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"Ich hab' da einen Syrer"

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Zum neuen Ausbildungsjahr haben 600 Geflüchtete im Südwesten eine Lehrstelle gefunden. 6100 Plätze blieben unbesetzt. Die Hürden sind hoch, heißt es aus Wirtschaft und Politik. Wie es mit Engagement trotzdem klappt, zeigen Malermeister Hartmut Nietsch und sein Lehrling Omar.

"Rigipswand", sagt Omar langsam und lacht dabei. Bei manchen Fachausdrücken muss er sich noch anstrengen. Er sitzt am Tisch mit Malermeister Hartmut Nietsch, zwischen bunten Tapeten und Farbmustern in einem mittelständischen Betrieb in Aidlingen bei Böblingen. Der zwanzigjährige Syrer und der 47-jährige Schwabe, beide strahlen.

Eigentlich hatte er in seiner Heimat Polizist werden wollen, erzählt Omar. Letztlich hat er in einer Schokoladenfirma gearbeitet, bevor er nach Deutschland geflohen und in der Malerwerkstätte Jusztusz & Nietsch gelandet ist. Nietsch ist Vorsitzender der Malerinnung und stellvertretender Kreishandwerksmeister; gemeinsam mit seinem Kompagnon Hans-Joachim Jusztusz sind sie bekannt für ihr großes Engagement.

Erst vor zwei Wochen haben die beiden den Unternehmerpreis des Landkreises Böblingen verliehen bekommen. "Der Betrieb zeichnet sich durch sein hohes Engagement und großen Willen aus, Menschen in Not oder mit einem Handicap Einblicke in berufliche Abläufe zu verschaffen", begründete die Jury den ersten Platz für die Maler. 

Auch bei Berufsschulen kennt man Hartmut Nietsch. Vor einigen Monaten hat ihn der Abteilungsleiter der Gottlieb-Daimler-Schule 1, der Berufsschule in Sindelfingen, angesprochen: "Ich hab' da einen Syrer, der will unbedingt Maler machen." Der Syrer wohnte – zufällig – gleich um die Ecke des Malerbetriebs. Das passte bestens. Seitdem hat Omar eine Lehrstelle und Nietsch einen zweiten Azubi.

Dieses große Engagement ist die Ausnahme. Andere Unternehmen könnten sich ein Beispiel daran nehmen, was der Malermeister mit vergleichsweise bescheidenen Möglichkeiten auf die Beine stellt. Daimler-Chef Dieter Zetsche hat im September 2015 öffentlichkeitswirksam ausgeführt, wer sein altes Leben zurücklasse, sei hochmotiviert in Deutschland zu lernen: "Genau solche Menschen suchen wir bei Mercedes." Der Milliardenkonzern hat angekündigt, 50 Ausbildungsplätze (von 1900) für Flüchtlinge bereitzustellen. "Etwa 20" haben im September eine Lehrstelle erhalten, erklärt die Presseabteilung auf Rückfrage. 

Die Wirtschaft tut wenig

Das muss man schon vorbildlich nennen, denn kein anderes Großunternehmen in Baden-Württemberg tut mehr. Wirtschaftsministerin Hoffmeister-Kraut lobt indes das "beispielhafte Engagement der Wirtschaft". Gut 22 000 Asylsuchende in Baden-Württemberg sind zwischen 15 und 35 Jahre alt und haben einen Aufenthaltstitel, mit dem sie eine Ausbildung anfangen dürften, verlautet das Ministerium. Knapp 600 haben zum Start im September einen Platz gefunden. Immerhin: etwa 450 mehr als im Vorjahr. Gleichzeitig blieben 6100 Ausbildungsplätze im Südwesten unbesetzt. 

"Die Situation auf dem Ausbildungsmarkt ist für Bewerber eigentlich so positiv wie lange nicht mehr," sagt Silke Walter, Pressesprecherin im Wirtschaftsministerium. Der Überschuss an Angeboten ist riesig. Nicht nur in Baden-Württemberg, sondern deutschlandweit: Im September waren etwa 130 000 Ausbildungsplätze unbesetzt, teilt die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) mit. Das liegt an einem drastischen Rückgang der Bewerberzahlen: 2005 waren es noch 190 000 mehr als 2015, das entspricht etwa einem Viertel. 

