KONTEXT:Wochenzeitung
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5000 Euro für ein zerstörtes Leben

5000 Euro für ein zerstörtes Leben
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Der Schock war groß, als vor fünf Jahren bekannt wurde, dass in den Heimen der Korntaler Brüdergemeinde Kinder missbraucht und gedemütigt wurden (Kontext berichtete). Nun liegt der Aufklärungsbericht vor. Mit erschütternden Ergebnissen.

Wer im Korntaler Hotel Landschloss logiert und die Liste der TV-Kanäle im Zimmer zur Hand nimmt, dem fällt sofort auf, dass Bibel-TV ganz oben steht. Das ist kein Zufall. Denn die Gäste befinden sich hier im Zentrum des württembergischen Pietismus, im "Heiligen Korntal". Rund um den Saalplatz gruppieren sich die Einrichtungen der Evangelischen Brüdergemeinde. Diese betreibt auch das Hotel. An diesem Ort soll kein Zweifel aufkommen, dass es hier fromm zugeht.

Umso größer war der Schock und das öffentliche Entsetzen, als vor fünf Jahren bekannt wurde, dass in den Kinderheimen der Evangelischen Brüdergemeinde in Korntal in der Nähe von Ludwigsburg und in Wilhelmsdorf im Landkreis Ravensburg die Schützlinge geprügelt, gequält, gedemütigt und missbraucht wurden, und das über viele Jahrzehnte hinweg. Das alles ist jetzt nachzulesen in dem vor wenigen Tagen in Stuttgart vorgestellten Aufklärungsbericht über Missbrauchsfälle in den Einrichtungen in den 1950er bis in die 1980er Jahre. Verantwortlich für diesen sind die beiden Aufklärer Brigitte Baums-Stammberger, ehemalige Frankfurter Richterin, und Benno Hafeneger, emeritierter Marburger Erziehungswissenschaftler.

Anberaumt war eine Pressekonferenz, die ein wenig den Charakter eines Tribunals hatte. Die Anspannung der Verantwortlichen war unverkennbar, denn neben den Medienvertretern waren auch ehemalige Heimkinder gekommen. Und deren Reaktionen fielen unterschiedlich aus. Eines der Opfer beklagte, dass Betroffene aus dem Aufklärungsprozess rausgedrängt worden seien ("Wir wurden mies behandelt"), ein anderer glaubt, dass Missbrauchsfälle vertuscht worden seien, von wieder anderen kam Dank und Genugtuung.

Einig waren sich jedoch alle, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung, dass der Prozess der Aufarbeitung mit dem Bericht nicht zum Abschluss gekommen ist. Sie forderten, dass die Aufarbeitung über 1990 hinausgehen müsse, weil es danach auch noch zu Übergriffen gekommen sei. Die bisher behandelten Fälle sind strafrechtlich alle verjährt, die Täter entweder tot, in Rente oder entlassen. Auch eine Ansprechstelle wurde angeregt sowie der dringende Wunsch vorgebracht, einen Ort der Erinnerung einzurichten.

Aufarbeitung liefert erschütternde Ergebnisse

Ebenso fand der vorgelegte Bericht mit dem Titel "Uns wurde die Würde genommen" über die erschreckenden Vorgänge rundum Anerkennung. Dieser entstand ab Herbst 2016, nachdem ein erster Anlauf gescheitert war. Die Ergebnisse sind erschütternd, wenn auch die Korntaler Heime nach Ansicht von Hafeneger nicht einmal als die schlimmsten in Deutschland bezeichnet werden können. Auch ein organisiertes System der Gewalt habe sich nicht bestätigt.

Aufgrund der kinderfeindlichen Pädagogik waren Heime dem Bericht zufolge "Risikoräume für Kinder". Die drei Heime der Brüdergemeinde in Korntal und Wilhelmsdorf werden als Fallbeispiel bezeichnet für eine Heimwirklichkeit beziehungsweise die negative Seite der Heimerziehung, verbunden mit Begriffen wie Leid und Unrecht, die von einer repressiven Erziehung geprägt und mit körperlicher, seelischer und sexualisierter Gewalt verbunden war.

Weiter heißt es: "Die Erziehungskultur und deren Praktiken waren bis in die 1970er Jahre systematisch mit körperlicher und psychischer Gewalt verbunden sowie über lange Zeit geleitet von Zielen wie Anpassung und Gehorsam, Ordnung und Disziplinierung". Die Erziehung war autoritär, verbunden mit Zucht, Zwang und Drill.

