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Der ganze Rollenscheiß

Der ganze Rollenscheiß
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Der Mann ist heutzutage angeblich dauernd in der Krise. Aber welcher Mann eigentlich? Die Rollenverständnisse gehen längst so weit auseinander, dass Pauschalaussagen mehr schaden als nutzen.

Kindergeburtstag auf einem Waldspielplatz im Stuttgarter Süden, lauter mehr oder minder hip und progressiv aussehende Eltern mit Sprösslingen, die Lea oder David heißen und dauernd zum Spielen ins Gehölz rennen. Irgendwann wird ein vielleicht vier- oder fünfjähriger Junge von seiner Mutter instruiert: "Sei ein Mann und pass auf deine Schwestern auf". Oh weh, der Arme. Muss schon jetzt die Erwartung erfüllen, qua Geschlecht starker Beschützer zu sein und das andere Geschlecht als beschützungsbedürftig zu sehen.

"Männer", sang Herbert Grönemeyer 1984 in seinem gleichnamigen Song, "werden als Kind schon auf Mann geeicht". Stimmt heute immer noch. Oder sogar wieder mehr? Angesichts von viel weniger Unisex-Kleidung für Kinder im Vergleich zu den 70ern und 80ern, angesichts von mittlerweile sogar speziellen Jungs- und Mädchen-Überraschungseiern ließe sich das vermuten. Während Erwachsene sich allmählich, wenigstens in gebildeten Milieus, von Geschlechterklischees lösen würden, "werden diese Klischees unseren Kindern stärker denn je vermittelt", zitierte der "Spiegel" Anfang Januar die Hamburger Genderforscherin und -aktivistin Stevie Schmiedel, die sich als Geschäftsführerin der Organisation "Pinkstinks" gegen limitierende Rollenbilder in Werbung und Industrie wendet.

Aber warum dieses Klischee-Revival? Gerade weil sich im täglichen Leben die Rollenverteilung immer weiter auflöse und daher Rollen und Aufgaben verhandelt werden müssen. Eltern erschöpfe dieser Kampf manchmal, so Schmiedel, "sie suchen dann Sicherheit, gerade für ihre Kinder." Sicherheit durch Stereotypen-Vermittlung? Ob die Kinder für diese rückwärtsgewandte Komplexitätsreduktion später einmal dankbar sein werden, darf bezweifelt werden.

Was zurück zu Grönemeyers "Männer" führt. Der Song war ja vor allem eine ironische Sammlung aller möglichen Männer- und Männlichkeitsstereotypen, positiver wie negativer, deren Aneinanderreihung allein schon zeigte, wie widersprüchlich und teils absurd viele sind. Und dass es eben nicht nur einen Männertyp gibt. Die Zeile "Wann ist ein Mann ein Mann", eine Frage, auf die jeder seine eigene Antwort finden muss, ist schnell zum geflügelten Wort geworden, oder vielmehr zum geflügelten Titel für gefühlt 20 000 Artikel, Bücher, Fernseh- und Radio-Sendungen oder Magazin-Titelthemen über den Mann als solchen. Der angeblich nicht mehr genau weiß, wann er einer ist, wie er sein muss, um einer zu sein, was die Gesellschaft von ihm erwartet. Kommt nicht mehr hinterher, sieht Karrierefrauen an sich vorbei ziehen, ist verloren zwischen Rollenerwartungen, dabei will er doch, unter uns, nur gelegentlich grunzend im Unterhemd auf dem Sofa mit Bierflasche in der Hand Fußball gucken.

Postmodern-flexibel oder Lifestyle-Macho

"Mann in der Krise" oder "Die Krise des Mannes" sind daher die vielleicht zweithäufigsten Titel-Variationen über den Mann. Die Frage ist, warum er überhaupt in der Krise sein soll.

Ökonomisch und beruflich, zumindest gesamtgesellschaftlich gesehen, ist er es jedenfalls nicht. Immer noch verdienen Männer im Schnitt deutlich mehr als Frauen, der Großteil der Führungsjobs ist mit Männern besetzt, auch wenn sich die Verteilung langsam, ganz langsam ändert. Für den Sozialwissenschaftler Thomas Gesterkamp bezieht sich die "Krise der Männlichkeit" dennoch vor allem auf die verschlechterten Chancen am Arbeitsmarkt: "Beide Geschlechter sind nun mit jenen prekären Erwerbsverläufen konfrontiert, die für Frauen schon immer 'normal' waren." Für Männer, aber eben vor allem für schlecht ausgebildete, so Gesterkamp, sei das neu.

In der Krise scheinen aber zumindest die Jungen zu sein, in der Schule jedenfalls. Da schneiden sie immer schlechter ab, wie die Pisa-Studien enthüllten. Auch dies relativiert Gesterkamp: Bildungsverlierer seien in der Regel nicht die Mittelklassejungs, die trotz schlechterer Schulabschlüsse später trotzdem bessere Berufschancen haben als Mädchen, sondern die Jungen aus Unterschichts- und Migrantenfamilien: "Soziale Herkunft und ethnische Zugehörigkeit sind die wichtigsten Kriterien für den Bildungserfolg, erst an dritter Stelle folgt das Geschlecht."

