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Ode an die S-Bahn

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Die Landeshauptstadt versinkt in übler Luft. In Stuttgart und um Stuttgart herum drängen sich die Autos in Staus. Unsere Redakteurin fährt mit der S-Bahn. Und wird bemitleidet.

Die S-Bahn ist knackevoll, die meisten Leute stehen, steigt ein junger Typ ein mit Backpacker-Rucksack, Zottelhaaren, Marke alternativ-super-lässiger Weltenbummler in Harems-Hosen. Alle gucken. Herrjeh, was ein Zausel. Ich frage: "Na, wo kommst du denn her?" Und der Zausel erzählt. Woher genau er gerade kam, weiß ich nicht mehr, Indien, Vietnam, so was halt, ganz andere Welt, und die angenehmen Leute!

Mittlerweile sind die Gespräche um uns herum verstummt, der ganze Waggon hört mit – amüsiert, misstrauisch, aber trotz dem neugierig – und plötzlich zaubert der Zausel eine Schachtel Datteln aus dem Rucksack, steckt sich eine in den Mund, fragt kauend in die Runde: "Auch eine?" Sekunden später macht die Datteln-Schachtel die Runde, und es kauen doch erstaunlich viele fremde Früchte. Sie alle haben später eine kleine, aber nette Geschichte zu erzählen. Genau deshalb fahre ich gerne S-Bahn.

Vor ein paar Wochen erzählt mir eine Bekannte, sie stünde auf dem Weg aus der Peripherie ins Geschäft nach Stuttgart jeden Tag eine Stunde lang im Stau. Wie ich denn so ins Geschäft komme? "Mit der S-Bahn." Sie, mitfühlend: "Du Arme! Das ist doch bestimmt total stressig. Kann ich mir nicht vorstellen." Da ist sie wohl nicht die einzige. Für Menschen mit Auto aus Stuttgarts Einzugsgebiet (in meinem Fall Böblingen) ist Bahnfahren meist keine ernstzunehmende Option. Früher, klar, als man noch keinen Führerschein hatte und zum Feiern nach Stuttgart wollte – keine Frage. Oder gemeinsam aus Gaudi zum Wasen "mit dem Zug", weil es halt dazugehörte. Aber die S-Bahn als normales Fortbewegungsmittel? Wenn man ein Auto hat? Warum zum Geier? Bahnfahren löst Mitleid aus, getoppt nur durch Busfahren. "Mit dem Bus?!"

Autofahren ist echt einsam

Seit sechs Jahren besitze ich einen orangen Verbundpass für 86 Euro im Monat. Er gilt ab 9 Uhr morgens und insgesamt von Ehningen bis Zuffenhausen und ist verkehrsmäßig die beste Anschaffung meines Lebens. Kein Witz. Von Montag bis Freitag laufe ich 15 Minuten von daheim zum Bahnhof ("Du läufst?!"), fahre eine halbe Stunde bis Stuttgart Stadtmitte mit der S 1 ("Eine halbe Stunde?!") und brauche von dort zehn Minuten zu Fuß bis in die Redaktion ("Puh, nochmal laufen ...").

Fahre ich doch mal mit dem Auto und erwische ein stau- und baustellenfreies Zeitfenster, brauche ich ungefähr 20 Minuten. Aber ich fühle mich unbewegt, weil ich nur im Auto gesessen haben. Ich habe nichts erlebt, keinen anderen Menschen getroffen. Autofahren ist echt einsam.

In der Bahn kann ich die Zeitung lesen oder ein Buch, aus dem Fenster schauen, die Augen zu machen, noch kurz einnicken, gemütlich meinen Kaffee trinken. Bahnfahren ist wie legitimes Pause machen, der Start in einen Arbeitstag und sein Ende. Wie Luftholen und Ausatmen.

Wenn es heiß ist und übervoll, nervt Bahnfahren, ja natürlich, wenn die Haltestangen von hunderten schweißnassen Händen glitschig sind. Wenn einer furzt oder Döner isst, gesoffen hat und keiner weiß, ob er seinen Mageninhalt noch bis zur nächsten Station drin behält. Und trotzdem liebe ich Bahnfahren. Ich treffe jeden Tag auf Menschen, die nicht in meine Filterblase passen. Zusammengerechnet sind es bestimmt mehre Stunden Unterhaltung, die ich in meiner S-Bahn-Karriere geführt habe, mit Menschen, mit denen ich sonst nie gesprochen hätte. Diese halbe Stunde am Morgen und am Abend ist wie eine eigene, in sich geschlossene Welt. Ein Transit, der einen kleinen Ausschnitt der Gesellschaft transportiert. Und ich gehöre dazu.

