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Klasse Besuch bei Aras

Klasse Besuch bei Aras
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Das dritte Kontext-Medienprojekt geht zu Ende. Unseren letzten Termin mit der Sindelfinger Schulklasse hatten wir im Landtag zum Interview mit der Präsidentin Muhterem Aras. Die war ganz angetan von unserer Klasse.

Es ist Freitag, der letzte Schultag für die SchülerInnen unserer Projektklasse. Wir sitzen auf einem Stückchen Rasen vor dem Landtagsgebäude im Schatten eines Baumes. Am Vormittag gab es Zeugnisse, ergo strahlen die einen und grummeln die anderen. Im Großen und Ganzen überwiegt aber die Vorfreude: Nur noch anderthalb Stunden bis zu den Sommerferien.

Es ist der letzte Termin für das Kontext-Medienprojekt zum Thema "Politik und Demokratie", das ein halbes Jahr lang jeden Freitagvormittag mit einer Vabo-Klasse (Vorbereitung Arbeit und Beruf ohne Deutschkenntnisse) in der Sindelfinger Gottlieb-Dailmer-Schule I stattfand. Steffen Braun und ich haben mit der Klasse viel gemacht in diesem halben Schuljahr. Kleine Reportagen, Rechercheübungen, Interviewübungen, wir haben über aktuelle politische Entwicklungen gesprochen, über Nachrichten, über das politische System in Deutschland, über Parteien, Wahlen, Medien, Möglichkeiten, die BürgerInnen haben, um sich einzubringen.

Wir haben in diesen Monaten drei Interviews mit Politikern und Politikerinnen geführt. Unser erster Gesprächspartner war der grüne Stadtrat Tobias Bacherle im Rathaus Sindelfingen. Wir haben Hannes Rockenbauch und Luigi Pantisano von SÖS/Linke im Stuttgarter Rathaus besucht, und am vergangenen Freitag waren wir zum Gespräch bei Muhterem Aras, der Präsidentin im baden-württembergischen Landtag.

"Die sind ganz beeindruckt", flüstert uns die Klassenlehrerin Ann-Katrin Reinl zu, als die Pressesprecherin des Landtags Gabriele Renz uns durch das Gebäude führt. Das erste demokratische Parlament in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, erzählt sie, deshalb steht es unter Denkmalschutz und konnte vor kurzem nur innen renoviert werden. Da die tolle Panorama-Sicht aus der vollverglasten Front zum Schlossgarten hin, dort das goldene Wappen des Landes im Plenarsaal, in dem die Fraktionen diskutieren. Unsere SchülerInnen schweben fast ehrfürchtig über den teppichgedämpften Boden zum kleinen Konferenzraum.

Muhterem Aras empfängt uns im blauen Sommerkleid zum Gespräch. Dreimal bietet sie an, dass sich jeder ein Getränk nehmen darf, bevor der erste sich traut, nach einer der kleinen Orangensaftfläschchen zu greifen und sie möglichst geräuschlos neben sich auf den Tisch stellt. 

"So, hallo", sagt Aras gut gelaunt, sie freue sich über den Besuch und das wichtige aber schwierige Thema "Politik und Demokratie", dass sich die SchülerInnen für unser Projekt ausgesucht haben. Sie plaudert ein bisschen, erzählt, lacht, und langsam schmilzt das Eis, weil da eine Frau sitzt, die offenbar weiß, wie man junge Leute knackt. Abdulkadr stellt die erste Frage: "Wie sieht denn Ihr Arbeitstag aus?" Dann kommt Shreen dran: "Warum gibt es in Deutschland so viele Parteien und in der Türkei eigentlich fast nur eine?" Abdul-Rahman fragt: "Wie sind Sie denn Politikerin geworden?" Muhterem Aras erzählt, wie sie als Mädchen mit den Eltern nach Deutschland kam, zu einer Zeit, als der Rechtsradikalismus eine Hochphase hatte, wie in ihrer Jugend AsylbewerberInnenheime brannten, und wie sie irgendwann beschlossen hat, sich einzusetzen gegen Rechts und in die Politik ging. Ein langer Weg, aber machbar, auch mit Migrationshintergrund – das ist Aras' Botschaft an unsere Klasse.

