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Rezzo und die Rentner

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Rezzo Schlauch lädt die S-Klasse zur großen Geburtstagssause, Verdi lädt Rentner zu Kaffee und Kuchen. Wer auf beiden Feiern zu Gast war, der sieht, wie gespalten die Gesellschaft ist.

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Der Fritz ist der Schlaueste. Er spricht als erster, weil er so alles erzählen kann, was die anderen nach ihm auch gerne erzählen würden. Von der Plastiktüte in Portugal, in der Rezzo das ganze Urlaubsgepäck hat, von der erschöpften Putzfrau in seinem Bett, vom roten Wein, der oft die letzte Brücke zum Sozi Schröder war. Fehlte eigentlich nur noch der Bericht über die Baumerklimmung in Boxberg. Die Älteren wissen es noch: Im kalten Januar 1987 bildeten Lobredner und Gelobter die Avantgarde des Protests gegen ein geplantes Daimler-Testgelände.

Die Rede ist von Fritz Kuhn, dem Oberbürgermeister, und Rezzo Schlauch, dem ehemaligen Staatssekretär. Als sie noch jung und wild waren.

Was haben die Leute gelacht am vergangenen Freitag, als Schlauch seinen 70. Geburtstag mit einer großen Sause in der Cannstatter Kulturinsel feierte, die früher ein Güterbahnhof war. Das tut dem Erzähler gut, weil er immer ein Teil von Geschichten ist, die viel lustiger sind als das Rathaus, und weil sie damals noch Kerle waren. Der Rezzo natürlich ein Hauptkerle, dem in einem unbedachten Moment, von denen es viele gab, raus gerutscht war, Frauenpolitik interessiere keine Sau. Das war vor 25 Jahren.

Damals hatte der konzeptionelle Stratege Kuhn wieder eingreifen müssen, schließlich sind auch Frauen Wähler, also -Innen, und Schlauch musste Abbitte leisten, was er gewiss mit ausladender Geste und Bravour gemeistert – und wieder vergessen hat. Unter den Rednern an seinem Geburtstag ist nicht eine Frau. OB Kuhn denkt bei derlei Gelegenheiten gerne darüber nach, dass "emotionale Intelligenz nicht mein Fachgebiet ist". Wenn er die auch noch hätte, nicht auszuhalten. So schwelgt der 62-Jährige in Erinnerungen, als wären Asterix und Obelix für kurze Zeit noch einmal auferstanden. Für jüngere LeserInnen: Spätestens seit der OB-Wahl 1996, als Schlauch knapp gegen Wolfgang Schuster (CDU) verlor, klebten die Spitznamen wie Pattex an den beiden.

Kretschmann: politische Korrektheit nicht übertreiben

Der Winfried, also Kretschmann, hat's da schwer. Wenn Biographien auf Anekdoten schrumpfen, der Vorredner die besten geklaut hat, kann sich der Herr Ministerpräsident beklagen, was er auch tut, es hilft aber nichts. So nimmt er den Parteifreund Schlauch lieber als Beleg für die Wandlungsfähigkeit der Grünen, die ihre "Milieus verlassen" sowie "Opportunitätsgründe" haben walten lassen. Mit der politischen Korrektheit, mahnt Kretschmann, möge man es bitteschön "nicht übertreiben".

Das hat den meisten der 400 Gäste gut gefallen, diese Offenheit nach allen Seiten. Von Wieland Backes (Autobekämpfer) bis Wendelin Wiedeking (Autokämpfer), von Eckart von Klaeden (Daimler-Lobbyist) über Boris Palmer (Migrationsexperte) bis Helmut Zerlett (Harald-Schmidt-Show-Bandleader), von Susanne Eisenmann (CDU) über Günther Oettinger (CDU) bis Thomas Strobl (CDU-Frauenversteher) – alle haben sich bei Schlauch wohl und womöglich jung gefühlt, wenn sie auf Rezzos Transparente an der Wand geguckt haben: "It's Only Rock'n Roll But I Like It". Das gilt auch für den EU-Kommissar, der Schlauch einen "Kapitalisten mit Herz" und seine eigene Schulzeit in Korntal als verbesserungsfähig beschreibt: "Nur drei Jahre Englisch, da kommt halt nix raus".

