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Der Dokumentarfilmer als Märchenonkel

Der Dokumentarfilmer als Märchenonkel
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Auf der Berlinale wurde er vorgestellt, jetzt kommt er in die Kinos und wird über den grünen Klee gelobt: der "SPK Komplex" von Dokumentarfilmer Gerd Kroske über das Sozialistische Patientenkolletiv im Heidelberg der 70er. Unser Autor lobt nicht. Der Streifen sei nur wenig komplex, dafür viel einfältige Geschichte.

Das sei ja "wie ein revolutionärer Akt, wenn man sich dagegen viele zeitgenössische Dokumentarfilme ansieht", schwärmt ein Redakteur in der taz voller Bewunderung. Und der Dokumentarfilmer antwortet bei einer Filmvorführung in Heidelberg so richtig offensiv: "Das ist eine TV-Krankheit, immer diese Bauchbinden bei Dokumentarfilmen, man sieht doch meistens, wer da gerade spricht." Das sei bewusst eingesetzt, als "dramaturgisches und künstlerisches Mittel", denn der Zuschauer solle schon mitarbeiten und von sich aus die Protagonisten zuordnen: ob Patient, Polizist, Rechtsanwalt, Arzt etc. Bauchbinden zur jeweiligen Person erscheinen da offenbar nur als eine Art schwarzer Pädagogik, die den Zuschauer mit Informationen zwangsernähren und mit Vorurteilen besetzen will. Im "SPK Komplex", Gerd Kroskes Dokumentation über die Geschichte des Sozialistischen Patientenkollektivs (SPK) sprechen allerdings viele, von denen man eben nicht weiß, wer sie sind. Und das ist noch lange nicht die ganze Misere dieses Films.

Das Sozialistische Patientenkollektiv war eine Gruppe Patienten und Patientinnen, die sich 1970 in Heidelberg innerhalb der Uni-Poliklinik für Psychiatrie konstituierte und den herrschenden Klinikbetrieb aktiv umzugestalten trachtete: gegen unzumutbare Behandlungsmethoden, gegen die Hierarchie Arzt-Patient und insgesamt gegen die damalige Verwahrpsychiatrie, in der die Ordinarien und Ärzte herrschen konnten wie sie wollten. Ein Arzt, Dr. Wolfgang Huber, solidarisierte sich mit den Patienten, was natürlich unter den mehrheitlich konservativen Professoren erheblichen Widerspruch provozierte. Dann gab es den Klinikleiter, Prof. Walter von Baeyer, er stammte aus einer jüdischen Familie und war Co-Autor des Standardwerkes "Psychiatrie der Verfolgten", ein anfangs seinem Mitarbeiter Huber eher zugeneigter Mann, obwohl durchaus bürgerlich-konservativ; und da war auch noch ein liberaler "Reform-Rektor", der Theologe Rolf Rendtorff, der versuchte, die Patientengruppe in irgendeiner Weise zu unterstützen.

Das Motto des SPK: Kampf der Ärzteherrschaft

Aber die Verhältnisse waren damals auf Konfrontation gebürstet. Das Rektorat wurde zwischen CDU-Kultusministerium, konservativen Ordinarien und dem rebellischen SPK zerrieben, die Gruppe galt als "Feind im eigenen Haus". Das SPK antwortete mit ebensolchen Feinderklärungen und Denunziationen: etwa, dass Baeyer ein "Euthanasiearzt" gewesen und nunmehr die "Krankheit als Waffe" gegen die Klassenmedizin auszurichten sei. Motto: Kampf der Iatrokratie, der Ärzteherrschaft. Der Patient als revolutionäres Subjekt.

Diese Konfrontation inmitten einer immer hysterischer werdenden bundesrepublikanischen Situation der beginnenden 70er Jahre nahm wachsende radikale Züge an: Teile der studentischen Rebellierenden sahen schon den Faschismus vor der Tür, Teile der Ordinarien imaginierten sich neue "SA-Truppen" in ihren Seminaren. Auch das SPK radikalisierte sich – der Druck von außen ergänzte sich mit dem Druck von innen. Das SPK, anfänglich entstanden aus berechtigten Patienten-Protesten gegen die Wirklichkeit der Psychiatrie, mutiert zu einer gewaltförmigen Sekte, mit allen Ingredienzien: ein Guru, Dr. Huber, dessen Charisma viele labile Menschen fesselt; ein innerer Zirkel, der die Gruppe dominiert; theoretische Amokläufe mithilfe von Hegel über Marx und Freud zu Wilhelm Reich; Verschwörungstheorien und Suche nach Verrätern in den eigenen Reihen; ein immenser Gruppendruck, auch körperliche Gewalt innerhalb der Gruppe; Spielereien mit Waffen im Wald; sexueller Missbrauch durch den Guru, der, weil er sich selbst in den Patientenstatus definiert, jetzt auch keine Rücksicht mehr auf das Abstinenzgebot nehmen muss und sich unter seinen Patientinnen umschaut. Das Ende: Selbstmorde, Polizeieinsätze, Razzien, Verhaftungen, Dr. Huber und seine Frau werden mit Gefängnisstrafen belegt; Patienten sehen sich allein gelassen; SPK-Mitglieder wechseln über die damals existierenden "Komitees gegen (Isolations-)Folter" in die Reihen der RAF; vier von ihnen werden Teil des "Kommandos Holger Meins", das im Jahr 1975 die deutsche Botschaft in Stockholm besetzt, um politische Gefangene freizupressen - Resultat: vier Tote, darunter zwei Botschaftsmitarbeiter.

