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Ach, der Herr Theologe

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Das Projekt Stuttgart 21 hat Ferdinand Rohrhirsch aus der Bahn geworfen. Dabei war er vom Eisenbahner längst zum Theologen und Führungskräfte-Berater geworden. Nun ist er im Alter von nur 60 Jahren gestorben.

"Lang andauernde Entwicklungen, die einen in mehrfacher Hinsicht schließlich doch aus der Bahn werfen", so begann Ferdinand Rohrhirsch im Juli 2016 bei seinem letzten öffentlichen Auftritt zum Thema, der Präsentation des Konzepts "Umstieg 21", seine Rede mit einem minutenlangen, verästelten Satz. Um schließlich zu erklären, "warum ich heute, die heute präsentierten Verbesserungen zu S 21, die unter der Chiffre 'Umstieg' vorgestellt werden, nicht nur für wünschenswert, sondern für geradezu unverzichtbar halte."

Aus der Bahn werfen: Rohrhirsch hat seine Worte mit Bedacht gewählt. Wenn er von Herkunft oder Ankunft sprach, konnte man vor dem inneren Auge immer einen Zug in den Bahnhof einfahren sehen. "Umsteigen bedeutet ja nie, eine begonnene Reise abzubrechen oder zurückzufahren", leitete er zum Konzept "Umstieg 21" über, "Umsteigen heißt, auf dem Weg zu bleiben, um, trotz verbohrter Wege dennoch das ursprünglich anvisierte Ziel zu erreichen."

Entwicklungen, die "das eigene Selbstverständnis nicht nur in Frage stellen, sondern erschüttern", so Rohrhirsch weiter, würden rückblickend häufig mit einem bestimmten Ereignis in Verbindung gebracht. Dieses Ereignis war in seinem Fall eine Aussage des Verkehrswissenschaftlers Ulrich Martin von der Universität Stuttgart: "Der heutige Stuttgarter Hauptbahnhof entspricht 16 nebeneinander liegenden Sackgassen", hatte Martin in einem Interview gesagt. "Wenn ein Zug diagonal ausfährt, versperrt dieser eine Zug alle anderen Ein- und Ausfahrten."

Rohrhirschs Credo: "Ohne Ethik keine Wissenschaft"

Andere hätten an dieser Stelle Lügenpack gebrüllt. Rohrhirsch drückte sich gewählter aus: "Ich empfand und empfinde diesen Satz in mehrfacher Weise als ungeheuerlich, und noch immer schaue ich nach, wenn ich ihn anführe, ob ich mich nicht doch vielleicht verlesen habe." Der verzweifelte Wunsch, Martin möge nach anerkannten Regeln der Wissenschaft redlich geurteilt und diesen Satz nicht ausgesprochen haben, steht ihm ins Gesicht geschrieben. Doch es hilft alles nichts: Der Satz "steht doch immer so da."

"Ohne Ethik keine Wissenschaft", so Rohrhirschs Credo, der sich hauptberuflich mit Ethik beschäftigt hat, seit er 1988 als Assistent, dann 1997 als Privatdozent und schließlich seit 2003 als Professor an der katholischen Universität Eichstätt gelehrt hat. Regelmäßig hielt er auch Vorträge zum Thema, bot Seminare an und führte mit Führungskräften ein individuelles Coaching zum Thema verantwortungsvolles Handeln durch. Dies war, neben seiner Lehrtätigkeit, der Kern seiner beruflichen Arbeit.

Über seine Herkunft hat der Theologe 2011 in einem kleinen Büchlein Auskunft gegeben, das bei aller zeitbedingten Gebundenheit an die damalige Situation zwischen Stresstest und Volksentscheid doch immer noch zum Lesenswertesten gehört, was zu dem Stuttgarter Bahnhofsprojekt und darüber hinaus zur vergangenen Welt der Eisenbahner geschrieben wurde: "Philosophie, Eisenbahn und Stuttgart 21. Erklärungsversuch meiner Zuneigung zu einem gegenwärtig umstrittenen Kopfbahnhof."

