Die linke Bewegung möchte Europa zur EU-Wahl 2019 wieder zusammenbringen und gerechter machen. Zumindest die Idee ist gut.

Nico hat sich per Mail als Igor angemeldet. Im Internet sei er nie mit seinem richtigen Namen unterwegs, erzählt er. Er trägt einen Anstecker mit einer Kuh drauf, die eine Maß Bier trinkt, er ist bei den Parkschützern, bei den Anstiftern, bei den Stadtisten und zudem überzeugter, nein – glühender Europäer. "Aber wenn die Wahl kommt, wen soll ich wählen?", fragt er, gemeint ist die Europawahl im Mai 2019, "wieder Sonneborn von der 'Partei' oder gibt's auch eine seriösere Möglichkeit?" DiEM 25 vielleicht, hat er sich überlegt, deshalb ist er an diesem Abend auch hier, das erste Mal beim Treffen des Stuttgarter Ablegers. Denn bisher sei die DiEM-Bewegung "total an mir vorbeigegangen", sagt Nico.

DiEM was?

DiEM 25 <link https: diem25.org main-de _blank external-link>(Democracy in Europe Movement 2025), die Bewegung von Yanis Varoufakis, dem ehemaligen griechischen Finanzminister, startete als Hoffnungsträger und mit großem Tamtam 2016 in der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. "Ein Manifest wie ein Gedicht" titelte die "Zeit" damals, das "Neue Deutschland" nannte die Veranstaltung die "Varoufakis-Sause". Kaum ein Medium kam um die Gründung dieser Bewegung herum, die aus der Finanzkrise entstanden war und Europa komplett auf links drehen will. Und das auch noch mit prominenten Persönlichkeiten wie Noam Chomsky, Julian Assange oder dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek, unterstützt auch von der Linken-Vorsitzenden Katja Kipping. Dann verschwand DiEM 25 wieder in der medialen Versenkung.

Erst, als Yanis Varoufakis vor ein paar Wochen bekannt gab, in Deutschland für DiEM 25 zur Europawahl zu kandidieren, kroch die Bewegung wieder kurz ins bundesdeutsche Bewusstsein. Auch Nico ist durch die Varoufakis-Kandidatur neugierig geworden. "Ich habe noch nie etwas aus dem Mund von Varoufakis gehört, das ich nicht hätte unterschreiben können", sagt er.

Immer donnerstags treffen sich die Verfechter eines menschlichen und gerechten Europas in Stuttgart im Büro des Bürgerprojekts Die Anstifter. Nicht ganz regelmäßig, aber doch bemüht um Kontinuität.

Utz Gundert, Rentner, ehemals Mitarbeiter von Brot für die Welt, hat die Lokalgruppe im Februar 2018 gemeinsam mit dem Stuttgarter ITler Patrik Weber gegründet. "Damals hab ich mit Utz telefoniert und war ganz enthusiastisch", erzählt der und machte sofort mit. "Weil DiEM 25 eine linke Sammelbewegung für Europa ist", sagt Weber. Martin Gmür sitzt auch mit am Tisch. Eigentlich ist er ein Grüner und "in manchem nicht so links", sagt er. "Aber ohne Europa werden wir eine freiheitliche und friedliche Gesellschaft nicht halten können. DiEM 25 ist die einzige Bewegung, mit der ein friedliches und gerechtes Europa klappt."

Kleine Gruppe, großes Ziel

Andreas Mayer-Brennenstuhl ist da, ein Stuttgarter Künstler, bekannt durch den Protest gegen Stuttgart 21 und diverse Aktionen gegen den Tiefbahnhof. Er wandert seit 1. April 2017 in Etappen durch Europa und spricht auf seinem Weg mit den Menschen, die er trifft. Im Jahr läuft er so 500 bis 600 Kilometer, "Neuropa" hat er sein Projekt getauft. Dann gibt es Christian Scheurer aus Leinfelden bei Stuttgart, seit einem Jahr ist er DiEM 25-Mitglied. Und Irene Waller, SPDlerin. Sie war die erste, die sich auf die Gründungs-Initiative von Utz Gundert und Patrik Weber gemeldet hat. Sie war dabei beim ersten Treffen des taufrischen "DSC".

Ein DSC ist ein DiEM 25 Spontaneous Collective, was hochtrabend klingt, aber eigentlich nur eine Orstgruppe bezeichnet, die, so steht es auf der DiEM Homepage – "selbst-organisatorische Ausbreitung der Bewegung" leisten soll.

