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Kampf gegen die Mieter

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"Seit 150 Jahren für den Menschen": So wirbt der Stuttgarter Bau- und Wohnungsverein für sich in seinem Jubiläumsjahr. Dabei kann er ganz schön ruppig vorgehen, wenn ihm seine Wohnungen nicht mehr genug abwerfen.

Als der jüdische Bankier Eduard Pfeiffer 1866 den Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen gründete, war die Welt auch nicht in Ordnung. Sonst hätte es den Verein nicht gebraucht. Aber Pfeiffer, einer der reichsten Männer Württembergs, machte sich daran, sie zu verbessern. Er gründete den "Stuttgarter Consum- und Ersparnißverein", der einmal die halbe Stadt mit Lebensmitteln versorgte, und errichtete über 2000 Wohnungen. Sein gesamtes Vermögen gab er in eine Stiftung.

Später änderte der Verein seinen Namen. Aus dem Bau- und Wohlfahrtsverein (BWV) wurde 1990, nach Aufhebung der Wohnungsgemeinnützigkeit, der Bau- und Wohnungsverein. Mit der Wohlfahrt war Schluss, und wenn die Wohnungen nicht genug abwerfen, reißt der BWV baufällige Häuser ab. Der eigentliche Grund: Die Miete liegt noch unter dem Niveau heutiger Sozialwohnungen. Und Mieterhöhungen sind nur begrenzt möglich.

So geschehen in der Klingenstraße im Stuttgarter Osten. Die Miete lag bei 4,20 bis fünf Euro pro Quadratmeter. Nach Aussage des BWV waren die Häuser marode. Ein Gutachter der Mieterinitiativen kam dagegen zu dem Ergebnis: "Bei den Untersuchungen des Bauzustandes ergaben sich keine Anhaltspunkte, dass größere Beeinträchtigungen der Bausubstanz vorliegen." Der BWV beendete die Diskussion, indem er in den Häusern im November 2015 eine Feuerwehrübung durchführen ließ. Damit waren sie zerstört. Inzwischen sind die Häuser abgerissen.

An ihrer Stelle sollte ein soziales Projekt entstehen: ein Wohnheim für Jugendliche aus aller Welt, erbaut vom Verein für internationale Jugendarbeit (ViJ). Von einem "Jubiläumsprojekt" schwärmte der BWV-Vorstand Thomas Wolf auf einer Sitzung des Bezirksbeirats Ost im Juli 2015. Dann geriet der ViJ in Schwierigkeiten und zog sich zurück. An der Stelle der Häuser klafft eine Baulücke.

Auch in der Beethovenstraße in Botnang will der BWV drei Häuser abreißen: 1927 erbaut unmittelbar im Anschluss an die denkmalgeschützte Siedlung Westheim. Fast alle Mieter ließen sich zum Auszug drängen. Nur zwei weigerten sich: der Physiker Ilja Gerhardt mit Frau und zwei kleinen Kindern und ein Ingenieur mit seiner 91-jährigen, pflegebedürftigen Mutter. Sie wurden gekündigt, doch das Amtsgericht entschied, die Kündigung sei ungültig.

Am 17. November fanden sie einen Zettel des Vermieters an der Haustür. In ihrem Haus werde am nächsten Tag eine Polizeiübung stattfinden. Es könne zu Geräuschbelästigungen kommen. Gerhardt setzte alle Hebel in Bewegung, um das zu verhindern. Es handle sich um eine Übung des Sondereinsatzkommandos (SEK) gegen Terroristen, erfuhr er, was die Polizei später bestritt. Am nächsten Morgen sprach der BWV von einer Verwechslung, das Nachbarhaus sei gemeint gewesen. Die Polizei gab an, sie sei falsch informiert worden und blies die Übung ab.



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1 Kommentar verfügbar

  • Schwabe
    am 29.12.2016
    Antworten
    "Kampf gegen die Mieter" - man kann m.E. das Wort "Kampf" bedenkenlos durch "Krieg" ersetzen. Das neoliberale (radikal am Kapital orientierte) Zeitalter lässt grüßen - man kann es auch bürgerliche Politik nennen (die Lakaien der Wirtschaft/der Geldelite)!

    Eine kleine aber (un)feine, von vielen…
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