KONTEXT:Wochenzeitung
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13 Naturtalente

13 Naturtalente
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Das Kontext-Bildungsprojekt mit jungen Geflüchteten geht 2018 in die dritte Runde. Gemeinsam mit Kameramann Steffen Braun arbeitet unsere Redakteurin in diesem Schuljahr mit der Vabo 12, der Sprachlernklasse der Gottlieb-Daimler-Schule in Sindelfingen. In Kontext berichtet Anna Hunger regelmäßig von unserem Projekt. (Teil 1)

Dembo kommt aus Gambia, er ist knapp volljährig, ein ruhiger junger Mann, der anfangs vor allem durch Schüchternheit aufgefallen ist, er spricht sehr gut Englisch, sein Deutsch wird immer besser. Mittlerweile ist er einer der Schüler, der politisch engagierten Erwachsenen ein Leuchten in die Augen zaubert: "Climate-Change" ist sein großes Thema, dass US-Präsident Trump aus dem Pariser Abkommen ausgestiegen ist, liegt ihm schwer auf der Seele, er kennt die Diskussion um den Dieselbetrug, er hat die Demonstrationen und deren Niederschlagung in Venezuela verfolgt.

"Was ist denn so auf der Welt passiert", fragt Steffen Braun in der Woche nach den Faschingsferien. Und zwischen vielen fragenden Gesichtern meldet sich Dembo und berichtet vom "shooting" in den USA, dem Amoklauf an der Schule in den USA, vom Konflikt der Türken mit den Kurden im Irak. Er weiß, dass Deutschland immer noch keine Regierung hat, er kennt das Wort "Koalitionsgespräche" und weil ihm "Mitgliederentscheid" noch nicht so recht über die Lippen will, erklärt er auf deutsch und englisch, wie die "members" der SPD gerade abstimmen, ob sie mit der CDU regieren wollen. Mit drei Schulklassen haben wir bisher gearbeitet, aber ein Schüler, der derart politisch versiert ist, kam uns selten unter. Da geht einem das Herz auf.

Syrien sei auch in den Nachrichten gewesen, sagt Abdul-Rahman, und meint die schweren Kämpfe in Ghouta. Abdul ist Syrer und mit seiner ganzen Familie nach Deutschland geflohen. Normalerweise ist er der Klassenclown, ein witziger Kerl, der das Herz auf der Zunge trägt, liebenswert und laut. Aber in diesem Moment kneift er die Augen zu Schlitzen zusammen: "Warum", fragt er, "machen Menschen so was, warum greifen Menschen andere Menschen an und bringen sie um? Nicht einmal Tiere tun das. Was kann man denn dagegen tun?" Steffen Braun, der Kameramann, und unsere Redakteurin sind einigermaßen rat- und hilflos. Was sagt man einem Jungen, dessen Heimatland in Schutt und Asche liegt?

Jedes Handy hat einen Hippie-Parkplatz

Dembo und Abdul-Rahman sind zwei von 13 SchülerInnen der Projekt-Klasse. Da gibt es den lächelnden Singh aus Indien, Zain-Ullah aus Afghanistan, Sara, Fatima und Shreen aus Syrien, Matteo aus Sizilien, Peyman aus dem Iran, Dems aus Gambia, der wie Dembo von Abschiebung bedroht ist, den Syrer Abdulkader, Ahmed aus Syrien und Ahmed aus dem Irak, der erst seit drei Wochen in Deutschland ist. Gemanagt und domptiert wird die Klasse von Ann-Katrin Reinl, der Klassenlehrerin der Vabo 12. Das Klassenzimmer ist im Gebäudetrakt F, erster Stock, mit der Handy-Aufbewahrung gleich links neben der Tür – ein Bambusstab an einem Nagel, darunter kleine Fächer in Hippie-Blumenstoff wie ein Adventskalender. Jedes Smartphone der Klasse hat so einen Parkplatz. Ab und zu vibriert mal eines durch den Blumenstoff.

