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Wächter der Menschenrechte

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Am Wochenende feiert der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg sein 30-jähriges Bestehen. Es könnte keinen besseren Zeitpunkt geben, um die Fahne der Menschenrechte hochzuhalten. Ein Gespräch mit dem Leiter der Geschäftsstelle Seán McGinley.

Seán McGinley, 65 000 Menschen gegen Rechts in Chemnitz. Großartig, oder?

Ja, das ist natürlich ein ermutigendes Zeichen. Mit der immer extremer werdenden Sprache und immer restriktiveren Forderungen auch aus der CSU, der Kriminalisierung der Seenotrettung, dem zunehmenden Sterben im Mittelmeer und den Nazi-Mobilisierungen in Chemnitz ist für viele der Punkt erreicht, dass sie das Gefühl haben, nicht mehr tatenlos zusehen zu können. Es ist zwar traurig, dass es so extreme Entwicklungen gebraucht hat, um den Protest herzubringen, aber immerhin zeigt es, dass die Gesellschaft nicht völlig abgestumpft und nach rechts gerückt ist. Und dass die Leute, die mit Flüchtlingen solidarisch sind, nicht resigniert haben.

Haben Sie erwartet, dass nach dem Mord so viele Neonazis auf die Straße gehen?

Ja, schon. In vergleichbaren Fällen, wie in Kandel, gab es eine ähnliche Mobilisierung.

Aber nicht in diesem Ausmaß. Der sächsische Flüchtlingsrat hat deswegen sein Sommerfest abgesagt. War das richtig?

Schwierige Frage. Wenn ich in der Situation wäre, hätte ich möglicherweise auch abgesagt. Klar kannst du sagen, wir müssen das trotzdem machen, um ein Zeichen zu setzen. Aber ist es noch die richtige Entscheidung, wenn Leute dann auf dem Heimweg zusammengeschlagen werden oder jemand zu Tode kommt? So wie es gerade in Chemnitz abläuft, kann man das nicht ausschließen. Man kann dem Flüchtlingsrat Sachsen keinen Vorwurf machen. Ein Vorwurf muss an den Staat gehen und an die Polizei, die die Sicherheit der Leute vor rassistischen Übergriffen nicht garantieren kann.

Macht Ihnen das Angst?

Auf jeden Fall. Ich bin kein Deutscher, ich komme aus Irland, aber ich bin so privilegiert, dass man es mir nicht ansieht oder anhört. Ich habe Freunde und Freundinnen, die ihre körperliche Unversehrtheit riskieren würden, wenn sie derzeit in Chemnitz über die Straße gehen würden. Das ist unerträglich.

Denken Sie manchmal, wenn in den Nachrichten über eine schlimme Straftat berichtet wird, bitte lass es keinen Flüchtling gewesen sein?

Ich kann mir gut vorstellen, dass es Leute gibt, die solche Gedanken haben, ja. Das Problem ist nicht, dass sie diese Befürchtung haben, sondern dass sie begründet ist. Weil sie genau wissen, dass es einen Kollateralschaden anrichten wird. Die Selbstverständlichkeit, mit der man mittlerweile in Kollektiven denkt, wenn es um Geflüchtete oder Ausländer geht, das stört mich. Ein einzelner Mensch ist für seine eigenen Taten verantwortlich und muss dafür zur Rechenschaft gezogen werden.

Wie geht man als jemand, der schon vielen Geflüchteten geholfen hat, mit einem Mord durch einen Asylsuchenden um?

Die Frage ist: Wäre es dann falsch gewesen, demjenigen geholfen zu haben? Hilfe wird doch nicht zu einem Fehler, wenn die Person etwas Schlimmes tut. Wenn einer ins Krankenhaus kommt, wird er von einem Arzt behandelt, weil das eben verdammt nochmal sein Job ist. Ob das ein Nazi ist oder ein IS-Typ oder sonstwer. Wenn ein Mensch ein Verbrechen begeht, muss es selbstverständlich sein, diese Person nach den gesetzlichen Maßgaben zu bestrafen. Ich lehne es aber ab, jemanden anders zu behandeln und anders zu bestrafen, weil er ein Geflüchteter ist. Genau das wird gefordert: Derjenige soll dann nicht nur weggesperrt, sondern auch abgeschoben werden, und am besten gibt es Konsequenzen für alle Flüchtlinge. Das ist Sippenhaft.