Ortsgruppen unter dem DiEM-Label kann jeder gründen, der sich am zehnseitigen Manifest der Bewegung orientiert. Dessen vier Grundsätze: "Kein Land kann frei sein, wenn die Demokratie eines anderen verletzt wird. Kein Land kann in Würde leben, wenn einem anderen die Würde vorenthalten wird. Kein Land kann auf Wohlstand hoffen, wenn ein anderes in permanente Zahlungsunfähigkeit und wirtschaftliche Depression gedrängt wird. Kein Land kann wachsen, ohne dass seine schwächsten Bürger Zugang zu grundlegenden Gütern haben, ohne das Ziel menschlicher Entwicklung, ökologischen Gleichgewichts und der Überwindung der Ära der fossilen Brennstoffe."

In Australien gibt es einen DSC, mehr als 20 in Deutschland, elf in Griechenland, einen in der Slowakei und so weiter. Manchmal ist nur eine Mailadresse zur Kontaktaufnahme angegeben, andere Gruppen haben eigene Homepages, viele Facebook-Leichen sind darunter – Profile, auf denen seit Monaten nichts mehr passiert ist.

Den Stuttgarter Ableger gibt es als Mailpostfach und geschlossene Facebook-Gruppe. Wer Gundert und seine motivierten MitstreiterInnen bei den Anstiftern findet, tut das bisher eher durch Zufall oder Mund-zu-Mund-Propaganda.

Dabei ist DiEM 25 eigentlich angelegt wie die Piraten-Partei, über die Crowd im Netz politische Ideen zu diskutieren und umzusetzen. Irene Waller arbeitet beispielsweise gerade an einem Papier zum Thema Migration, das die Bewegung zur Diskussion an alle Lokalgruppen ausgegeben hat. Deren Vorschläge werden in die Community eingespeist und sollen letztlich von allen Mitgliedern diskutiert werden. Wie zum Thema Migration sollen auch zu Themen wie Arbeit, Transparenz oder Ökologie Vorschläge eingebracht und diskutiert werden. Wenn alle von DiEM vorgegebenen Themenblöcke letztendlich diskutiert und verabschiedet sind, soll aus den Themenpapieren 2025 eine Europäische Verfassung entstehen. Das ist die eigentliche basisdemokratische, politische Arbeit, die die Bewegung macht. Diskutiert wird in Gruppen über eine interne Plattform, die sich derzeit noch recht chaotisch anhört, eingespeist wird alles per Netz, ähnlich wie zu den Anfängen der Piraten.

Bloß: die Piraten waren und sind eine überwiegend netzaffine Gemeinde, DiEM 25 und seine Mitglieder sind das nicht. Und sie haben die Schwierigkeit des Paneuropäischen zu überwinden, also mehrere Länder mit einzubeziehen. Viele Infos gibt es deshalb nur auf Englisch, die DiEM-Internetseiten sind irgendwie verwirrend, viele Links führen irgendwohin, es herrscht Schriftgrößen-Wirrwarr und eigentlich fängt die Misere alleine schon beim – unscharfen – Aufmacher-Foto für <link https: diem25.org manifesto-lange-version _blank external-link>die "Manifest"-Seite an: Vorne Varoufakis, im Hintergrund ist ein Mann zu sehen, der mit dem Handy fotografiert – der Richtung nach den Hintern des griechischen Ex-Finanzministers.

Das alles ist einigermaßen schade. Denn DiEM 25 ist eine der besseren politischen Ideen der vergangenen Zeit. DiEM 25 könnte ein echtes Angebot sein, auf den europäischen Rechtsruck zu antworten. Nicht so neoliberal und kurzlebig wie "Pulse of Europe", als Bewegung lebendiger und weltoffener als "aufstehen" und mit Ansätzen, die – würde man sie wirklich angehen - ein tatsächlich kluges, modernes, ökologisches und gerechtes Europa schaffen würde. Eines, das den Umweltschutz groß schreibt, ein flüchtlingsfreundliches ohne Grenzen, ein gerechtes – zu starken und schwachen Partnern, eines das die Vielfalt feiert und Nationalismus und Rassismus ablehnt, Nachhaltigkeit fordert, und Mächtigen – seien es Lobbyisten oder Firmen – die Macht zu beschneiden zum Wohle aller. Klingen tut das so schlecht nicht, denn all das sind Themen, die nicht nur nationalstaatlich, sondern bestens gesamteuropäisch nach Lösungen verlangen. 