Jeden Freitag am Vormittag sind wir zu Besuch in der Klasse und werden einen Film zum Thema Politik und Demokratie erarbeiten. Sich mit Politik zu befassen haben sich die SchülerInnen gewünscht – obwohl das Thema erst im nächsten Schuljahr auf dem Plan steht. Ein Thema, kompliziert schon für deutschsprachige Klassen, deren SchülerInnen in Deutschland aufgewachsen sind. Und umso mehr für solche, die nicht nur die Sprache erst lernen müssen, sondern auch das politische System und die kulturellen Unterschiede. In der vergangenen Woche hat Ann-Katrin Reinl die DDR erklärt. Sehr schwierig, Kompliziertes auch noch in sehr einfachen Worten zu beschreiben, erzählt sie uns. "Aber die Schüler wollen es wirklich wissen, sie sind sehr interessiert."

Bis zu den Sommerferien werden die SchülerInnen lernen, eine Kamera zu bedienen, mit Ton umzugehen, wie man ein Interview und eine Reportage macht, wie man recherchiert. Denn wer weiß, wie Medien produziert werden, kann gut mit ihnen umgehen. Und lernt so nebenbei die Sprache ebenso kennen wie kulturelle Eigenheiten.

Da fliegt schon mal das Dach weg

Zur Vorbereitung haben wir in den ersten Projektstunden verschiedene Medienformate gezeigt: Einen Tagesschau-Beitrag über den Orkan Friederike, wir schauen ein anonymisiertes Interview mit einem Geflüchteten, eines mit Schauspieler Walter Sittler, zeigen eine Straßen-Umfrage, verfolgen die Woche eines Klempners im "7 Tage"-Reportage-Format des NDR. Matteo meldet sich: Ob man vielleicht nochmal die Szene mit dem Radfahrer im Sturm aus der Tagesschau sehen könnte...? Kurz darauf weht der Radler samt Rad zum zweiten Mal über eine Straße, die Klasse kriegt sich nicht mehr vor lachen, also nochmal zurückspulen, Radfahrer die Dritte.... Vielleicht auch nochmal die Szene, in der das Dach vom Haus fliegt? "Ganz schlecht verarbeitet", sagt Abdul-Rahman trocken und schüttelt den Kopf. "Und so was in Deutschland."

Als erste Übungs-Aufgabe bekommen die Schülerinnen und Schüler zwei Stunden Zeit, die Gottlieb-Daimler-Schule filmisch vorzustellen. Drei Teams gibt es, jeweils mit einer Kamera, einem Mikrophon und einem Stativ ausgestattet. Keine einfache Aufgabe, mit Equipment umzugehen, sich eine Geschichte und Fragen auszudenken, fremde Menschen anzusprechen und das Ganze auch noch in einer Sprache, die noch nicht so gut sitzt.

Aber unsere Klasse ist voller Naturtalente: Team 1 dreht eine Reportage mit Moderation, landet irgendwann in der Autowerkstatt der Schule und lässt sich vom Werkstattleiter erklären, wie welche Maschine funktioniert, wer dort arbeitet und wie der Beruf des KfZ-Mechanikers so ist. Team 2 dreht ein Schulportrait, beginnt mit Interviews im Sekretariat und endet im Büro des Abteilungsleiters der GDS 1. Team 3 macht ein O-Ton-Stück und spaziert in Klassenzimmer, spricht mit Lehrern und Schülern. Als wir das Rohmaterial anschauen, sind wir begeistert.

Und die Klasse? Die freut sich. "Können wir auch Angela Merkel interviewen?", fragt Abdul-Rahman und ist ganz enttäuscht, dass das ganz sicher nicht klappen wird. "Wenn man nie etwas ausprobiert, kommt man auch nicht weiter im Leben", sagt er mit ernster Miene. In der darauffolgenden Projektsitzung formulieren alle gemeinsam eine Anfrage ans Bundeskanzleramt. Und Abdul? Der lächelt zufrieden.

Kontext-Redakteurin Anna Hunger und Kameramann Steffen Braun begleiten dieses Schuljahr eine Sprachklasse in Sindelfingen. Jeden Freitag unterrichten sie an der Schule. Bis zu den Sommerferien werden die SchülerInnen lernen, eine Kamera zu bedienen, mit Ton umzugehen, wie man ein Interview und eine Reportage macht, wie man recherchiert.


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2 Kommentare verfügbar

  • Ernst-Friedrich Harmsen
    am 28.02.2018
    Antworten
    Hier spricht die Lust aus den Beteiligten, sich einzubringen und die Welt mitzugestalten; super!
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