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Sechs Minuten lautes Schweigen

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Emma González bekommt am Sonntag den 16. Stuttgarter Friedenspreis verliehen. Aber weiß sie das eigentlich? Noch nie war es so schwierig, mit einer Preisträgerin Kontakt aufzunehmen. Sogar Edward Snowden war einfacher zu erreichen.

Buzzcut, sanftes Lächeln, klare Worte: Emma González ist das Gesicht des Widerstands gegen die US-amerikanische Waffenlobby. Kampf ist ihre Art zu trauern um die 17 Todesopfer beim Amoklauf an ihrer Schule Anfang des Jahres. Mit ihrer beeindruckenden Rede und diesem quälenden Schweigen von sechs Minuten und 20 Sekunden, das so lange dauerte wie der Amoklauf an der Highschool in Parkland, berührte sie die Menschen.

Damit und mit ihrem unerschrockenen Auftreten hat die 18-jährige Schülerin auch die Herzen der Schwaben erobert: Emma González ist die Preisträgerin des diesjährigen Stuttgarter Friedenspreises. Der wird am kommenden Sonntag im Theaterhaus Stuttgart verliehen. Doch es ist nicht sicher, ob die junge Frau überhaupt weiß von diesem kleinen Stuttgarter Glück. Denn sie und ihre MitstreiterInnen werden von einer Agentur nahezu unüberwindlich abgeschirmt. 

Nahezu. Denn vor wenigen Tagen hat Emma González in Südafrika, gemeinsam mit weiteren InitiatorInnen der Kampagne "March for Our Lives", den Internationalen Kinder-Friedenspreis entgegengenommen, aus der Hand von Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu. Offensichtlich war diese Nachricht zu den Friedensaktivisten aus Parkland durchgedrungen. Geht also. 

Snowden war im Livestream zugeschaltet

Nun ist Stuttgart nicht Kapstadt. Und Peter Grohmann ist nicht Desmond Tutu. Schon klar. Doch noch nie war es so schwierig für die Stuttgarter AnStifter, mit einer Preisträgerin Kontakt aufzunehmen. Und sie hatten schon schwierige KandidatInnen: die im Irak entführte Journalistin Giuliana Sgrena, den Whistleblower Edward Snowden, die italienische Bürgermeisterin der Inseln Lampedusa und Linosa, Giusi Nicolini. Nicht alle haben es geschafft, nach Stuttgart zu kommen. Nicolini kam nicht von ihrer Insel runter, weil das Wetter zu schlecht war. Aber Edward Snowden war immerhin via Skype zugeschaltet und wurde von der damaligen taz-Chefredakteurin Ines Pohl live interviewt.

Da müsste die 16. Preisträgerin doch wenigstens mit einer Grußadresse zu kriegen sein. Also wurde jeder Exil-Schwabe und AnStifter in den USA mobilisiert. Da liefen die Drähte zum ZDF-Studio in Washington heiß. Die Aktivisten von Democracy Now sollten helfen, das Büro von Bernie Sanders auch. So richtig weitergekommen sind sie alle nicht. Die Agentur Jonesworks, die in Mode, Beauty und Philanthropie macht und alle Anfragen filtert, leistet offensichtlich ganze Arbeit. Nur einer kam durch.

Der Anruf endete in einem kuriosen Missverständnis, so Peter Grohmann, Mitbegründer des Stuttgarter Bürgerprojekts Die AnStifter. Nachdem geklärt war, wo Deutschland liegt und wo Stuttgart, wollte man noch mit einer Besonderheit locken: In Baden-Württemberg sei auch der Sitz der Waffenschmiede Heckler & Koch, der Kampf gegen Waffen also am richtigen Ort. "Emma González spricht nicht bei Heckler & Koch", war das letzte Wort aus den USA, dann wurde der Hörer aufgeknallt. Manchmal kommt ein Missverständnis nicht ungelegen. Vor allem, wenn es Arbeit erspart.

Die Schülerin mit dem markanten Haarschnitt und ihre MitstreiterInnen müssen geschützt werden. Die National Rifle Association (NRA) ist mächtig und reagiert empfindlich, wenn Protest weh tut. Der March for Our Lives tut weh. Mehrere Millionen Menschen haben Emma González und ihre MitstreiterInnen seit Februar auf die Beine gebracht. Ihr Twitteraccount #NeverAgain hat knapp 1,7 Millionen Follower. Ärzte melden sich inzwischen zu Wort und berichten über die Schussopfer, die sie täglich zusammenflicken und die ihnen unter den Fingern wegsterben. Ganz Amerika hört den SchülerInnen zu, wenn sie für eine Verschärfung der Waffengesetze auf die Straße gehen oder auf Podien tapfer gegen die Lobbyisten der NRA antreten. Die schlägt nun zurück. 

Die Waffenlobby manipuliert Fotos

Ein manipuliertes und von NRA-Anhängern verbreitetes Foto zeigt Emma González, wie sie die US-amerikanische Verfassung zerreißt. Im Original war das eine Zielscheibe, aber wen stört das schon im Zeitalter von Fake News? Emma González erhält Hassmails, Morddrohungen. Verschwörungstheorien geistern durchs Netz, sie und ihre MitstreiterInnen seien angeheuerte "Krisenschauspieler", die ihre Opferrolle nur simulierten. Zerstörer der demokratischen Werte Amerikas seien da am Werk und überhaupt sei alles von Investor George Soros finanziert. 

Tatsächlich ist viel Geld im Spiel: Es kommt von Prominenten wie Steven Spielberg, George Clooney und Oprah Winfrey, es sind inzwischen zwölf Millionen Dollar für den March for Our Lives zusammengekommen. Wenig, wenn man bedenkt, dass die NRA Trumps Präsidentschaftswahlkampf mal eben mit 30 Millionen Dollar unterstützt hat.

Nun hat sich Ines Pohl der Sache angenommen. Die Chefredakteurin der Deutschen Welle arbeitete ein Jahr als Korrespondentin in den USA. Sie will ihre guten Drähte glühen lassen. "Das ist doch ein toller Preis", sagt die gebürtige Mutlangerin und langjährige taz-Chefredakteurin. Vielleicht klappt es bis Sonntag ja doch noch mit einer Grußadresse aus Parkland.


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