Rohrhirsch stammte aus Offingen, ein paar Kilometer östlich von Günzburg. Sein Vater war Eisenbahner. Der Großvater, Heizer, lebte im Bahnhof Neuoffingen, heute nur noch ein Umschlagplatz für Massengüter kurz vor dem Abzweig der eingleisigen Bahnlinie nach Donauwörth und Ingolstadt. "Hinter dem Bahnhof war die Donau. Vor dem Bahnhof waren die Gleise und der Wald, sonst nichts, außer einer Straße, die nach Offingen führt." Schon Rohrhirschs Urgroßvater war Eisenbahner gewesen.

Die Eisenbahn im Blut

Anschaulich beschriebt er die vergangene Welt seiner Kindheit, bis er selbst in den Bahndienst eintritt, denn: "Wer als Sohn eines Eisenbahners geboren wird, der braucht keine Alternativen. Auch er wird, mit allergrößter Wahrscheinlichkeit, Eisenbahner." Bei der damaligen Bundesbahn absolvierte er eine Ausbildung im mittleren nichttechnischen Dienst. "In Ulm und um Ulm herum habe ich Fahrkarten verkauft, Reisezugauskünfte gegeben, Weichen gestellt, Fahrstraßen gesichert, als Aufsichtsbeamter Züge abfahren lassen, Zugmeldungen abgegeben und Zugschlüsse kontrolliert." Deshalb empfand er die Aussage des Verkehrswissenschaftlers Ulrich Martin als so ungeheuerlich: weil er es besser weiß.

"Ich wäre immer noch bei der Bahn", schreibt Rohrhirsch. Doch es kam anders: "Ich war einer von den Zuvielen." An der Fachoberschule Krumbach holte er nicht nur die Hochschulreife nach. "Dort habe ich mit Hilfe von Herrn Eckart (Deutsch) und Herrn Osterried (Englisch) 'Lesen' gelernt (Theodor Fontane, Max Frisch, Siegfried Lenz, Martin Walser, James Joyce (in deutscher Sprache!). Das Leuchten in ihren Augen, wenn sie von Literatur sprachen, hat mein Interesse geweckt, mehr als alle Überredung." Dann studierte er katholische Theologie, in Eichstätt, wo er dann auch gelehrt hat, aber auch Philosophie. "Glauben kann nicht jeder", schreibt er, "zum Glauben gehört Gnade. Philosophieren muss jeder, der sein Leben nicht nur lebt, sondern es - wie auch immer - führen will und damit verstehen muss." "Das Woher bahnt das Wohin" ist das erste Kapitel von Rohrhirschs Buch überschrieben. Dann folgt das zweite: "Stuttgart 21 kommt und ich soll meinen Bahnhof hergeben. Warum soll ich meinen Bahnhof hergeben?"

Er hat dazu deutliche Worte gefunden. Drei Tage vor dem "Schwarzen Donnerstag" 2010 sprach er zum ersten Mal auf einer Montagsdemo: für ihn als katholischer Theologe, der seit 1999 regelmäßig Vorträge für die CSU-nahe Hanns-Seidel-Stiftung gehalten hat, doch ein ungewohnter Ort. Dass bei der Berechnung der Leistungsfähigkeit des unterirdischen Tiefbahnhofs im Fernverkehr mit zwei Minuten und im Nahverkehr, "und ausgerechnet im Nahverkehr", mit einminütigen Aufenthalten gerechnet werde, nannte er "grandioser Unsinn."

Dabei horchte er, ob im geschriebenen oder im gesprochenen Text, immer auch dem Wortsinn nach: wie Martin Heidegger, zu dessen Hauptwerk "Sein und Zeit" er zuletzt auch an der Universität Stuttgart Seminare angeboten hat. Er kam dabei zu bemerkenswerten Ergebnissen: "Beamte sind auch Menschen", lautet eine Kapitelüberschrift. "Herkunft bleibt stets Zukunft" eine andere. Dies klingt recht allgemein. Doch im Untertitel wird er dann sehr deutlich: "Wirtschaft und Markt sind keine Vorbilder für die Zukunft."

