KONTEXT:Wochenzeitung
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Der Gipfel der Entfremdung

Der Gipfel der Entfremdung
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Man hätte meinen können, eine muntere Pfadfindertruppe mache sich auf den Weg zum G20-Gipfel. So lustig war's im Sonderzug nach Hamburg. Doch später finden sich Reisende im Schwarzen Block wieder. Kontext ist mitgefahren.

"Entschuldigung, können Sie einen Schritt zur Seite gehen?", fragt ein vermummter Autonomer. Nichts wie weg. Zwei Sekunden später fliegt ein Pflasterstein durch die Fensterscheibe einer Bank. Das ist in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, den 7. Juli.

24 Stunden zuvor wartet am Bahnhof Kornwestheim bei Stuttgart eine jugendliche Reisegruppe auf den Sonderzug zum G20-Gipfel. Der hat drei Stunden Verspätung, denn am Abfahrtsort Basel hat die Polizei alle 160 Menschen, die mitfahren wollen, einzeln kontrolliert. Gegen mehr als 30 von ihnen wird ein Einreiseverbot verhängt. Auf Gleis 6 in Kornwestheim wird Ärger laut über die "unerträgliche Repression, mit der man als linker Aktivist verfolgt wird". Das Zitat ist an keine Person zu binden, weil niemand namentlich genannt werden will. Bilder sind unerwünscht und nur nach Absprache erlaubt. Unter den rund 200 Mitreisenden aus Stuttgart, zum Großteil zwischen 16 und 25 Jahre alt, sind viele friedfertige Demonstranten, aber, wie die kommenden Tage zeigen werden, auch Befürworter von Militanz und gewaltbereite Radikale.

Die Stimmung im Zug ist gut, fast euphorisch. Viel Gelächter, ausgelassene Blödeleien, das Herumgealbere von Heranwachsenden. Im Gastroabteil, einem von insgesamt elf Waggons, servieren Dreadlockträger veganes Gulasch und Karotte-Ingwer-Suppe, alles frisch und selbstgemacht. Essen und Trinken kosten nix, wer keine Kohle hat, muss nichts zahlen, wer was über hat, soll's spenden. Die Tageszeitung der Wahl ist die "junge Welt", an den Wänden hängen Plakate mit Slogans wie "Solidarität mit den Befreiungskämpfen in Rojava" oder "Weg mit dem Verbot der PKK". Abgesehen von den überall präsenten Politparolen könnte man während der 13-stündigen Fahrt auch den Eindruck gewinnen, hier würde eine muntere Pfadfindertruppe reisen. 

"Wir sind hier nicht zum Spaß"

Am Hamburger Hauptbahnhof warten mehrere Hundertschaften der Polizei auf die Ankunft der insgesamt etwa 800 Leute, die an sechs Stationen quer durch die Republik zugestiegen sind. Sie begleiten uns bis zum Protestcamp im Altonaer Volkspark. Es ist Mittagszeit, die Sonne steht im Zenit. Etwas abseits sitzt Alejandro, keine 20 Jahre alt. Er hat einen gefalteten Hut aus Zeitungspapier auf dem Kopf, aber der kam, wie er sagt, zu spät: die Hitze sei ihm schon zu Kopf gestiegen. Jetzt attestiert er seinem Gesprächspartner "vampiresk anmutende Schneidezähne", ein paar Minuten später springt er auf, um sich sein letztes Dosenbier einzuverleiben. Sehr zum Ärger eines Kurden, der sagt: "Wir sind hier nicht zum Spaß." Die Vereinbarung laute "keine Drogen" und gelte seit diesem Donnerstag. Alejandro entgegnet, als Autonomer habe er Schwierigkeiten, solche Anordnungen zu akzeptieren. Später wird er sich dem Schwarzen Block anschließen und Steine schmeißen. Was erst richtig deutlich wird, wenn man die Beteiligten unmaskiert vor sich sieht: Ein großer Teil der radikalen Militanten ist noch mitten in der Pubertät.

Sie finden sich bei der "Welcome to hell"-Demo am Fischmarkt in St. Pauli wieder, wo es zu den ersten größeren gewaltsamen Ausschreitungen kommt. Die Verantwortlichen dafür sind, je nach Position, schnell gefunden: die Polizei oder die Chaoten. Dass es aus beiden Lagern Übergriffe gab, die sich schwer rechtfertigen lassen, kann anscheinend kaum einer glauben. Vermummte werfen Steine aus der Masse überwiegend friedlicher Demonstranten, die Polizei erwischt mit Wasserwerfen, Tränengas und Pfefferspray auch Unbeteiligte, Pressefotografen, Journalisten und Anwälte. Ein Franzose, Anfang 30, mit verdächtig wenigen Zähnen im Mund, sagt, im Vergleich zu dem, was er aus seiner Heimat gewohnt sei, verhielten sich beide Lager "sehr harmlos."

