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Wer traut hier wem?

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Die Aufklärung der Missbrauchsvorwürfe in den Heimen der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal geht in die zweite Runde. Am Wochenende sollen erste Ergebnisse präsentiert werden. Einige ehemaligen Heimkinder boykottieren die Veranstaltung. Ihr Vertrauen in die Brüdergemeinde ist geschwunden.

Brigitte Baums-Stammberger reizen Herausforderungen. Die Jugendrichterin a. D. fühlte sich in der Rente unterfordert, der Anruf kam zur rechten Zeit und die 69-Jährige sagte "ja, ich mach mit bei der Aufklärung in Korntal." Manchmal hilft eine Prise Naivität, um Herausforderungen anzunehmen. Wenig wusste Baums-Stammberger von den nun schon Jahre dauernden Kämpfen um den richtigen Weg, von den Konflikten um ihre Vorgängerin, den zerstrittenen Opfergruppen und dem zögerlichen Vorgehen der Brüdergemeinde. Pietisten kannte sie vorher überhaupt nicht und wer da wem wieder ein Schäufele auf den Kopf gehauen hat im Laufe dieser drei Jahre, das interessiert sie auch nicht. "Ich konzentriere mich auf meine Gespräche mit den ehemaligen Heimkindern", sagt die Frankfurterin. Mit vielen Jugendlichen hat sie in ihrem Berufsleben über erlittene Gewalt, über Missbrauch und Demütigungen gesprochen. Sie fühlt sich gewappnet.

Zwei ehemalige Heimkinder hat sie an diesem Tag Ende April in Weilimdorf getroffen. Hier, im Holiday Inn direkt bei der S-Bahn, in einem Konferenzzimmer, das den Charme einer Wartehalle versprüht. Baums-Stammberger sitzt vor ihrem Glas Wasser, präzise Sprache, gepflegte Kurzhaarfrisur, beiges Jackett, freundliche Professionalität. Der neuen Aufklärerin geht es nicht um oberflächliche Kuscheligkeit. Sie will einen unbelasteten, neutralen Ort bieten, an dem die Korntaler Heimvergangenheit schonungslos auf den Tisch kommen soll. "Ich habe hier Details über einen Fall sexuellen Missbrauchs gehört, der war schlimmer als alles, was ich als Richterin erlebt habe", sagt Baums-Stammberger. Für den 5. Mai haben sich noch fünf weitere ehemalige Heimkinder mit ihr verabredet, eine Woche später fährt sie nach Darmstadt für ein weiteres Gespräch. Mehr als 20 Betroffene haben sich bis heute bei ihr gemeldet. Davon will sie am kommenden Samstag, den 6. Mai, berichten, wenn sich die Auftraggebergruppe trifft.

Netzwerk Betroffenenforum gegen AG Heimopfer

Es wird sich weisen, ob dieser zweite Versuch gelingt, Licht ins Korntaldunkel zu bringen. Nach dem Scheitern der Landshuter Erziehungswissenschaftlerin Mechthild Wolff brauchte es die Mediatoren Elisabeth Rohr und Gerd Bauz, um neue Aufklärer zu finden und die zerstrittenen Opfer wieder an einen Tisch zu bringen. Die Aufklärer sind gefunden. Doch die ehemaligen Heimkinder sind weiter im Clinch, Netzwerk Betroffenenforum gegen AG Heimopfer. Die einen waren in der Wolffschen Steuerungsgruppe, die anderen draußen. Die Steuerungs- heißt seit Anfang April Auftraggebergruppe und jetzt sind die anderen drin, und die einen draußen. Traurige Korntaler Welt.

Detlev Zander und seine Mitstreiter vom Netzwerk Betroffenenforum, enttäuscht von der Wissenschaftlerin Mechthild Wolff, haben zum Boykott dieses zweiten Anlaufs aufgerufen. Zu eilig hätten es jetzt plötzlich alle, zu wenige Gespräche würden geführt. "Schnellwaschgang" lauten die Vorwürfe an die neue Gruppe, die Brüdergemeinde wolle vor dem 200-jährigen Jubiläum 2019 schnell einen Schlussstrich unter ihre unliebsame Vergangenheit setzen. Und unabhängig seien die Neuen schon gar nicht. "Ich verstehe diese Haltung nicht", sagt die Richterin an ihrem Konferenztisch in Weilimdorf, "ich bin noch nicht mal in der Kirche. Wem wollen sie noch trauen?" Zum nichtöffentlichen Treffen am 6. Mai seien alle ehemaligen Heimkinder eingeladen. Trotz Boykottaufruf.

Wolfgang Kammerl ist Vereinsvorsitzender des Netzwerks Betroffenenforum, Ingenieur von Beruf, und Unterstützer von Detlev Zander. "Ich mag Leute, die nicht einfach sind", sagt er mit diesem bayerischen Akzent, der in seinem Heimatort Plattling gesprochen wird und sich bestens zum Poltern eignet über die "Rentner-Truppe", die es nun richten soll. Wolfgang Kammerl ist auch nicht einfach und er ist sauer. In Plattling hat er sein Büro, hier stapeln sich die Akten von drei Jahren gescheiterter Aufklärung in Korntal. Und wenn Kammerl sie ansieht, sagt er, komme ihm die Galle hoch: "Wir wurden ein Jahr lang hingehalten, beschwichtigt, und jetzt machen die anderen den gleichen Fehler". Kammerl misstraut dem Aufklärungswillen der Brüdergemeinde.