Diese Denkweise ist ein Problem.

Nicht nur die ist ein Problem. Es hat sich mittlerweile so eine Haltung durchgesetzt, dass Menschenrechte nicht mehr universell sind – sondern dass man sie sich als Flüchtling verdienen muss. Und wenn jemand eine Straftat begeht, hat er seine Menschenrechte verwirkt und es ist zumutbar, dass er abgeschoben wird, auch dorthin, wo massive Menschenrechtsverletzungen drohen. Das sieht man bei den Abschiebungen nach Afghanistan: Bei diesen Menschen ist es dann egal, ob sie umkommen oder gefoltert werden, sie haben es ja verdient, weil es böse Menschen sind. Es ist extrem beängstigend, das sich diese Denkweise so breit durchgesetzt hat.

In einem Bericht zum 20-jährigen Jubiläum 2008 steht, dass der Flüchtlingsrat lernen muss, auch mit den "dunklen Schatten der Integration" umzugehen. Wie sehen Sie das heute?

Vor allem stört mich, dass von außen der Eindruck erweckt wird, Leute wie wir hätten eine völlig idealisierte und naive Vorstellung von Geflüchteten. Auch von Menschen, die in der Flüchtlingshilfe arbeiten, wird das oft so dargestellt – och Gott, Geflüchtete sind alle so lieb und nett und so fleißig. Ne. Da sind auch Arschlöcher drunter, das ist doch klar.

Wie in jedem Land der Welt.

Es wäre komisch, wenn es anders wäre. Das Problem ist die Darstellung von außen: Wenn jemand mit Fluchthintergrund kritikwürdige Vorstellungen hat, etwa von Frauenrechten oder von Gesetzen, dann könnte man denjenigen auch gleich im Meer ersaufen lassen. Oder die Leute sagen, schickt die zurück, wo sie herkommen, ist doch egal, ob sie da zerbombt oder gefoltert werden. Wenn einer ein reaktionäres Frauenbild hat, dann hat er eben den Tod verdient.

Sie haben eine breite Vernetzung mit Ehrenamtlichen, kirchlichen Strukturen und Initiativen vor Ort, mit Pro Asyl deutschlandweit. Wächst dieses Netzwerk oder schrumpft es?

Ich finde es immer wieder beeindruckend, wie viele Leute sich trotz der negativen Stimmung und trotz der fortschreitenden Zeit noch immer engagieren. Das kann man nicht hoch genug anrechnen. Und die Mitgliedschaften bei uns im Flüchtlingsrat wachsen; etwa ein Fünftel der Mitglieder sind seit Anfang des Jahres dazugekommen. Das ist toll, denn wir sind finanziell nicht so gesichert, wir haben dieses Jahr Kapazitäten abbauen müssen, nächstes Jahr wahrscheinlich auch. Wir haben ursprünglich 250 000 Euro vom Land bekommen. Dieses Jahr sind es nur noch 200 000 Euro gewesen. Im Herbst setzen wir uns mit der zuständigen Abteilung aus dem Innenministerium zusammen und überlegen, wie es weitergeht.

Eva Abele, Gründungsmitglied des Flüchtlingsrats, sagte mal in einem Interview: "Unerträglich war Mitte der 1980er Jahre, wie in der öffentlichen Diskussion die Flüchtlinge zu einer Bedrohung für unsere Gesellschaft hochstilisiert wurden. Politiker nannten den Zustrom der Flüchtlinge besorgniserregend und eine Gefahr für die Bundesrepublik." Heute ist es wieder so. Das klingt schon nach einem aussichtslosen Kampf.

