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Bus auf Bestellung

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Schorndorfer Busse fuhren am Wochenende ohne feste Haltestellen 40 Wochen lang. Ein ideales Modell für dünner besiedelte Randgebiete. Doch genau das verhindert die von der EU verordnete Ausschreibungspflicht. Hat das Pilotprojekt trotzdem eine Zukunft?

Die VVS-Fahrplanauskunft habe angezeigt, sie hätten Anschluss an einen Bus der Linie 242, behaupten zwei Fahrgäste. Möglicherweise haben sie sich im Tag geirrt. Denn am Freitagabend ab 20 Uhr, wie auch samstags und sonntags, verkehrt in der Schorndorfer Südstadt – das ist das gesamte Stadtgebiet südlich der Bahnlinie einschließlich der historischen Altstadt – seit 10. März kein Linienbus. Also auch an diesem letzten Novembertag.

Das heißt nicht, dass der öffentliche Nahverkehr eingestellt ist. Aber die beiden Kleinbusse, die am Bussteig 1 bereitstehen, um die Fahrgäste von der S-Bahn abzuholen, folgen nicht einer fixen Linie. Sie holen die Fahrgäste ab und bringen sie wohin sie wollen. Sie haben auch keine Nummer, sondern Namen: Barbara heißt der größere mit zwölf Sitzen, benannt nach Barbara Künkelin, der Bürgermeistersgattin, die im 17. Jahrhundert Schorndorf vor der Plünderung durch den französischen General Melac bewahrt haben soll. Und der kleinere mit acht Sitzen heißt Gottlieb, nach dem wohl bekanntesten Sohn der Stadt, ohne den es keine Automobile und keinen Busverkehr gäbe.

Die beiden Fahrzeuge stammen denn auch von dem Unternehmen, das bis heute den Namen Daimler trägt. Barbara ist barrierefrei, mit Rollstuhlrampe. Gottlieb verfügt über einen Hybridantrieb, fährt momentan freilich, wie ein vernehmliches Brummen verrät, mit Diesel. Die Batterie, sagt Kristian Ladesic, ist am Ende angelangt. Ladesic ist eigentlich der Fahrdienstleiter des Unternehmens Knauss, das in Schorndorf den Busverkehr betreibt. Er arbeitet meistens im Büro, bearbeitet die Fahrpläne und teilt die Fahrer ein. Aber bei Barbara sitzt er auch gern mal hinter dem Steuer.

Die Busse fahren nach Bedarf

Ein Konsortium aus drei wissenschaftlichen Instituten, federführend das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), dazu die Hochschule Esslingen und das Zentrum für interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung (Zirius) der Uni Stuttgart, hatte nach einem Verkehrsbetrieb gesucht, um sich mit dem Projekt eines Busverkehrs ohne feste Haltestellen auf die zweite Förderlinie der baden-württembergischen Reallabore zu bewerben. Die Firma Knauss war interessiert. Schorndorf hatte schon 2014 beschlossen, den Takt zu verdichten und auch am Wochenende den halbstündigen Rhythmus der S-Bahnen zu bedienen. Dafür waren die gewöhnlichen Zwölf-Meter-Stadtbusse zu groß.


"Haben Sie gebucht?" fragt Ladesic einen eintretenden Fahrgast. Normalerweise sollte, wer mitfahren will, sich spätestens fünf Minuten vorher gemeldet haben. Am besten über die eigens entwickelte App. Das klappt auch meistens, obwohl die App offenbar nicht immer richtig funktioniert. Ein älterer Fahrgast, der etwas davon zu verstehen scheint, spöttelt: "Wenn's das Deutsche Raumfahrzentrum nicht hinkriegt, kann es mit der Wissenschaft nicht weit her sein."