Im Arrivati-Park, kaum größer als ein gutbürgerlicher Schrebergarten, feiern am Freitag gegen 20 Uhr ein paar hundert Gipfelgegner in aller Seelenruhe. Keine 30 Meter weiter sind vier Wasserwerfer im Einsatz, und ein Räumungspanzer steht bereit. Demonstranten rufen Polizisten entgegen: "Wir sind friedlich, was seid ihr?" Gleichzeitig fliegen aus ihren Reihen Flaschen, Böller und Steine auf die Beamten. Aus einem Lautsprecher ertönt immer wieder die gleiche Ansage: "Unterlassen Sie das Werfen von Gegenständen, oder wir sind gezwungen, unmittelbaren Zwang anzuwenden." Die Reaktionen sind jedes Mal die gleichen. Höhnisches Gelächter, noch während der ersten Worte werfen Vermummte die ersten Gegenstände.

Mit Lennons Hippie-Hymne gegen Gewalt

Auch die Organisatoren im Arrivati-Park rufen alle paar Minuten dazu auf, friedlich zu bleiben oder zu werden. Ein paar Aktive sammeln Glasflaschen ein, versenken Pflastersteine tief in Gebüschen, um sie möglichst unschädlich zu machen. Zwischendurch läuft Musik, aus den Lautsprechern ertönt auch John Lennons Hippie-Hymne: "All we are saying is give peace a chance". Bühne und Mikrofon sind offen für alle, ein Mitzwanziger mit krausen Locken und bunter Sonnenbrille fragt: "Wie können wir von unseren Regierungen verlangen, Kriege einzustellen und dabei Menschen mit Steinen beschmeißen?" Ein paar Buh-Rufe gibt es. Aber vor allem Applaus.

Nur einen halben Kilometer weiter, Am Schulterblatt, bahnen sich die brutalen Ausschreitungen an, die später alle begründete Kapitalismuskritik und jeden friedlichen Protest gegen G20, wie die Demo von 100 000 Menschen am Samstagmittag, überschatten werden. Die Polizei hat die Zufahrten rund um den Neuen Pferdemarkt fast vollständig mit Wasserwerfern, Räumungspanzern und dutzenden Hundertschaften umstellt. Die einzige Route, die den Vermummten offen bleibt, führt ins Schanzenviertel. Dort beginnen Radikale mit Straßenschildern Pflastersteine aus den Straßen zu hebeln, in Teile zu schlagen und faustgroße Wurfgeschosse auf großen Haufen zu stapeln. Andere errichten Barrieren, die wenig später brennen werden.

Die Polizei versucht mit einer Hundertschaft vorzudringen, weicht aber unter einem Hagel von Steinen zurück. Von den Dächern schießen Extremisten Stahlgeschosse mit Steinschleudern, die nach Angaben der Polizei eine lebensgefährliche Bedrohung für die Beamten dargestellt haben. Die Staatsmacht zieht sich zurück und überlässt das Viertel der Anarchie. Parallel dazu sitzen die Mächtigen dieser Welt wohlbehütet und isoliert in der protzigen Elphi und hören Beethovens neunte Sinfonie mit der bekannten Textzeile: "Deine Zauber (die der Freude, d. Red) binden wieder, was die Mode streng geteilt; alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt."

Vier Stunden lang ist kein einziger Polizist in der Schanze, Vermummte plündern, Opfer der immensen Zerstörungswut wird neben unzähligen anderen Objekten auch eine Supermarktkette, die sich in der Flüchtlingshilfe engagiert. Ein bekannter Radikaler aus Hamburgs autonomen Zentrum sagt dazu später so salopp, als wäre es das normalste der Welt, grundsätzlich sei "wenig dagegen einzuwenden, eine Bank anzuzünden oder andere symbolträchtige Ziele anzugreifen". Einen kleinen Kiosk kaputtzuschlagen, findet er hingegen "völlig gestört". Er könne sich das nur so erklären, dass "Trittbrettfahrer" die Gunst der Stunde genutzt hätten, ein paar Gratisgüter abzustauben. Außerdem wären viele "Krawalltouristen" und "Eventhopper", auch aus dem Ausland, unterwegs, die "mal ordentlich auf den Putz hauen" wollten.