Schwerer zu fassen sind da die behaupteten Identitätskrisen, die Unsicherheit im Dickicht der Rollenerwartungen. Also noch ein kleiner Ausflug in die Musik: Die Berliner Band "No Underground", die nie auch nur halbwegs an Grönemeyers Popularität ran kam, textete Ende der Neunziger in ihrem Stück "City Boy": "Never tried to be a man, 'cause this is what I am" – habe nie versucht, ein Mann zu sein, denn ich bin ja schon einer". Was man als Mackertum interpretieren kann, oder auch als Feststellung: Ich habe doch eh den XY-Chromosomensatz, bin biologisch ein Mann. Warum sollte ich mir um den Rest, den ganzen Rollenscheiß überhaupt Gedanken machen? Was natürlich nicht ganz so einfach ist, denn eine Gesellschaft ist ja voll immanenter Normen und Werte, bedingt dadurch Verhalten, festigt oder konstruiert Rollenverständisse mit unmittelbaren Folgen für den Alltag. Aber es könnte so viel einfacher sein.

Was das Rollenverständnis der deutschen Männer angeht, so sind sich wenigstens die Wissenschaftler einig: Es gibt kein einheitliches. Und je nachdem, wie gefragt wird und welche Studie man sich anschaut, kommen Sozialforscher auf unterschiedlich strukturierte und große Kategorien. So wurden etwa 2009 gleich zwei große Studien veröffentlicht, die sich mit männlichen Selbstbildern befassten, "Männer in Bewegung" von Rainer Volz und Paul Zulehner sowie "Männer: Rolle vorwärts, Rolle rückwärts" von Carsten Wippermann und Kollegen. Während erstere den "modernen Mann", der die Gleichstellung der Geschlechter befürwortet und auch in Familie und Beruf leben will, bei 19 Prozent der Befragten sah, kam die andere auf 32 Prozent. So unterschiedlich die Ergebnisse sind, beide Studien konstatieren, dass viele Männer in ihren Einstellungen weiter sind, als es die Strukturen zulassen, ob im Berufsleben, wo Vollzeit für Männer nach wie vor als Standard gilt und Elternzeit für Väter bei vielen Unternehmen nicht akzeptiert ist. Das hat sich seitdem leicht, aber immer noch viel zu wenig geändert.

Gründe für zaghaften Optimismus

Näher waren sich beide Studien bei jenen Männern, die traditionellen Rollenvorstellungen vom Mann als Haupternährer anhängen (27 und 23 Prozent). Zwischen diesen beiden Gruppen lagen also noch rund 50 Prozent wabernde Masse, die je nach Studie in "Suchende" und "Balancierende", "Postmodern-flexible" oder "Lifestyle-Machos" eingeordnet werden. Ob sich die "Suchenden", als welche Volz und Zulehner immerhin 30 Prozent der befragten Männer ausmachten, ob ihrer Identitätssuche in der Krise befanden? Mag sein.

Der Soziologe Wippermann führte einige Jahre später eine weitere, 2017 veröffentlichte Studie durch, die die Gruppe der modernen, volle Gleichstellung anstrebenden Männer schon bei 42 Prozent sah, diejenige der das traditionelle Alleinernährer-Modell bevorzugenden dagegen nur noch bei 18 Prozent. Nicht ganz zu passen scheint das zu einer Allensbach-Studie von 2013, die das Rollenverständnis von Männern und Frauen als konservativer als in den 1990er Jahren sah. Wobei auch hier möglicherweise ein Grundsatz der empirischen Sozialforschung gilt: Andere Fragen, andere Ergebnisse.

Eine Nachfolgestudie zu "Männer in Bewegung" gab es dagegen leider nicht, sie wäre interessant gewesen: Denn Volz und Zulehner sahen 2009 eine zunehmende Polarisierung bei den Milieus der Modernen und Traditionellen, da beide im Laufe der vorausgegangenen zehn Jahre – also zwischen 1998 und 2008 – gewachsen seien. Und sie untersuchte auch die Gewaltakzeptanz bei Männern und Frauen, anhand der Zustimmung zu Aussagen wie "Manchmal muss man Kinder schlagen, damit sie zur Vernunft kommen", "Eine Frau gehört zu ihrem Mann, auch wenn er sie schlägt", "Wenn eine Frau vergewaltigt wird, hat sie wahrscheinlich den Mann provoziert" bis hin zu offen rassistischen Einstellungen die Überlegenheit der weißen Rasse betreffend. Bei allen befragten Männern lag die Gewaltakzeptanz bei 28 Prozent, bei den Frauen immerhin bei 15 Prozent, bei den "traditionellen" Männern und Frauen sogar bei 64 und 49 Prozent. Bei den "modernen" Männern und Frauen dagegen war Gewaltakzeptanz fast inexistent, lag bei beiden Geschlechtern nur bei zwei Prozent.

"Gleichstellung trennt heute nicht mehr die Geschlechter, sondern die Generationen und Milieus", ist dazu in der "Rolle vorwärts, Rolle rückwärts"-Studie zu lesen. Eine Aussage, die zaghaft optimistisch machen könnte. Je nachdem, wie sich die Milieus entwickeln.


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