Soweit die Geschichte, die natürlich erheblich vielschichtiger ist.

Was aber macht der Dokumentarfilmer Kroske, was macht sein Film aus diesem Stoff? Er recherchiert in Archiven und holt Personen vor die Kamera, die im Umfeld des SPK-Themas etwas zu sagen haben - und dies durchaus in zum Teil beeindruckender Weise. Etwa ein ungenannter Patient, der nachdenklich seine SPK-Erfahrungen schildert; oder auch die später in der RAF untergetauchte und verurteilte Ex-SPKlerin Carmen Roll, die nach der Haft in einer italienischen Psychiatrie arbeitet. Kroske sucht und findet Audio- und Video-Material, die das SPK zum Thema haben. Das gehört zum Handwerk des Filmemachers.

Dann aber erscheinen Personen, die mit dem SPK nichts zu tun hatten. Der Stockholm-Terrorist Karl-Heinz Dellwo kommt ausführlich zu Wort. Kripobeamte aus Heidelberg, Vollzugsbedienstete aus Stammheim, Richter, Rechtsanwälte, Journalisten. Wer in diesem Film nicht vorkommt, ist der Berliner Medizinhistoriker Christian Pross, der 2016 – zusammen mit zwei wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen – nach vierjähriger Recherche eine bemerkenswerte Studie über das SPK herausgebracht hat, Titel: "Wir wollten ins Verderben rennen." Pross war anfangs selbst im SPK-Umkreis als Student aktiv.

Warum, wurde Kroske in Heidelberg gefragt, sei dieser bedeutende Zeitzeuge mit seinen Forschungsergebnissen im Film nicht zu finden? Kroske: "Der war zu eitel und wollte nicht kooperieren." Möglicherweise passte aber auch das Erkenntnisinteresse des Medizinhistorikers ganz einfach nicht zum Erkenntnisinteresse des Dokumentarfilmers. Der Buchtitel "Wir wollten ins Verderben rennen" (Zitat eines Patienten) deutet nämlich in eine völlig andere Richtung als der ursprüngliche Arbeitstitel des Filmes: "Psycho-RAF".

Während Pross akribisch die Einzelteile des Themas zusammenfügt, agiert Kroske mit routiniertem und populistischem Rundumschlag. Während Pross Stück für Stück die äußeren und inneren Verbindungslinien eines gewalttätigen Gruppenprozesses offenlegt, ist Kroske auf die Skandalisierbarkeit seines Themas aus. Der Eindruck des Wissenschaftlers Pross nach einem ersten Gespräch mit dem Dokumentarfilmer Kroske: "Der war mir zu oberflächlich, zu drängelnd und zu unsensibel im Umgang mit Zeitzeugen."

So kommt Kroske zu steilen Thesen, die er sowohl in Interviews - zum Beispiel mit dem Deutschlandfunk Kultur – als auch bei der Heidelberger Filmvorführung wiederholt. Etwa dass es in Heidelberg nach dem Verbot des SDS (Sozialistischer Studentenbund) 1970 nur zwei Möglichkeiten gegeben habe, sich politisch in der Stadt zu betätigen: entweder im maoistischen KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschlands) oder eben im SPK. Blühender Unsinn, irgendwo aufgeschnappt und gerüchteweise weitergegeben.

Ein dramaturgisches Flickwerk

Was in Kroskes Film immer deutlicher wird, je länger er dauert: er hat keine Ahnung von der politischen Situation in der Stadt damals, und, was noch schwerer wiegt, er hat eine nur sehr begrenzte Ahnung von der Situation der Heidelberger Universität und Psychiatrie dieser Jahre. So verflüchtigt sich das Patienten-Thema im Film nach und nach zugunsten einer Erzählung zum Thema Terrorismus, in der es von RAF, Stammheim, Stockholmer Attentat, Schüssen in Wiesenbach, Polizeieinsätzen, Razzien nur so wimmelt.