"Der Umbruch von der Deutschen Bundesbahn zur Bahn AG hat das Selbstverständnis der Lokführer wenn nicht zerstört, so doch grundlegend verändert", so beschreibt Rohrhirsch den Wandel Mitte der neunziger Jahre. "Aus Führern wurden Fahrer. Die Lokführer wurden aufgeteilt: in Cargo, Nahverkehr und Fernverkehr. Jede Gruppe sollte ihren eigenen Nachwuchs nicht nur selbst suchen, sondern auch selbst ausbilden. Spezialisierung war angesagt. Der Motivation ist das nicht förderlich, ständig von Stuttgart nach Tübingen zu fahren und wieder zurück."

"In einem Durchgangsbahnhof steigt man aus, in einem Kopfbahnhof kommt man an"

Am Ende seines Büchleins fügt Rohrhirsch noch eine Seite über eine Fahrt im Triebkopf eines ICE von Frankfurt nach Stuttgart an. Nach einem Vortrag erreicht er beschwingt den Bahnhof. "Ach, der Herr Theologe", begrüßt ihn der Lokführer: "Wollen Sie vorne mit?" Ganz am Schluss, nach der Einfahrt in den Stuttgarter Hauptbahnhof, stellt er fest: "Wer einmal so empfangen wurde, der weiß, dass es einen Unterschied gibt zwischen Aussteigen und Ankommen." Diesen Satz hat er geprägt: "In einem Durchgangsbahnhof steigt man aus, in einem Kopfbahnhof kommt man an."

Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 und die Schutzgemeinschaft Filder haben Rohrhirsch in einer Todesanzeige als "äußerst fachkundigen Mitstreiter gegen die Fehlplanung 'Stuttgart 21'" und als klugen, feinfühligen Menschen geehrt. Fünfmal hat er auf der Montagsdemo gesprochen, und er war nicht nur als Eisenbahn-Fachmann beliebt, sondern weil er bei aller Rechnerei um die Kapazitäten des Kopf- und des U-Bahnhofs wie kein anderer auf den Punkt gebracht hat, dass es beim Reisen eben nicht nur um technische Aufgabenstellungen geht, sondern auch um ein außergewöhnliches Erlebnis.

Im Grunde seines Herzens ist Rohrhirsch immer Eisenbahner geblieben. "Meine vorläufige Bestimmung hatte ich in der Reisezugauskunft im Ulmer Hauptbahnhof gefunden", bemerkt er in seinem Büchlein zu seiner Zeit am Ulmer Hauptbahnhof. "So konnte ich mir mein Leben vorstellen. Menschen bei ihren Reisen zu beraten, sie zu informieren, ihnen zu helfen. Im Grunde mache ich das noch immer. Allerdings geht es nun nicht mehr um die Bahnreisen von Menschen, sondern um ihre Lebensreisen."

Nun ist Rohrhirschs eigene Lebensreise überraschend früh zu Ende gegangen. Im Alter von 60 Jahren starb er am 16. März in Esslingen und wurde am 27. März auf dem Friedhof des Stadtteils Sankt Bernhard begraben. Wer sieht, wie er in den Jahren seit 2010 gealtert ist, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihm der Konflikt um Stuttgart 21 doch stark zugesetzt hat. "Führen mit Persönlichkeit und Ethik", ist der letzte Vortrag überschrieben, der auf seiner Homepage für Anfang Mai im Kloster Banz angekündigt ist. Die für die Deutsche Bahn und das Projekt Stuttgart 21 Verantwortlichen hätten diese Lektion gebrauchen können.

 

Ferdinand Rohrhirsch: Philosophie, Eisenbahn und Stuttgart 21. Erklärungsversuch meiner Zuneigung zu einem gegenwärtig umstrittenen Kopfbahnhof, Heidenheim 2011.


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2 Kommentare verfügbar

  • Andromeda Müller
    am 07.04.2018
    Antworten
    Vielen Dank für den Artikel über einen mir bis dato unbekannten vernünftigen und angenehmen Menschen. Solche Leute oder leute wie der Folgende müssten die Politik gestalten , nicht unsere unselige Lobbykratie.
    https://www.youtube.com/watch?v=atLkxpkvINk
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