KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Die große Einfalt

Die große Einfalt
|

Datum:

Die Stadt hat wieder mal vor dem Geld kapituliert. Und dafür ein ödes Dorotheen Quartier bekommen, in dessen Werbelyrismen man – Pardon! – herzhaft hineinkotzen muss. Eine Polemik.

"Ein Ort, an dem sich Menschen und Marken begegnen", so haben es die Baustellenschilder schon lange verkündet. Und nun ist es endlich soweit, nun wird man im neu eröffneten Dorotheen Quartier endlich Menschen-Marken-Vorstellungsgespräche wie "Gestatten: Josef Scheifele!" – "Angenehm: Louis Vuitton!" belauschen können. Ein Quartier "im Zeichen des Stils und des gehobenen Lebensgefühls"; "eine ganz außergewöhnlich schöne Verbindung von Einkaufen, Genuss, Arbeiten, Wohnen und Entspannen"; "ein ganzes Viertel für Genießer und Entdecker, für Gourmets und Flaneure". Wow! Schauen wir also mal selber an, was uns da versprochen wird.

Würg! Nein, es hilft nichts: Wer diesen Ort sieht, der will ganz prosaisch in diese Werbelyrismen hineinkotzen, und natürlich auch, damit ein Geruch von Authentizität hindurchweht, in die Sache selbst. Denn diese drei großen, schweren Klötze, die unter ihrer Last zu ächzen scheinen, wirken ja nicht wie gewachsen, auch nicht wie gebaut, sondern so, als wären sie von einem riesigen 3-D-Drucker ausgespuckt worden! Sie fügen sich in ihrer gnadenlosen Einfalt und Uniformität auch nicht zu einem urbanen Viertel, sie keilen sich mit ihren vorgehängten Kalksteinfassaden vielmehr zusammen zu einem Pandämonium der Künstlichkeit, zur gesichts- und geschichtslosen Imitation eines Stadtteils, der allenfalls zum Augmented-Reality-Spielplatz taugt, also etwa dazu, eine Horde digitaler Pokémons durch öde Gassen zu treiben.

Das Schlimmste wurde sogar noch verhindert! Nämlich die noch größere Verdichtung des zunächst ausgerechnet nach Da Vinci, dem Meister der Proportionen, benannten Quartiers. "Die Planer haben die oberirdische Geschossfläche von 49 000 Quadratmetern auf rund 38 000 Quadratmeter reduziert und das Hotel Silber, die ehemalige Gestapozentrale, war seit 2012 kein Teil des Projekts mehr", so steht es auf der Rathaus-Homepage. Doch auch das Zweitschlimmste, also das jetzt real existierende Projekt, demonstriert die Kapitulation der Stadt vor dem Geld. Und die Stuttgart-Homepage passt sich dabei dem realitätsbemäntelnden Werbestil an: "Das gesamte Viertel gewinnt durch den urbanen Nutzungsmix und die Baukörper, die sich in ihrer Größe sowie mit ihrer fünften Fassade behutsam in das historisch bedeutsame Umfeld einfügen." Behutsam!? Ja, etwa so behutsam wie ein Tyrannosaurus Rex, wenn er sich neben die Zwerge eines Schrebergartens einfügt. 

Tonnenschwere Gletscherberge über den Gassen

Doch, doch, es gibt noch Architekten, die die Baupolitik der Stadt kritisieren. Einer hat schon 2012 in einem Interview der "Stuttgarter Zeitung" über ein anderes Projekt gesagt: "Das Quartier, das auf dem früheren Güterbahnhofsgelände entsteht, ist vor allem städtebaulich eine Katastrophe. Das ist mein Thema, die Verwahrlosung des öffentlichen Raums in Stuttgart. Wichtig bei Quartieren sind immer die Bereiche zwischen den Gebäuden, diese machen die gute Stube aus. Denn die Menschen, die solche zentralen Orte aufsuchen, leben ja nicht in den Häusern, sondern zwischen den Häusern. Und das wird gerade in Stuttgart in der Regel völlig verkannt." Dieser Kritiker heißt übrigens Stefan Behnisch. Jawohl, er ist der Architekt, der dieses Dorotheen Quartier geplant hat, in dem zwischen den Häusern nicht mal öffentliche Bänke stehen.