Menschen, die kein Smartphone haben oder mit der App nicht zurecht kommen, können sich per Telefon anmelden oder über die Website des Verkehrsverbunds, was allerdings kaum jemand tut. In Schorndorf ist das Projekt bekannt. Damit die Menschen, die noch nie von Barbara und Gottlieb gehört haben, nicht im Regen stehen, haben Stadt und Busbetrieb beschlossen, dass man vom Bahnhof aus auch mitfahren kann, ohne zu buchen. Da es keine Haltestellen gibt, gilt überall der Kurzstrecken-Tarif.

Ladesic und Jürgen Betz, der Fahrer von Barbara, sprechen sich noch einmal ab. Zwei Fahrgäste wechseln das Fahrzeug. Manchmal ist Gottlieb schon recht voll und Barbara hat noch Platz. Oder die beiden Fahrer wissen besser als das System, wie sie am besten alle zum Ziel bringen. Ladesic kennt Schorndorf gut, aber wenn man anders fährt, als es die App vorgibt, muss man aufpassen, sagt er. Denn die Fahrgäste, die zum Bahnhof oder in die Stadt wollen, haben den Bus zu einem festen Zeitpunkt an einem bestimmten Ort gebucht. Neben den bisherigen Bushaltestellen wurden 200 weitere Haltepunkte definiert, wo die Passagiere gefahrenfrei ein- und aussteigen können.

Gottlieb und Barbara sparen Sprit und Emissionen

Schnell ist der Punkt erreicht, wo die letzten Fahrgäste das Fahrzeug verlassen. Ladesic sieht auf der anderen Straßenseite einen jungen Mann. Er kurbelt das Fenster herunter und ruft: "Wo willst du hin?" Der junge Mann kann zusteigen. Er besucht um diese Zeit immer seine Freundin. Im Linienbetrieb müsste er am Bahnhof umsteigen. Ladesic bringt ihn direkt dorthin. Ebenso einmal die Woche drei ältere Damen, die zum Bowling ins Kalaluna wollen.

Schnell ist der Ausgangspunkt wieder erreicht. Doch bevor Gottlieb wieder richtig herum vor dem Bahnhof steht, muss er noch das Arnoldareal umrunden. Eine andere Möglichkeit zu wenden gibt es nicht.

Nicht von Anfang an lief das Experiment so reibungslos. Zu Beginn startete der Bedarfsbusbetrieb freitags schon um 15 Uhr. Das war mit den vielen Berufspendlern kaum zu bewältigen. Seit Mai galten daher folgende Zeiten: freitags ab 20 Uhr, samstags ab 13 Uhr und sonntags ganztägig.

Etwa 20 000 Fahrgäste sind bis zum Projektende Mitte Dezember mit Gottlieb und Barbara in Schorndorf gefahren. Das entspricht ungefähr dem vorherigen Linienbetrieb. Doch obwohl die beiden Fahrzeuge ein größeres Gebiet abfahren, haben sie rund 2000 Kilometer weniger zurückgelegt: das sind zehn Prozent weniger Sprit und zehn Prozent weniger Emissionen - abgesehen davon, dass die kleineren Busse und der Hybridbetrieb nochmal sparen. 96 Prozent der App-Anfragen waren erfolgreich. Allerdings gab es anfangs viele Beschwerden. Ein intensives Beteiligungsverfahren mit elf regelmäßigen Nutzern, Diskussions- und Experimentierrunden halfen, die Probleme zu identifizieren.

Jürgen Betz ist früher für Regiobus Stuttgart gefahren, einer Tochter der Deutschen Bahn: in Schorndorf, in Kirchheim und Göppingen. Dann mussten nach der neuen EU-Richtlinie die Linien europaweit ausgeschrieben werden. Regiobus Stuttgart unterlag, Betz musste sich nach einer neuen Arbeit umsehen. Er war froh, in seinem Wohnort Schorndorf etwas zu finden, und im Gegensatz zu jüngeren Kollegen, die am Wochenende gern mal ausgehen wollen, macht es ihm nichts aus, am Freitag- oder Samstagabend seine Runden zu drehen. Er kennt in Schorndorf ebenfalls jeden Winkel. Und langweilig wird es ihm nicht. Ohne feste Linien nimmt man seine Umgebung ganz anders wahr, sagt er. Und man redet viel mehr mit den Fahrgästen.