Der Ex-Terrorist Lutz Taufer, der 37 Jahre brauchte, um öffentlich die Reue über sein mörderisches Tun zu bekunden, tritt gehäuft wie eine Art Elder Statesman als O-Ton-Geber in diesem Film auf; und da hilft es auch nicht, dass Ex-SPKlerin Carmen Roll in langen Kameraeinstellungen die Triester Psychiatrie Franco Basaglias und Franco Rotellis erklärt – nur um das Psychiatrie-Thema im Film zu halten. Das SPK hatte mit der italienischen Anti-Psychiatrie nichts oder nur wenig zu tun. Und, das muss betont werden: das SPK war keine Keimzelle der RAF, so sehr dieser Film auch versucht, das nachzuweisen.

Fazit: Wer vor dem Anschauen dieser Doku vom Thema wenig oder nichts weiß, wird in die Irre geleitet.

Und so bleibt diese Dokumentation ein dramaturgisches Flickwerk von Ereignissen und Personen, ein vom "Komplex" zur einfältigen Geschichte herabdekliniertes Stück Film, in dem fast alles fehlt, was dieses Thema hätte spannend und interessant machen können. Etwa die Herausarbeitung und Verschränkung jener individuellen und gesellschaftlichen Dynamik, die das Entstehen von Sekten dieser Art begünstigt und – wie Tolstoi einmal bemerkte – das wahre Gesicht des Staates in seinen Verwahranstalten zeigt.

Aber das wollte Kroske offenbar nicht, er war eher auf eine kriminelle Opfergeschichte aus - noch dazu im Jubiläumsjahr 2018, fünfzig Jahre nach 1968, und hat das SPK und seine Patienten als Aufhänger und Material dazu genommen. Bei der Diskussion nach der Heidelberger Filmvorführung beharrte er auch schroff auf seiner Wahrheit, der "Wahrheit des Dokumentarfilmers", und wies alle Einwände und Kritiken als "besserwisserisch" zurück.

Am Ende des Films langt Kroske noch einmal tief in die Metaphernkiste und verlegt seinen "SPK Komplex" auf die griechische Insel Leros, nahe der türkischen Küste. Er zeigt aktuelle und beeindruckende Bilder einer ehemals skandalumwitterten Psychiatrie, hinter deren erneuerten Zäunen heute Geflüchtete hausen. Ein unmissverständlicher Wink mit dem Zaunpfahl, was Psychiatrie im Sinne des Filmemachers im Kern wirklich ist: das ideelle Gesamtgefängnis, Leros als Sjnnbild eines internationalen "SPK Komplex". Aber auch hier zeigt Kroske seine mangelhaften historischen Kenntnisse.

Denn Leros ist eine seit Jahrhunderten als Verwahrort für unterschiedliche, gesellschaftlich exilierte Menschen genutzte Insel. Im Mittelalter für Leprakranke, dann militärischer Vorposten mit Soldatengefängnis; in den Jahren des griechischen Bürgerkriegs waren es die Waisen getöteter Kommunisten, die auf Leros, in den "Schulen der Friederike", zum proköniglichen Denken erzogen wurden; später drängten sich in der neugegründeten "Kolonie psychisch Kranker" 4000 Insassen in den düsteren Gängen und Zimmern der ehemaligen Militärgebäude; und in der Zeit des griechischen Faschismus beherbergte Leros ein KZ für politische Gefangene, darunter Mikis Theodorakis. Seit Jahrhunderten leben die Inselbewohner von den Internierten, die sie bewachen, füttern und mehr oder weniger gut versorgen, und damit ihre Existenz sichern. Die Geschichte ist interessant. Hat aber mit dem SPK nichts zu tun und führt einmal mehr in die Irre.

Der Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge hat einmal gesagt, der "naive Umgang mit Dokumentationen" sei "eine einzigartige Gelegenheit, Märchen zu erzählen". So ist es: der Dokumentarfilmer als Märchenonkel. Und es ist faszinierend, welche Phantasie manche Rezensenten dieses Films aufbieten und mit hymnischen Lobpreisungen und verstiegenen Interpretationen Kroskes Märchen vom "SPK Komplex" noch märchenhafter machen.


Die Termine zur Kinotour mit dem Regisseur <link http: www.spk-komplex-film.de termine _blank external-link>finden Sie hier. 


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10 Kommentare verfügbar

  • Anna Hunger, Redaktion
    am 26.04.2018
    Antworten
    Wir freuen uns immer über kontroverse Debatten, möchten aber vermeiden, dass sie in persönliche Beleidigungen abdriften. Die Argumente sind ausgetauscht und drehen sich im Kreis, deshalb schließen wir die Diskussion an dieser Stelle.
    Grüße,
    die Kontext-Redaktion
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