Bahnfahren – in der Summe ein Erlebnis

Da fahren Mädchen mit, die weinend Whats-App-Nachrichten schreiben, dicke Männer, die Fantasy-Romane lesen, Durchtrainierte mit Rennrad, schnieke Kostümträgerinnen, stöckelbeschuhte Geschäftsfrauen, heulende Babys, fiepende Hunde, Junkies, Verrückte, Dealer mit dicken Taschen, Damen vom Dorf, die aufgeregt mit dem Mittwochs-Strick-Club einen Ausflug in die Großstadt machen, blasse Leute, die mit Koffern in Richtung Flughafen wollen und braungebrannte, die mit Sand an den Sohlen und tausenden Kilometern auf dem Buckel zurück nach Hause unterwegs sind. VfB-Fans auf Heimreise. Dirndlträgerinnen, abgefüllt bis ultimo. S-Bahnfahren ist ein Sammelsurium der Menschlichkeit. Nicht jeden Tag bemerkenswert, aber in seiner Summe ein Erlebnis.

Vor ein paar Wochen stand ich in der sehr verspäteten 19-Uhr-S-1 am Bahnhof Vaihingen zwischen einer Menge meckernder Menschen. "Scheiß-Bahn" – schon wieder Verspätung! Die Gesichter – lang bis zornig. Bis plötzlich eine andere Bahn an uns vorbeirollt und einer sagt ganz trocken: "Etzt überholt ons scho die Bahn von halber achte." Und die meisten mussten plötzlich lachen. Oder: Gleisbauarbeiten zwischen Rohr und Goldberg, die S 1 steht, wiedermal. Es ist still im Zug, Feierabendstimmung, als eine ältere Frau plötzlich den ihr gegenübersitzenden, älteren Mann mit Kopfhörern lautstark fragt: "Was hören Sie denn da?" "Costa Cordalis momentan", sagt der Mann und stöpselt die Kopfhörer aus. Die Oma ruft: "Hach schön!" Ab da spielt der Mann immer wieder neue Songs von seiner Playlist an, "toll" ruft die Oma, oder "das kenn' ich ja auch!" So geht es eine ganze Weile und um mich herum sehe ich nur schmunzelnde Gesichter. Einmal, im Winter, saß mir eine Frau gegenüber und strickte Socken. Die ganze Fahrt über hat sie mir gezeigt, wie man rundstrickt mit fünf Nadeln.

Die S 1, so erlebe ich es seit Jahren, ist ein Ort der Zivilcourage und Hilfsbereitschaft. Es mag sein, dass es an der Strecke liegt. Oder vielleicht an den Zeiten, zu denen ich fahre. Aber in meiner Bahn werden Rollstuhlfahrer und Kinderwagen über die Schwelle getragen, wird alten Leuten und Schwangeren Platz gemacht, Flüchtlingen der Weg erklärt, im Winter werden ungefragt Taschentücher über die Sitze gereicht, wenn eine Nase tropft. Fremde Kinder bespaßt, wenn sie partout nicht aufhören wollen zu heulen, und die Mütter nicht mehr wissen wohin vor lauter Peinlichkeit.

S 1 steht für Solidarität

Einmal habe ich am Bahnsteig einen schnieken Schnösel mit Einstecktuch beobachtet, wie er mit einem Urschrei durch eine Gruppe sich prügelnder Jungs fegte, so dass die sich verdattert in alle Himmelsrichtungen zerstreuten. Mir gegenüber wurde einmal eine Frau von einem Betrunkenen belästigt, wir haben ihn gemeinsam verscheucht. Eine längere Strecke in derselben S-Bahn zu fahren, bildet eine temporäre Schicksalsgemeinschaft. Man achtet aufeinander. So habe ich es erfahren.

Und immer wenn der alte Flaschensammler durch die Abteile geht, zücken fast alle eine leere Flasche. Das liege daran, dass er immer freundlich zu den Menschen sei, hat er kürzlich dem Mann neben mir erklärt. S-1-Philosophie.


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6 Kommentare verfügbar

  • Schwa be
    am 13.06.2017
    Antworten
    Ich besitze aus Überzeugung kein Kfz mehr. Denn aus meiner Sicht geht es schon lange nicht mehr um "freie Fahrt für freie Bürger" sondern - verkürzt dargestellt - um "teure Fahrt für unfreie Bürger". Wobei teuer nicht nur monetär meint sondern auch teuer im Sinne von Verteilungskriegen im Nahen…
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