Hafeneger zeichnete ein düsteres Bild dieser Zeit nach. Man müsse sich vergegenwärtigen, wie niedrig Pflege- und Kostsätze waren und wie wenig Interesse bestand an diesen Kindern, die als verwahrlost, verhaltensauffällig und gefährdet galten und durch eine "harte und strafende Erziehung" zu ordentlichen Mitgliedern der Gesellschaft gemacht werden sollten. Dabei waren sie in der "abgeschotteten räumlichen Eigenwelt" der Heime den Praktiken rechtlos ausgesetzt.

Auch von einer funktionierenden und qualifizierten Heimaufsicht könne keine Rede sein, so Hafeneger. Zwischen den Besuchen lagen manchmal fünf bis zehn Jahre. "Das öffentliche Kontrollwesen war minimal", konstatierte der Aufklärer. Und in den 50er und 60er Jahren habe "jeder, der sich beworben hat, in der Heimerziehung arbeiten können". Da fanden sich dann ehemalige Offiziere und Handwerker wieder. So sei ein langjähriger Leiter in Korntal Landwirtschaftsmeister gewesen. Die Qualifizierung habe sich erst in den 70er Jahren entwickelt. "Und erst in den 80er Jahren zieht Fachlichkeit und Professionalität in die Heimerziehung ein", erläuterte Hafeneger.

Autoritäre Strukturen haben Gewalt und Missbrauch begünstigt

Und dann kam da noch das Gottesbild in der 1819 gegründeten Brüdergemeinde dazu: Es war die Vorstellung eines strengen und strafenden Gottes. Das zieht sich bis in die heutige Zeit durch. So stand in den 1990er Jahren im württembergischen Kirchenparlament nicht nur einmal die Drohung der Pietisten im Raum, im Streit um die Akzeptanz von Homosexualität ihren Austritt aus der württembergischen evangelischen Landeskirche zu erklären, weil sie kein sündiges Treiben akzeptieren wollten. Begründet wurde dies mit dem Verweis auf strenge biblische Moralvorgaben.

Die autoritär geprägten Rahmenbedingungen haben nach Ansicht von Hafeneger Gewalt und Missbrauch begünstigt. Und das ganze Ausmaß dessen, was sich da abgespielt hat, macht der Bericht deutlich anhand von 105 Interviews mit Betroffenen, die Baums-Stammberger führte sowie aus einer Analyse von Akten, die von der Brüdergemeinde zur Verfügung gestellt wurden. Danach sollen bis zu 300 Kinder Opfer von psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt, bis hin zur Vergewaltigung, geworden sein. Insgesamt sind 81 Täter benannt worden, von denen acht als "Intensivtäter" bezeichnet werden. Zwei Drittel der Befragten gaben an, regelmäßig körperliche Gewalt erfahren zu haben, 61 frühere Heimkinder berichteten von sexualisierter Gewalt. Es ist auch von Gewalt unter den Kindern die Rede, die teilweise von Erziehern angestachelt worden seien.

Die Täter waren Erzieher, Ärzte, Hausmeister sowie Pflegeeltern aus der Brüdergemeinde, bei denen Heimkinder ihre Wochenenden verbrachten. Da gab es eine sadistische Tante, die in der harmlos klingenden "Rotkehlchengruppe" die Kinder brutal züchtigte und sie zwang, Erbrochenes wieder zu essen. Und immer wieder geht es um den Hausmeister, der Jungs sogar aus dem Unterricht abholte und sie in den Fahrradkeller mitnahm, weil er dort angeblich ihre Fahrräder reparieren wollte. Dabei kam es zu sexuellen Übergriffen. Durch Prügel sollte den Kindern der Teufel ausgetrieben werden, sie wurden mit einem Schlauch geschlagen, sie mussten auf dem Feld arbeiten und wurden oft vor der ganzen Klasse gedemütigt. Hafeneger weist darauf hin, dass man gewusst habe von Taten und Tätern. Zwar habe die Brüdergemeinde einer Reihe von beschuldigten Mitarbeitern gekündigt und angezeigt, in anderen Fällen aber auch versucht, die Sache intern zu klären oder zu "vertuschen", so Hafeneger.