In jedem dritten Ausbildungsbetrieb blieben Lehrstellen unbesetzt. Besonders betroffen sind laut DIHK die Branchen Hotellerie, Einzelhandel, Gastronomie, Lagerlogistik und KFZ-Mechatronik, die "händeringend Nachwuchs suchen". Gerade in diesen Bereichen, und in Handwerk, Bau, Reinigung sowie Industrie finden Flüchtlinge in Baden-Württemberg Arbeit. In den letzten Monaten sind hier 14 500 sozialversicherungspflichtig angestellt worden.

"Noch sind das vor allem Helfertätigkeiten", sagt Walter. Doch auch die Chancen für den Ausbildungsmarkt seien groß: "Flüchtlinge bieten hier ein großes Potenzial an hochmotivierten jungen Leuten." Was dem derzeit noch im Weg steht, sind vor allem fehlende Sprachkenntnisse: Nach einer Befragung der IHK Stuttgart ist für 93,5 Prozent der Betriebe besonders wichtig, dass die Auszubildenden mindestens deutsch auf B1-Niveau sprechen, also über fortgeschrittene Grundkenntnisse verfügen. Wie schnell Flüchtlinge so weit sind, hängt vom Einzelfall und den Vorerfahrungen ab. Im Schnitt kann es aber zwei bis drei Jahre dauern, schätzt die Arbeitsagentur. 

Auch Omar hatte am Anfang Schwierigkeiten mit der Verständigung. "Mein erstes Praktikum ist in die Hose gegangen", erzählt er etwas schüchtern. Sein Ausbilder habe breites Schwäbisch gesprochen – und er kein Wort verstanden. Irgendwann habe dann überhaupt niemand mehr mit ihm geredet. 

Am Schwäbeln soll's nicht scheitern

Auch bei Jusztusz & Nietsch wird geschwäbelt. Die geben sich aber mehr Mühe. Gleich am ersten Tag hat Hartmut Nietsch seinen Lehrling eingepackt, ist mit ihm zu einem Ausstatter für Berufskleidung gefahren und hat ihm eine komplette Erstausstattung Malerklamotten gekauft. Das macht er immer so, damit sich ein Neuer gleich als Teil der Mannschaft fühlt. "Die Jungen sind immer ganz stolz", sagt er. "Die strahlen dann richtig." 

Nietsch nimmt Omar jedes Mal mit, wenn er zu Kunden geht, kündigt ihn an als Geflohenen, der ausgebildet wird. Der Malermeister macht Werbung für Integration, noch nie hatte er damit schlechte Erfahrungen. "Im Gegenteil", sagt er. "Die meisten sind wahnsinnig neugierig. Es ist erstaunlich, wie viele Leute noch nie etwas mit Flüchtlingen zu tun hatten. Die nutzen dann die Gelegenheit und fragen Omar aus." Omar lächelt, er erzählt auch gerne, beantwortet die vielen Fragen. Wo er herkommt, was in seiner Heimat passiert, wie es ihm in Deutschland geht. Die Resonanz seiner Kundschaft, sagt Nietsch: "Die finden das super." Bei Schwaben kommt es halt an, wenn einer was schafft.

Er findet es schade, dass so wenige bereit sind, Flüchtlinge in Ausbildung zu nehmen. Viele seiner Kollegen wollen generell nicht mehr ausbilden, zu anstrengend, zu kompliziert. "Wenn ich keinen Lehrmeister gehabt hätte, wäre ich jetzt ja auch nicht hier. Wir brauchen doch junge Arbeitskräfte, sonst haben wir im Alter nichts davon", sagt Nietsch. "Den Jungen muss man eine Chance geben in einem Beruf anzukommen und gut zu werden."

An der Wand hinter ihm hängt ein Bild. "Um eine Einkommenssteuererklärung abgeben zu können, muss man Philosoph sein", Albert Einstein hat das wohl mal gesagt. Das gelte auch für die, die Flüchtlinge ausbilden, erklärt Nietsch. Bei all der Bürokratie müsse man erst einmal durchblicken. Allein Aufenthaltstitel gebe es mehr als 40 Stück. Und: "Auf Ämtern weiß jeder ein bisschen was. Das ist wie ein Hindernislauf."

