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B-u-n-d-e-s-k-a-n-z-l-e-r-i-n

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Kontext-Redakteurin Anna Hunger und Kameramann Steffen Braun drehen mit Geflüchteten aus Sindelfingen einen Film. Über deren Schule, über sie selbst und das Lernen in einem Land, dessen Sprache und Schrift sie noch nicht beherrschen. Start unserer Artikelserie über ein Kontext-Projekt.

An der Sindelfinger Gottlieb-Daimler-Schule 1 sind sie die "Alphas": die Alphabetisierungsklasse von Lehrerin Natascha Popovic. Insgesamt zwölf Schülerinnen und Schüler zwischen 15 und 19 Jahren, aus dem Irak, aus Syrien, aus Afghanistan.

Da gibt es Inaam ganz vorne, die immer guter Laune ist, viel kichert und lacht. Oder Odei, in akkurat gebügeltem Hemd und sehr höflich. Oder Mohammad, ganz vorne, ein echter Kerl, der einen mit festem Handschlag verabschiedet und unbedingt Koch werden möchte. Raída hat langes blondes Haar und sitzt meistens still neben ihrem Bruder Raed ganz hinten links. Beide sind erst im November des vergangenen Jahres in diese Klasse gekommen. Sie lernen Laute und Wörter über Kopfhörer, um ein Gefühl für die Deutsche Sprache zu bekommen, "sch", "st", "ph".

Natascha Popovic ist die Klassenlehrerin, 47, dreifache Mutter mit Hund, sehr resolut und mit einer Stimme gesegnet, die auch bei zwei Mädchen und zehn Jungs zwischen kindlich-albern und halbstark durchdringt. Sie spricht Deutsch, denn auch Englisch kann keiner aus der Klasse. Und sie spricht mit Händen und Füßen, manchmal spielt sie eine Szene vor, manchmal googelt sie Bilder und wirft sie per Beamer an die Wand. Manchmal geht sofort ein großes "Ah" und "Oh" durch die Klasse. Und manchmal ist es schwer: Wie erklärt man bloß das Wort "Traumhaus"? Popovic zeigt das Foto einer Villa, drückt theatralisch die Hände ans Herz, ruft "Traumhaus" und breitet die Arme aus. In der Klasse ist es ganz still. Bis Odei plötzlich "Ferrari!" in den Raum brüllt. Eine aufgeregte Wolke aus vielen arabischen und zumindest ein paar deutschen Lauten erhebt sich in der Mitte des Raums – und wird irgendwann, wenn sich alle einig sind, dasselbe zu meinen, zu lauter Ausrufezeichen über den Köpfen. "Traumhaus", ein neues Wort gelernt.

Beim Ausmalen lernen die Schüler einen Stift zu halten

An diesem Montag im Februar sitzen sie alle um zwei große Tische. Eine Gruppe ist in ein Spiel vertieft, bei dem man Formen auf Kästchen legen muss, je nach Farbe. Die andere Gruppe malt gemeinsam ein großes Bild mit einem Haus von Antonio Gaudi mit Buntstiften an. "So leise erlebe ich meine Schüler auch nur, wenn sie malen dürfen", sagt Natascha Popovic und grinst.

"Das ist grün!" sagt Inaam und legt die Form in die freien Felder neben einem gelben Rechteck. Mohammad legt "rot" und "blau" nebeneinander, denkt kurz, legt dann "lila" daneben. "Rot und blau gibt ...wie heißt?" "Lila!", ruft Inaam. Und lacht sich schon wieder scheckig.

Viele, die hier sitzen, waren noch nie auf einer Schule. Sie haben nie gelernt, was passiert, wenn man gelb und blau zusammenmixt, deshalb legen sie die Formen zu Mischfarben. Viele kennen keine Buchstaben, arabische nicht, und die lateinischen sowieso nicht. Die meisten können nicht lesen, nicht schreiben, wissen nicht, wie man einen Stift hält, deshalb malen sie das Bild mit dem großen Haus aus, um ein Gefühl für die Stifthaltung zu bekommen.

Wie schwer es alleine ist, eine neue Sprache zu lernen, die ganz andere Schriftzeichen hat, eine andere Schriftrichtung, zeigt die Lehrerin auf einem Plakat, das sie auf Fortbildungen für Alphabetisierungsklassen verwenden: Es ist rot, mit Kästchen, in denen Bilder zu sehen sind – Tomaten, eine Gazelle, scharfes Gewürz. "Hund!", ruft Mahran und zeigt auf die rote Schnörkelschrift. "Arabisch heißt Kalb", sagt er. Sprich: Klb, das A rutscht zwischen K und L die Kehle hinunter.

Die Lehrer lernen mit arabischen Schriftzeichen Geduld

"Im Arabischen verschwinden die Vokale im Wort, die Konsonanten werden zusammengezogen. Die Buchstaben sehen dann aber plötzlich anders aus, sobald sie in ein Wort eingebunden sind", sagt Popovic. Mit dem Poster arbeiten sie und ihre KollegInnen, damit sie nicht so schnell ungeduldig mit ihren Schülern werden. "Ich erwische mich oft, wie ich denke, meine Güte, das hab' ich jetzt schon fünf Mal erklärt. Aber wir können uns überhaupt nicht vorstellen, wie es ist, alles nachzulernen, was wir seit dem Kindergarten beigebracht bekommen." "Das, das!", ruft Inaam und meint einen Haufen Gewürz. "Ist scharf!" Sie wedelt mit der Hand vor dem Mund herum. Mittlerweile hat sich die ganze Klasse um das Poster versammelt und entwickelt einen mords Spaß daran, deutsch-arabische Worte durcheinander zu rufen.

Am Ende der zwei Stunden schreibt Popovic "BUNDESKANZLERIN" aufs Whiteboard, Angela Merkel kennen sie alle. "B-u-n-d-e-s-k-a-n-z-l-e-r-i-n", liest Mohammad mit zusammengekniffenen Augenbrauen, das N wird zu einem großen, breiten Strahlen, weil er dieses ewiglange Wort bis zum Ende geschafft hat.

 

Kontext-Redakteurin Anna Hunger und Kameramann Steffen Braun begleiten eine Flüchtlingsklasse in Böblingen. Wöchentlich unterrichten sie in der Klasse. Gemeinsam werden sie mit den Jugendlichen einen Film drehen. Ein Kontext-Medienprojekt für jugendliche Migranten.


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