Stefan Behnisch also, dessen Vater Günter mit seinen Projekten mal die Leichtigkeit und Transparenz der Bundesrepublik in Architektur ausdrücken wollte, hat Stuttgart nun die Kante gegeben. Und das trifft auch auf die stolz als "fünfte Fassade" bezeichneten und steil nach innen kippenden Glasdächer zu, die durch eine an Schutzfolienfarbe erinnernde Blautönung optisch mit dem Himmel verschmelzen und quasi verschwinden sollten. Tatsächlich dräuen da jetzt tonnenschwere Gletscherberge über den Gassen! Oder mahnen diese Dächer mit ihren glatten, schroffen Konturen doch eher an modernes High-Tech-Kriegsgerät? Man muss sich bloß mal Bilder von US-Stealth-Bombern herangooglen oder vom Zerstörer DD-21 Zumwalt samt seinen Aufbauten! Aber nein, es herrscht im Dorotheen Quartier kein Krieg. Es herrscht bloß der Konsum.

Warum aber sehnt die Quartiers-Werbung dann den Typus des Flaneurs herbei? Sylvia Stöbe hat in einem Vortrag erklärt: "Heute wie damals zu Zeiten des Flaneurs haben wir ein Überangebot von Waren, die keinem realen Bedarf gegenüberstehen, die in erster Linie als Luxusgüter zu bezeichnen sind. Um diese vielen 'überflüssigen' Waren zu vermarkten, bedarf es neuer Vermarktungsstrategien." Die Reaktivierung des Flaneur-Mythos könne dabei helfen. Denn: "Der Flaneur ist einer, der sich nicht für eine mögliche politische Veränderung interessiert und auch nicht als Sozialkritiker auftritt, sondern er ist derjenige, der als Ersatz für die politische Veränderung eine Ästhetisierung der Dinge anstrebt." Also, passt schon! Der Flaneur sollte halt nicht, so wie damals im Paris des 19. Jahrhunderts, seine Unabhängigkeit von der modernen Hetzerei dadurch demonstrieren, dass er mit angeleinten Schildkröten durch die neue und nach Eduard Breuninger benannte Straße flaniert und zum Konsumhindernis wird.

"Fettabluft" überm Feinkostmarkt

Aber nun zu den Marken, die unisono in Weiß auf schwarzem Grund auftauchen und in rechteckige Schilder gesperrt sind. Die Namen gerne auch im Doppelpack: Rich & Royal, Zadig & Voltaire, Scotch & Soda. Fehlt bloß noch Arsch & Friedrich. Alles ausgestellt hinter hohen Glasfronten und in sich ähnelnden Dekorationen, alles sehr sauber, sehr glatt, sehr steril. Sogar Shopping-Malls wie das Gerber oder das Milaneo sind im Vergleich Orte der Buntheit und Vielfalt. Und dieses fast schon widerliche Insistieren auf Luxusanspruch, das zu so schönen Angeboten führt wie im Klamottenladen Woolrich: "Originally designed for workers", so heißt es da. Wer sich als Arbeiter der Alaska Pipeline verkleiden will, der kauft sich dort für 700 Euro (und mehr) einen Parka, für dessen Kapuzenpelz ein paar Kojoten dran glauben mussten.

Aber es ist ja oft nur wortreich-glitschige Beschwörung von Luxus! In der materiellen Wirklichkeit erweist sich das Gequatsche schnell als Vortäuschung. Zum Beispiel im Kellerdomizil des Supermarkts Hit, dessen geschäftsführender Gesellschafter Gert Schambach sagt: "In der Gesamthaftigkeit der Angebote ist das vielleicht sogar das attraktivste Angebot, das es überhaupt in einer Stadt in Deutschland gibt." Die "Gesamthaftigkeit" sieht dann so aus, dass nicht mal die Decken verkleidet wurden und sich über den Kundenköpfen ein Leitungs-, Lüftungs- und Röhrenwirrwarr herumschlängelt ("Mir gefällt's auch nicht!", gesteht ein Angestellter), in dem noch Funktionsbeschriftungen zu lesen sind: "Heizung Vorlauf", "Regenwasser" oder, für einen Feinkostmarkt besonders delikat: "Fettabluft".