Unbequeme Helfer

Sie sind sperrig, sie widersetzen sich, wenn geflüchteten Unrecht geschieht, und setzen sich ein für eine gerechtere Flüchtlingspolitik. Und das seit 30 Jahren. Mit den sogenannten Boat-People aus Vietnam begann die Arbeit der Flüchtlingshelfer in den 1970er Jahren in Deutschland. Kriegsopfer aus Eritrea folgten, Menschen aus Sri Lanka und dem Libanon. In Deutschland waren sie meistens auf sich allein gestellt. Um diese Frauen, Männer und Kinder zu unterstützen, den Alltag in einem neuen und fremden Land zu bewältigen, fanden sich örtliche Initiativen zusammen; zuerst in Großstädten, dann in kleineren und ganz kleinen. 1986 gründete sich die Arbeitsgemeinschaft Pro Asyl auf Bundesebene, 1988 schlossen sich in den einzelnen Bundesländern Initiativen in der Flüchtlingsarbeit zusammen. In Stuttgart wurde am 10. September 1988 der „Arbeitskreis Asyl Baden-Württemberg“ gegründet, 2005 umbenannt in „Flüchtlingsrat Baden-Württemberg“. Seitdem unterstützt er Ehrenamtliche und Geflüchtete mit Beratungen, bietet Fortbildungen an, macht Informationsveranstaltungen und Lobbyarbeit.

Der Flüchtlingsrat feiert sein 30-jähriges Bestehen am Freitag, 7. September von 17 bis 21.30 Uhr im Saal des Stuttgarter Gewerkschaftshauses, Willi-Bleicher-Straße 20. (ah)

Es gibt immer eine Gruppe, gegen die gehetzt wird. Das waren lange die "Sozialschmarotzer", jetzt sind es wieder Flüchtlinge. Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir es nicht auf die Reihe kriegen, die Bedürfnisse der Menschen nach einem vernünftigen Lebensstandard zu befriedigen. Da muss man den Leuten eben erzählen, woran es liegt: an Bevölkerungsgruppen, die einem was wegnehmen. Es liegt an unserem Gesellschaftssystem an sich, an ständiger Profitmaximierung, daran, dass wir nicht in der Lage sind, die Ressourcen und Technologien, die uns als Menschheit zur Verfügung stehen, so zu verteilen, dass allen ein menschenwürdiges Dasein ermöglicht wird. Ich kenne eine Familie, die abgeschoben wurde und jetzt in Mazedonien lebt. Die Mutter arbeitet in einer Fabrik, das sind Zulieferer für die Automobilindustrie. Diese Frau arbeitet Vollzeit und verdient etwa 200 Euro im Monat – als Mutter von zwei Kindern. Die Lebensmittel sind fast so teuer wie hier. Was diese Frau herstellt, wird hier verkauft, deutsche Konzerne profitieren von ihrer Arbeit. Menschen wie diese Mutter werden gnadenlos ausgeplündert und die Gewinne fließen hier ab. Man beutet die ganze Welt aus und schafft den Reichtum in den globalen Norden. Der Begriff Wirtschaftsflüchtling beispielsweise ist eine Frechheit.

Sie sind seit zwei Jahren Leiter der Geschäftsstelle des Flüchtlingsrats in Baden-Württemberg. Was lernt man denn von denen, die diesen Rat gegründet haben?

Ich glaube, die wichtigste Sache ist, Dinge besser einzuordnen. Dass man auf dem Teppich bleibt. Es gibt immer Höhen und Tiefen, und es kommen immer wieder bessere Zeiten.

Buntes Baden-Württemberg

Rechte Stimmen finden wieder Anklang. Kontext stellt Menschen vor, die sich dagegen wehren. Und Initiativen, die bunte Vielfalt leben.

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1 Kommentar verfügbar

  • Ingrid Bohsung
    am 05.09.2018
    Antworten
    Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg , einst von Pfarrer Werner Baumgarten gegründet,ist unverzichtbar für das friedliche Miteinander von deutschen Bundesbürgern und Flüchtlingen. Eine weitere Kürzung der Gelder vom Land Baden-Württemberg wäre unklug, weil viele rechtliche Fragen auf gutem Wege für…
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