Vier Kilometer weiter, im Protestcamp im Volkspark, liegen gegen Mitternacht die Nerven blank. Eine junge Soziologiestudentin humpelt auf Krücken herum, sie hat ein fettes blaues Auge, die ganze rechte Gesichtshälfte ist geschwollen. "Gehört dazu", kommentiert sie trocken. Sie hat das schon öfters erlebt und ist deutlich ruhiger als die meisten hier, die morgens um drei Uhr geweckt werden. Alarm. Die Polizei, heißt es, räume das Camp. In wilder Panik stürmt eine Handvoll in Richtung Gebüsch davon. Eine halbe Stunde später die Durchsage: falscher Alarm. Um sechs Uhr rückt die Polizei tatsächlich an, nicht um das Camp zu räumen. Sondern um alle, die ein und aus gehen, zu kontrollieren und zu erfassen.

Am Tag nach den Krawallen ist das Schulterblatt im Schanzenviertel überlaufen wie ein Rummelplatz. Schaulustige bestaunen mit offenem Mund den geschmolzenen Asphalt, wo bis vor wenigen Stunden Barrikaden brannten, und machen Selfies vor den zertrümmerten Fensterscheiben einer Sparkasse. Die Kioskläden, die die Nacht überstanden haben, machen vermutlich den Umsatz ihres Lebens. Und dort, wo die Max-Brauer-Straße das Schulterblatt kreuzt, nur ein paar Meter neben der Roten Flora, hängt mit Frischhaltefolie befestigt ein Stück Karton an einem Baum. In blauer Schrift steht darauf: "Ganz Hamburg hasst Gewalt."

Im Ernst: den Ernstfall proben

Wie schön wäre das, wenn das Schild recht hätte. Aber dem ist nicht so, auch nicht im Lager der Demonstranten. Einer, der sich als Revolutionär verstanden wissen will, erläutert, ein radikaler Umsturz würde nun mal "selten gewaltfrei" ablaufen und verweist auf die Französische Revolution, die "ohne Blutvergießen auch nicht geklappt hätte". Die Auseinandersetzungen mit der Polizei dienten auch dazu, "Erfahrungen für den Ernstfall zu sammeln und Strategien zu erproben", als eine Art Guerilla-Kampf gegen "die staatlich-repressive Übermacht".

Auch Fred, Mitte 20, und ebenfalls ein überzeugter Militanter, erachtet diese Aktionen als "notwendig". Deswegen sei er aber kein Unterstützer von Gewalt, findet er. "Das sind diejenigen, die kriegerische Bundeswehreinsätze, Waffenexporte nach Saudi-Arabien oder deutsche Panzerfabriken in der Türkei schulterzuckend zur Kenntnis nehmen, aber sich empören, wenn ein paar Bullen 'n bisschen was abkriegen." Allein durch das Handeln der aktuellen Regierung seien "mehr Menschen zu Schaden gekommen, als durch alle sogenannten Linksextremisten der Bundesrepublik". Im Übrigen greife man Polizisten "nicht als Menschen, sondern als Symbole an". Ob er glaubt, damit auf Verständnis bei den Betroffenen und deren Umfeld zu stoßen? Fred sagt, es werde "keiner gezwungen, ein Bulle zu sein." Niemand hat das Recht zu gehorchen, zitiert er Hannah Arendt.

Am Gleis 13, Hamburg, Samstag, 23:00 Uhr, Rückfahrt des Sonderzugs. Die Heimreisenden sind nervlich und körperlich am Ende. Viele haben schwere Verletzungen davongetragen. Blaue Augen, geschwollene Gesichter, verlorene Zähne, ein doppelter Kieferbruch, teils mehrere gebrochene Gliedmaßen - und wieder viel Ärger über die Repression. Aus Angst, die Polizei könnte Verletzte aus dem Zug herausziehen oder Personen anhand von Aufnahmen der Ereignisse der Vortage identifizieren, verhängen sie fast alle Fenster mit Fahnen und Transparenten, die Türen werden blockiert. Ein Stuttgarter sagt, man müsse sich nach so viel Drama auch um die Psyche der Betroffenen kümmern. Auch das gehöre zum Widerstand. Wie er es mit der Gewalt hält, jetzt nach Hamburg, möchte er nicht offen sagen. Dazu könne man viele Meinungen haben, meint er, und er habe seine.


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6 Kommentare verfügbar

  • Rolf Steiner
    am 14.07.2017
    Antworten
    Wie wir doch ständig belogen werden: Von der Polizei hieß es zunächst 476 Beamte seien bei den Protesten verletzt worden. Wie Buzzfeed mit Bezug auf das bayerische Innenministerium und weitere Polizeibehörden berichtet, waren diese jedoch in der „erweiterten Einsatzphase“ – also zwischen dem 22.…
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