Gemeindevorsteher Andersen bittet Heimkinder um Entschuldigung

Klaus Andersen, der erst seit 2011 Gemeindevorsteher ist, zeigte sich erleichtert, dass der Aufklärungsbericht vorliegt, nachdem ein erster Versuch gescheitert war, weil sich die mit der Aufarbeitung beauftragte Erziehungswissenschaftlerin Mechthild Wolff und die Betroffenen überworfen hatten. "Der Aufklärungsbericht gibt uns nun die erschreckende Gewissheit, was in unseren Heimen geschehen ist", betonte Andersen. "Wir müssen anerkennen, dass Kindern in unseren Einrichtungen schweres Unrecht angetan und Leid zugefügt worden ist."

Dieses Verhalten sei falsch gewesen und entspreche nicht dem christlichen Selbstverständnis. "Wir bitten ehrlich und herzlich um Entschuldigung", sagte der Gemeindevorsteher. Er betont, dass auch für ihn die Aufarbeitung nicht zu Ende sei, weil er merkt, dass es im Kreis der ehemaligen Heimkinder noch Unzufriedenheit mit der Aufarbeitung gibt. Er hebt deshalb hervor, dass er überzeugt davon sei, dass es mit Betroffenen nun noch einen individuellen Verständigungs- und Versöhnungsprozess geben müsse.

Er weiß auch, dass die Anerkennungsleistungen letztlich nicht über die Leiden oder ein zerstörtes Leben hinweghelfen können. Bis Juni 2020 können sich Betroffene melden: Die Brüdergemeinde zahlt zwischen 5000 und 20 000 Euro. Die Aufarbeitung hat bislang einen siebenstelligen Betrag gekostet. Andersen verspricht zudem präventive Maßnahmen. So etwas soll nie mehr vorkommen.

Ex-Heimkind Zander: "Der wichtigste Tag in meinem Leben"

Baums-Stammberger berichtet von vielen positiven Rückmeldungen nach den Gesprächen mit Betroffenen, wenn es auch in dem Wiederaufarbeitungsprozess zu Retraumatisierungen gekommen sei. Auch Detlev Zander hat zu ihr letztlich Vertrauen gefasst. Er ist als erster an die Öffentlichkeit gegangen und hat das ganze Verfahren ins Rollen gebracht. Dass er den Höchstsatz von 20 000 Euro erhalten hat, bei der Pressekonferenz in der ersten Reihe sitzt und auch noch Rederecht erhält, bringt ihm von manchem Mitbetroffenen den Vorwurf der Egomanie ein. Zumal Zander darauf hinweist, dass der Bericht "mein Lebenswerk ist" und dessen Präsentation "der wichtigste Tag in meinem Leben".

Und als er dann noch ein Gruppenfoto von sich und den Verantwortlichen in die Welt schicken möchte, kann Werner Hoeckh nur den Kopf schütteln. Er sitzt in der letzten Reihe. Das Schlimmste für ihn sei, dass ihm die Heimleitung verheimlicht habe, dass seine in die USA ausgewanderte Mutter nach ihm gesucht habe. Er sei um ein Leben mit ihr betrogen worden, sagt er bitter. Von 1960 bis 1966 ist Hoeckh im Heim gewesen. Nicht verstehen kann er, dass ihm nur 5000 Euro zugesprochen worden sind, Zander dagegen der Höchstbetrag. Angelika Bandle beschwerte sich, dass vier ehemalige Heimkinder aus der Aufarbeitungskommission "rausgemobbt" worden seien. Außerdem drängt sie darauf, die Rolle der Diakonissen zu beleuchten.

Auch Wolfgang Voegele hat die Pressekonferenz aufmerksam verfolgt. Er hat sich im Auftrag der evangelischen Landeskirche Württemberg und der Diakonie um Missbrauchsopfer in deren Einrichtungen gekümmert. "Es ist so wichtig, dass Kinder gehört werden", betont er. Dem früheren Richter ist bei seiner Arbeit deutlich geworden, dass man mit den Tätern "ganz vornehm umgegangen" sei, mit dem Opfern jedoch weniger. Niemand dürfe darauf vertrauen, dass es keinen Missbrauch gibt. Deshalb gelte es, immer wachsam zu sein.


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5 Kommentare verfügbar

  • Werner Hoeckh
    am 22.06.2018
    Antworten
    Ulrich Scheuffele - Mitglied der Opferhilfe Korntal - ist tot.

    Wie gestern mitgeteilt wurde, verstarb Uli vorgestern.
    Die Beisetzung von Uli ist am
    Dienstag, 26. Juni 2018 um 13.30 in Markgröningen.

    Ulis Frau bittet darum, dies an alle weiter zu geben, die Uli kannten.
    Uli, wir danken dir, dass…
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