Und er stellt sich Fragen. Warum wurde nicht der Regensburger Rechtsanwalt Ulrich Weber bestimmt, obwohl sich beide Opfergruppen in langen Diskussion zusammengerauft und auf ihn geeinigt hatten? Warum hat ihn die Brüdergemeinde abgelehnt? War es wirklich wegen der staatsanwaltlichen Ermittlungen wegen Beihilfe zur Bestechung, die Anfang des Jahres publik wurden? Oder war der Täterorganisation der Mann, der den Missbrauchsopfern unter den Regensburger Domspatzen zu ihrem Recht verholfen hatte, zu unbequem?

Erziehungswissenschaftler soll Täterstrukturen durchleuchten

Denn wie in allen Missbrauchsfällen, sei es am Canisiuskolleg in Berlin oder bei den Regensburger Domspatzen, geht es nicht nur um eine Anerkennung des Leids und eine angemessene Entschädigung der Opfer. Es geht auch um die Aufklärung der Strukturen, die das psychische und physische Leid in den Korntaler Kinderheimen ermöglicht haben. Um die Kultur des Wegschauens und Schweigens in einer gläubigen Gemeinschaft, zu der die Täter gehörten. Oder wie der Stuttgarter Ex-Prälat Martin Klumpp es <link https: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft das-heilige-und-der-teufel-2586.html internal-link-new-window>im Kontext-Interview einmal auf den Punkt brachte: "Es kann unter dem Deckmantel des Heiligen und Christlichen Schlimmes passieren, weil man in der Idealisierung dessen, was man tut, möglicherweise erblindet und das Dunkle nicht mehr sieht."

Benno Hafeneger soll dieses Dunkel durchleuchten. Während Brigitte Baums-Stammberger mit den Opfern spricht, soll sich der Marburger Erziehungswissenschaftler die Strukturen der Täterorganisation vornehmen. Dazu ist er an diesem Apriltag nach Stuttgart gekommen, genauer gesagt nach Möhringen, wo er stundenlang Akten gewälzt hat im Landeskirchlichen Archiv (LKA). Seit Jahren beschäftigt sich der 68-Jährige mit der schwarzen Pädagogik. Was in der Heimerziehung der 1950er und -60er Jahre passiert ist, gehört für ihn zu den Dramen der BRD. "Jetzt ist Korntal dran, Aufklärung zu betreiben", sagt Hafeneger, der noch erstaunlich munter wirkt nach acht Stunden Aktenstudium.

Unzählige Briefe und Sitzungsprotokolle hat er an diesem Tag gelesen, um sich einen Eindruck zu machen von der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal, die ihn beauftragt hat. Und das ist erst der Anfang. Denn Hafeneger will herausfinden: "Warum wusste bei der Brüdergemeinde vermeintlich niemand davon?" Ganz im Klumppschen Sinne fragt er sich, ob es eine spezifische religiöse Dimension der strafenden Pädagogik gibt. In einem zweiten Schritt will der Erziehungswissenschaftler mit ehemaligen Lehrern, Erziehern und Verantwortlichen der Brüdergemeinde reden. "Ich habe Zugang zu allen Akten in Korntal, zu allen Namen", beteuert er im Gespräch mit Kontext nach seinem ersten Besuch im LKA, "so nehme ich das wahr". Wissenschaft sei dazu da, die Wahrheit herauszufinden. So sieht er das und dem fühlt er sich verpflichtet. Eine ambitionierte Aufgabe. Doch sie kann nur gelingen, wenn ihm die Brüdergemeinde wirklich alle Akten zur Verfügung stellt und alle Namen nennt. Wenn die Täterorganisation ihn aktiv unterstützt und ihm alle Freiheiten lässt, auch wenn es weh tut.

Die Suche nach der Wahrheit macht auch Ludwig Pätzold munter. Er ist 72 Jahre alt, lebt schon lange in Korntal, war Rechtsanwalt und ist heute ein Bürger, der den Mund aufmacht, wenn geschwiegen und verschwiegen wird, wo Unrecht passiert. In Korntal redet man nicht gerne über die Vorwürfe, über Missbrauch in den Kinderheimen vor der Haustür, über die pietistische Brüdergemeinde, die in dem Ort nahe Stuttgart mit ihren Altenheimen, Kindergärten, Kinderheimen und Schulen das Leben prägt. Nicht zuletzt mit dem großen Betsaal, der erst kürzlich mit Spenden renoviert wurde und der direkt neben dem Rathaus steht. Ludwig Pätzold gehört zu den Korntalern, die nicht schweigen wollen. Vor drei Jahren haben sie beschlossen, den ehemaligen Heimkindern in ihrem Kampf um Anerkennung und um Entschädigung beizustehen.

Pätzold ist Pragmatiker und ein hartnäckiger Optimist, der selten laut wird. Er unterstützt die AG Heimopfer, die seit Anfang des Jahres mit zwei Vertretern in der Auftraggebergruppe sitzen. Den Wissenschaftler Benno Hafeneger hält er für einen "Glücksfall", die Richterin Baums-Stammberger für eine "Frau, die auch zuhören kann", und die Streitpunkte für lösbar: Geklärt werden soll nur die Nachkriegszeit bis 1980? "Das muss zuerst gemacht werden und dann sieht man weiter", sagt er. Die Heimkinder sollen mit maximal 5000 Euro entschädigt werden? "Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen", so Pätzold zuversichtlich. Und auch Brigitte Baums-Stammberger will sich nicht zur Hektik treiben lassen, nur damit die Brüdergemeinde vor ihrem Jubiläum ein wenig ruhmreiches Thema vom Tisch hat: "Unsinn, natürlich schaff ich das nicht in der Zeit." Von der Brüdergemeinde war bis Redaktionsschluss keine Stellungnahme zu erhalten.


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