Bei seiner Gründung präsentierte sich DiEM 25 als reine Bewegung. Damals sollten politische Parteien unterstützt werden, die im Geiste von DiEM 25 handeln. Im November 2017 wurde in einer europaweiten Abstimmung entschieden, dass DiEM 25 zusätzlich einen parlamentarischen und politischen Arm benötigt, einen Wahlflügel.

Die DiEM-Macher wollten ursprünglich eine transnationale europäische Liste aufstellen. Weil das aber nicht geht, blieb: die EU-Wahl zu "hacken", so schreibt es DiEM auf seiner Homepage. Unterm eigenen Label ein Wahlbündnis zu gründen, also nationale Parteien zu versammeln, die im DiEM-Sinne zur Wahl antreten. In Deutschland, Dänemark, Griechenland, Frankreich, Italien, Polen, Portugal und Spanien kooperieren kleine Parteien, um DiEM 25 wählbar zu machen. In Deutschland ist es die Liste "Demokratie in Europa", bei der der deutsche Wahlflügel von DiEM25 mit der Kleinpartei "Demokratie in Bewegung" zusammenarbeitet. In Griechenland beispielsweise hat Varoufakis extra die Kleinpartei Mera25 gegründet, in Polen kooperiert DiEM mit "Razem" (polnisch "zusammen"), in Portugal mit "Livre", in Frankreich mit "Generation.S" und so weiter.

Die linke Prominenz sitzt in den ersten Reihen

"DiEM 25 hat derzeit mehr als 96 000 Mitglieder in mehr als 195 Ländern", heißt es auf der Homepage. Zum Vergleich: die Grünen haben in Deutschland etwas über 70 000, die Linke um die 60 000 Mitglieder, da ist also noch Luft nach oben. An der Spitze der DiEM-Bewegung gibt es ein zwölfköpfiges Koordinierungskollektiv zu dem auch Yanis Varoufakis und Noam Chomsky gehören – es organisiert Versammlungen oder Kampagnen, die von Mitgliedern oder anderen Gremien für das Gesamtkollektiv vorgeschlagen wurden. Dann gibt es einen Beratenden Ausschuss, der Soziologe Richard Sennet gehört beispielsweise dazu und die kanadische Journalistin Naomi Klein, und das Beschlussfassende Gremium, zuständig für kurzfristige Reaktionen auf aktuelle Ereignisse oder Streitschlichtung.

Auf Ebene der einzelnen Länder gibt es Bundeskommitees, ganz unten sind die Spontaneous Collectives angesiedelt, die kleinsten Gruppen. Wie die in Stuttgart. Dort ist erstmal Basis-Arbeit angesagt: Manöverkritik zu einem Vortrag kürzlich. Ideen für einen Flyer sammeln. Die Frage, ob man versuchen sollte, Kontakt zu "Pulse of Europe" herzustellen.

"Oder zu Attac?", fragt Irene Waller. Die seien groß in Stuttgart, habe sie gehört. Beispielsweise, sagt die einzige Frau an diesem Abend, sei doch für ökologisch denkende Menschen von Interesse, welche Produkte man kaufen könne, die nicht von Unternehmen hergestellt würden, die Menschenrechte verletzten. "Oder: Thema Jugendarbeitslosigkeit", sagt Waller. "Von Griechenland weiß man's, wie ist das in Europa?"

Utz Gundert würde eher in Richtung wirtschaftliche Fragestellung gehen. "Darüber diskutieren, wie man ändern kann, dass Deutschland andere Länder durch Niedriglohn ausbluten lässt." Patrick Weber möchte mehr in Richtung Utopie. Seine Motivation: eine Plattform zu finden, auf der man über eine linkes Europa diskutieren kann und "darüber, wie man sich die EU wünscht". Und das nicht in der eigenen Echokammer, sondern drüber hinaus. "Ich wünsche mir Offenheit" sagt er.

Gundert fragt: "Wie können wir mehr Werbung für uns machen?"

Und dann sagt Irene Waller den Satz des Abends: "Eine eigene Homepage, das wäre doch klasse." Dem kann man nur zustimmen.


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3 Kommentare verfügbar

  • Peter Meisel
    am 16.01.2019
    Antworten
    Schon lange, seit 2009 bin ich bei KONTEXT, weil es dort kritische Menschen gibt, die hinschauen (KRABAT) und sich selbst regieren! Allein die "Spekulation über 10 Ha freiwerdendes Gleisgelände und MIPIM (Messe in Cannes) mit anwesenheit der Stadt Stuttgart, lohnt zur persönlichen Information, um…
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