Dann will Dembo wissen: "Wie wirkt sich denn der Handelskrieg der USA auf ein Land wie Baden-Württemberg aus mit Daimler und Porsche als großen Arbeitgebern?" Muhterem Aras ist überrascht und angetan, das merkt man ihr an. "Das waren ja tolle Fragen", sagt sie zum Schluss, und unsere SchülerInnen werden alle ein bisschen größer auf ihren Stühlen. Und sie freuen sich, weil sich die Landtagspräsidentin auch für sie interessiert: Ob es ihnen gut geht in Deutschland, was sie einmal beruflich machen möchten und – das geht an Matteo aus Italien – wie es einem jungen Mann aus dem Urlaubsland Nummer eins der Deutschen, denn hier gefällt. "Es ist sehr schön in Deutschland", sagt er schüchtern und erzählt, dass er mal Polizist werden möchte. Mike möchte, wenn er es irgendwann aufs Gymnasium schafft, Ingenieur werden. Shreen will in einer Apotheke arbeiten. "In einer Apotheke?", fragt Aras, "das ist ja lustig, das wollte ich als junge Frau auch."

Unsere diesjährige Projekt-Klasse war eine sehr politische. Oft haben wir über Themen gesprochen, die die Klasse aktuell oder latent beschäftigt hat. Über Flüchtlingspolitik natürlich, denn die meisten jungen Erwachsenen unter ihnen sind aus ihren Heimatländern geflohen. Aber auch über Gerechtigkeit. Sarah beispielsweise hat einmal das Thema arm und reich aufgebracht: "Reiche Menschen haben immer viel mehr Möglichkeiten als Arme. Das ist ungerecht." Fatima hat berichtet, wie teuer es sei, eine Wohnung zu mieten, und wie unendlich schwierig für eine Familie aus Syrien mit Fluchthintergrund überhaupt, die Möglichkeit zu bekommen, sich eine anzuschauen. Abdul-Rahmans Thema war über das gesamte halbe Jahr hinweg die Frage, warum Menschen in Kriegen anderen Menschen so großes Leid zufügen, und ob es nicht etwas gibt, was man dagegen tun kann. Und: Dass jeder Mensch gleich wertvoll ist, egal wo er herkommt, egal, welche Religion er hat. Weise Worte.

Ein Thema, das alle interessiert hat, war die AfD und der Rechtsruck in Deutschland und Europa. Alle unsere SchülerInnen sind oder waren schon einmal von Rassismus betroffen. Sarah wurde beschimpft, sie solle nach Syrien abhauen, als sie auf ihre S-Bahn gewartet hatte. Dembo stand an einer Supermarkt-Kasse und wurde beleidigt. Auch wir als Projektleiter haben solche Erfahrungen gemacht: Als wir vor dem Rathaus in Stuttgart auf unseren Interview-Termin gewartet haben, kam ein älterer Mann vorbei und pöbelte lauthals gegen unsere Schüler: "Die sollen was schaffen und nicht hier faul rumsitzen und sich vom Steuerzahler durchfüttern lassen."

Muhterem Aras nickt, als Abdul-Rahman erzählt, wie er am Bahnhof in Stuttgart so sehr von einem Betrunkenen beschimpft wurde, dass ihn die Polizei in Sicherheit brachte. Das sei schlimm, sagt sie. 

Nach einer halben Stunde Gespräch verabschieden sich unsere SchülerInnen von der Landtagspräsidentin. Ob Aras noch kurz für das ein oder andere Selfie Zeit hat? Vier Fotos später stehen die Jugendlichen im leeren Plenarsaal. Abdul-Rahman lässt sich staatstragend am Rednerpult fotografieren, Singh knipst sich mit Wappen im Hintergrund – großer Spaß. Die Angst vor diesem Regierungsgebäude ist verflogen.

Im September, wenn alle aus den Ferien zurück sind, wird unser dritter Projekt-Film fertig sein. <link https: www.kontextwochenzeitung.de schaubuehne licht-aus-und-tadaaa-4520.html _blank external-link>Den zweiten gibt es hier zu sehen.


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