Dieselbe EU-Richtlinie, die Betz nun in seinen letzten Berufsjahren einen unverhofften Neustart beschert hat, verhindert allerdings auch, dass die vielversprechenden Ansätze des Experiments weiter verfolgt werden können. Sie habe Anfragen von vielen Städten bekommen, sagt Diana Gallego, die Projektkoordinatorin in der Schorndorfer Stadtverwaltung, sogar aus Neuseeland. Doch nur über eine Experimentierklausel ließ sich die europaweite Ausschreibungspflicht umgehen: Es sind grundsätzlich Linien, die ausgeschrieben werden müssen.

Rufbussystem in der Schweiz ist seit Jahren erfolgreich

Dabei besteht im dünner besiedelten ländlichen Raum das größte Problem des öffentlichen Verkehrs genau darin, dass der Bus, der viel zu selten verkehrt, oft genug leer von Dorf zu Dorf tingelt. Häufig gibt es die Buslinien nur noch, um Schüler zur Schule zu bringen. Nach einem komplexen, historisch gewachsenen System von Zuschüssen von Bund, Land und Kommunen drehen die Busse dann außerhalb des Schülerverkehrs gerade mal noch eine weitere Runde am Tag.

In Reallaboren suchen wissenschaftliche Einrichtungen und Akteure des zivilen Lebens nach Wegen zu mehr Nachhaltigkeit. 14 Reallabore gibt oder gab es in Baden-Württemberg, dem ersten Bundesland, das die Idee von Uwe Scheidewind, dem Direktor des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, umgesetzt hat. Nachahmenswert: das Reallabor "Go Karlsruhe", in dem Fußgänger Verkehrssituationen in der ganzen Stadt bewerten können. (dh)

Aber es gibt Senioren, die nicht mehr Auto fahren können. Und den Dorfladen um die Ecke gibt es auch oft nicht mehr. Damit sie überhaupt zum Einkaufen kommen, haben sich vielerorts <link http: https: www.buergerbus-bw.de _blank external-link>Bürgerbus-Initiativen gebildet, mittlerweile 84 in Baden-Württemberg: öffentlich gefördert, mit ehrenamtlichen Fahrern, oft selbst Rentner. Die Zivilgesellschaft übernimmt, wo der öffentliche Verkehr versagt.

Es gibt zudem immer mehr Berufstätige, die in Orten, die gut an den öffentlichen Verkehr angebunden sind, keine bezahlbare Wohnung finden. Ihnen bleibt nur, noch weiter aufs Land hinaus zu ziehen. Von dort aus kommen sie mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zur Arbeit. Zu sechzig Prozent sind es solche Pendler, die dann in Stuttgart die Straßen verstopfen. Sie belasten die Stadt mit Stickoxiden und Feinstaub – und sie haben oft keine Wahl.

In der Schweiz gibt es für solche Randbereiche bereits seit 15 Jahren ein Rufbussystem. Es nennt sich Publicar, kostet einen Aufpreis von 5 Euro und muss rechtzeitig gebucht werden. Dafür holt einen der Kleinbus direkt vor der Haustür ab und bringt einen zuverlässig zur Abfahrt des Zuges zum Bahnhof. Es ist schon vorgekommen, dass der Service so gut angenommen wurde, dass wieder auf Linienbetrieb umgestellt werden musste. Ganz so komfortabel muss ein solches Rufbus-System nicht ausgelegt sein. Aber das Problem, dass die Randgebiete vom öffentlichen Verkehr abgehängt sind, lässt sich bewältigen.


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2 Kommentare verfügbar

  • Gerald Fix
    am 14.12.2018
    Antworten
    Ein Rufbussystem gab es in den 70ern in Friedrichshafen - mit mäßigem Erfolg. (Was ist außen grün und innen leer, hieß ein Witz.)
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