Trotzdem, alles High Performer, die zu Rezzo gekommen sind, weil er einer der ihren ist. Zwar seit 2005 raus aus der Politik, aber drin im grünschwarzrotgelben Netzwerk. Im jüngsten Fall heißt es WMP Eurocom AG, wo der parlamentarische Staatssekretär a. D. seit Jahresende im Aufsichtsrat sitzt. Zusammen mit Hans-Hermann Tiedje, der mal Kohl-Berater und "Bild"-Chef war, mit Hans Eichel, der mal SPD-Finanzminister war, mit Eckhard Cordes, der mal Mercedes-Chef war, mit Bernd Schmidbauer, der mal Geheimdienstkoordinator war. Die Berliner Lobby- und Beratungsagentur, einst von Hans-Dietrich Genscher (FDP) mitgegründet, rühmt sich bester Kontakte an der Schnittstelle von Politik, Wirtschaft und Medien.

Aber die Heimat bleibt natürlich das Hohenlohische. Da mag die Sponsorenliste für das Geburtstagsfest noch so weit auswärts sein, vom Bankhaus Ellwanger über Immobilien Pflugfelder bis zur Hofbräu AG. Der wichtigste Mann bleibt Biobauer Rudolf Bühler, der Chef der schwäbisch-hällischen Schweine. Er wird an diesem Abend sagen, der Rezzo sei seine "beste Sau im Stall".

Verdi erwartet nichts Gutes von den Grünen

Ortswechsel: Die Gewerkschaft Verdi, Bezirk Stuttgart, lädt zur Jubilarehrung in die Filderhalle Leinfelden-Echterdingen. 600 sind im Saal, 20 von ihnen sind schon 65 Jahre und mehr dabei. Zum Auftakt gibt es Kaffee und trockenen Kuchen, danach ein Streichensemble aus drei Musikerinnen und ein Grußwort der Bezirksvorsitzenden Claudia Häußler. Sie sagt, die Republik rücke nach rechts, dagegen müsse man eine solidarische Gesellschaft setzen. Ein Jubilar ruft: "Reichtum für alle".

Da lachen sie auch, die RentnerInnen im Saal, aber es klingt etwas bitter. Wie von dieser Rente leben?, fragt Cuno Brune-Hägele, der Verdi-Geschäftsführer, und rechnet vor, dass der "männliche Rentenzugang" im Westen mit 980 Euro (weiblich 562) und im Osten mit 952 (814) veranschlagt sei. Er sagt, der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit bleibe bestehen, und deshalb brauche es starke Gewerkschaften. Kein Werfen mit Wattebäuschen. Und er erinnert an Christina Frank, den Schutzengel der Schlecker-Frauen. Sie ist <link https: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft ein-grosses-herz-steht-still-4556.html external-link-new-window>im August gestorben, gerade mal 62 Jahre alt, die Kämpferin für die, die man nicht gesehen hat.

An diesem Samstagnachmittag sind Getränke und Essen frei, auch die Blumentöpfe auf den Tischen dürfen mitgenommen werden. Sponsoren finden sich auf der Einladung nicht. Auch die Gage für den Elvis-Imitator Ray Martin übernimmt keine Bank. Im Goldglitzeranzug intoniert er den König des Rock'n'Rolls. Kiss me quick, In the Ghetto, Suspicious Minds. Und manche tanzen sogar dazu. Das hat etwas Rührendes.

Tja, und jetzt? Die Sozis sind raus aus der Regierung, sehen diesen Graben zwischen Reich und Arm vielleicht wieder, aber erstmal wird wohl Jamaika kommen. Mit der FDP und den Grünen tauchen neue Spieler auf, die früher mal an Soziales dachten. Er erwarte "nichts Gutes" von ihnen, sagt Brune-Hägele.

Manche haben ihre Ehrenurkunden mitgebracht. Darin drückt der Verdi-Bundesvorsitzende Frank Bsirske seinen Dank aus für die "Mitarbeit bei der Verwirklichung unserer gewerkschaftlichen Ziele". Ich habe eine für 40 Jahre gekriegt. Wofür auch immer. Vielleicht dafür, dass ich mit Setzer Hans gerne gestreikt habe. Nach 20 Jahren haben wir uns bei der Jubilarehrung getroffen. Hans ist inzwischen 82 und fährt jede Woche nach Tübingen zum Folkloretanz. It's au only Rock'n'Roll, würde Partytiger Schlauch wohl sagen.


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17 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 12.11.2017
    Antworten
    Die jungen Wilden – als sie noch jung und wild waren. Das waren noch…
    Es war. Es war! Und was ist heute? Was blieb übrig von den [i]damals[/i] jungen, ihrem Denken, den Gesprächen und Vorstellungen, die sie mal hatten – [i]entwickelt[/i] hatten? Haben Sie sich entwickelt? Zum Guten. Wie Wein eben,…
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