Mittlerweile weiß Nietsch, dass der Arbeitgeberservice der Bundesagentur für Arbeit die richtige Anlaufstelle ist. Eine Hürde dabei: Die Ungewissheit, wie lange die Aufenthaltstitel verlängert werden: "Wenn ein Ausbildungsbetrieb nicht weiß, wie lange und ob einer überhaupt bleiben darf, dann sagen die sich, jetzt hab ich drei Jahre in einen Lehrling investiert und dann ist er weg. Das macht doch keiner", meint Meister Nietsch.

Riesenhürde Bürokratiewahn

Anfangs gab es hier überhaupt keine Gewissheit. Das hat sich wenigstens ein bisschen gebessert: Seit Mai gilt die sogenannte "3+2-Regel". Flüchtlinge in Ausbildung können seitdem nicht mehr abgeschoben werden. Wenn sie danach eine Beschäftigung finden, verlängert sich die Zeitspanne für mindestens zwei Jahre. Für vier von fünf Betrieben ist das wichtig, um Geflüchtete auszubilden, meint die IHK. 

Echte Sicherheit und verlässliche Perspektiven sehen dennoch anders aus. Omar ist in Deutschland "geduldet". Sein Pass wird immer nur um ein Jahr verlängert – wenn es gut läuft. Das letzte Mal hing das Dokument monatelang auf einem Amt in Berlin fest. "Wenn der verlängerte da ist, kann man den neuen gleich wieder zum Verlängern hinschicken", sagt Nietsch. "Das geht nicht, was sollen Betriebe wie wir machen, wenn der Zoll kommt und uns prüft?"

Rechtslage und Bürokratiewahn machen nicht nur Omar und Nietsch das Leben schwer. Wer als Asylsuchender arbeiten will, braucht erst die Erlaubnis der Ausländerbehörde und die Zustimmung der Agentur für Arbeit. Die gibt es aber erst, wenn geprüft wurde, ob es für den Job nicht einen geeigneten Deutschen oder EU-Bürger gibt. Nach Vorschrift sollen die vorrangig behandelt werden. 

Das Prozedere ist allerdings nicht für alle Arbeitsgelegenheiten Pflicht: 300 Millionen Euro stellt der Bund bis 2020 jährlich für das Programm "Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen" zur Verfügung. Damit sollen 100 000 Arbeitsgelegenheiten geschaffen und finanziert werden, die Tätigkeiten umfassen wie Putzen und Schrubben in Flüchtlingsunterkünften oder staatlichen Einrichtungen. Entlohnt wird das mit 80 Cent pro Stunde. Wer sich weigert, da mit zu machen und keine andere Arbeit vorweisen kann, bekommt seine Bezüge auf ein Minimum gekürzt. Ein Taschengeld – für den alleinstehenden Leistungsberechtigten 135 Euro pro Monat – soll dann nicht mehr gezahlt werden. 

Trotz vieler Hindernisse bleiben Hartmut Nietsch und Omar optimistisch. Kürzlich feierten sie das 10-Jahres-Jubiläum des Betriebs, zusammen mit dem Optiker in Aidlingen, den es jetzt seit 20 Jahren gibt. Sogar der Bürgermeister kam. Lehrling Omar hat seinen Bruder mit zum Fest gebracht, um ihm zu zeigen, wo er arbeitet. "Da hab ich gemerkt", sagt Malermeister Hartmut Nietsch, "dass das Verhältnis stimmt."


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1 Kommentar verfügbar

  • Andrea
    am 11.12.2016
    Antworten
    Sprachkenntnisse sind in der Tat ein Problem. Arabisch und Deutsch haben absolut nichts gemeinsam, da ist viel Motivation und Engagement erforderlich. Leider lässt die Motivation schon langsam nach, wenn man Monatelang auf einen Aufenthaltstitel wartet und aus irgendwelchen Gründen (weil man z. B.…
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