Eine billige Baumarkt-Ästhetik, zum Lifestyle deklariert! Ein Luxus-Fake, aber mit echtem Geld zu bezahlen! Ähnliche Rohzustand-Decken finden sich übrigens immer wieder, in den Klamottenläden genauso wie in der Gastronomie. Zum Beispiel, nun als Pendant zum nackt-grauen Betonfußboden, im "OhJulia". Zitieren wir wieder ein bisschen Werbegeklingel: "OhJulia steht für ein quicklebendiges, buntes Lebensgefühl, wie man es von einem italienischen Marktplatz kennt... Es ist ein bisschen, wie wenn man über den Brenner fährt: man ist sofort in Italien angekommen." Ja klar, beim Italian Burger für 12 Euro. Auch das Eduards zieht den Werbestiefel metaphorisch und geografisch durch. "Eine Bar wie man sie aus Italien kennt", so schwärmt der Chef Heinz Schiebenes. Wahrscheinlich wegen der "ausgesuchten Craft-Biere". 

Die Fenster schließen bei Lärm automatisch

Das Dorotheen Quartier geriert sich als Mitte und Herz Stuttgarts, seine Gastronomie aber rühmt sich damit, irgendwie nicht in dieser Stadt, sondern ganz woanders zu sein. Da, wo es schöner ist. Sogar die lokal benannte Tages-Bar "Das Nesenbach" mit ihren "40 bis 50 ganz tollen Frühstücks-Kombinationen" versichert dem Gast: "Eher Skandinavien als Stuttgart." Ja, Kreuzkruzifix! Wieso heißt das dann nicht gleich: "Nøsenbøch"? Dann wäre da noch das aus dem Breuninger-Kaufhaus-Block ins Quartier ragende Sansibar mit seinen – wie exklusiv ist das denn? – 430 Plätzen. "Wie auf Sylt, nur ohne den Sand", sagt der Chef-Lyriker Schiebenes dazu. Aber Kies braucht es schon, wenn man sich im Außenbereich hinter einem neckischen Palisadenzäunchen abgrenzt gegen jene, die auf die zehn Gramm Kaviar für 32 Euro oder das Filetsteak Dan Morgan Wagyu (160 Gramm) für 62 Euro erst noch ein bisschen sparen müssen. Ach, wer dieses Stuttgarter Sansibar sieht, hat sich Sylt nie ferner gefühlt. Nichts wie weg hier!

Was aber machen die, die im Quartier arbeiten oder wohnen? Beziehungsweise umgekehrt: Was wird aus ihnen gemacht in diesen leblosen Glas- und Steinschluchten? Dass die Angestellten jener Ministerien, die sich hier in Büros eingemietet haben, zu bürgernahen Menschen mutieren und sich um die Sorgen und Nöte aller Schichten der Gesellschaft kümmern, ist eher nicht zu erwarten. Und wie fühlen sich die Mieter der neunzehn Glasdachwohnungen (geschätzte Quadratmeter-Kaltmiete: dreißig Euro und mehr) an, nein, besser: über ihrem Standort? Die Verwaltung dieser Stadt schließt ihnen sogar automatisch die Fenster, wenn es draußen zu laut wird. Jawohl, ob die Mieter das nun wollen oder nicht! 

Vermutlich wollen sie, denn wer sich ins Dorotheen Quartier begibt, der kapselt sich ja bewusst ab. Und so wird man nun wohl leben müssen in und mit diesen Klötzen? So steht diese Investoren-Architektur also nun ewig da in ihrer ganzen Unbehaglichkeit? Nun, in dem Film "Zur Sache Schätzchen", einer netten Anarcho-Komödie aus den sechziger Jahren, klaut der von Werner Enke gespielte Held mal eine Polizeiuniform, stellt sich vor einen Laden und misst mit wichtiger Miene Breite und Höhe aus. Was das denn solle, fragt der herbeigeeilte Besitzer. Und Enke antwortet cool: "Das wird abgerissen, da kommt 'ne Wiese hin!"


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


16 Kommentare verfügbar

  • Herbert Machit
    am 13.06.2017
    Antworten
    Das schlimme ist, dass wir das alles bezahlen. Der größte Teil der Büros wird an Landesministerien vermietet. Mit anderen Worten wir machen Breuningers Traum vom Immobiliengeschäft wahr. Pfui Teufel liebe Landesregierung und Stadtparlament, dass ihr bei sowas immer dabei seid. Wir erinnern uns, das…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!