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Puffgehen muss uncool werden

Puffgehen muss uncool werden
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Mit einer provokanten Plakatkampagne wollte die Stadt Stuttgart im Frühjahr eine Wertediskussion zum Frauenbild anstoßen und ein Zeichen gegen Zwangs- und Armutsprostitution setzen. Ein halbes Jahr danach gehen jedoch nicht weniger Männer in den Puff. Die Situation der Prostituierten ist beklemmender denn je.

Dass im Ländle mal ein Oberbürgermeister bei einem Pressetermin vor einer Beamer-Projektion stehen würde, auf der das Wort "Ficken" steht, hätte niemand gedacht. Im Frühjahr dieses Jahres startete die Stadt Stuttgart jedoch eine Kampagne, die unter die Gürtellinie ging. "Nutten sind Menschen", "Die Würde des Menschen ist auch beim Ficken unantastbar" oder "Kondome benutzt man, Frauen nicht" – im April wurde die ganze Stadt mit großen Plakaten versehen, die manch einem die Brezel im Hals stecken bleiben ließ. Mit der Plakataktion machte Fritz Kuhn den Auftakt der Kampagne "Stoppt Zwangs- und Armutsprostitution" zur Chefsache – auch wenn er dabei etwas ministrantengleich in die Kameras der Pressemenschen grinste. Besonders pikant, neben der expliziten Sprache: Mit den Plakaten wurden ausschließlich Männer und damit potentielle Freier angesprochen.

Die Wortwahl gefiel nicht jedem. Doch sie rückte schlagartig diejenigen in den Mittelpunkt, die in der Auseinandersetzung mit dem Thema Prostitution bislang unterbelichtet blieben: die Freier. Bei der Ehre wollte man sie mit der Plakataktion packen. Doch ein halbes Jahr später stellt Leni Breymaier, designierte SPD-Landesvorsitzende, dem SWR gegenüber fest: "Ich glaube, den Freiern ist das ziemlich wurscht, was wir da unter Ehre verstehen."

Wenn im Juli 2017 das neue Prostituiertenschutzgesetz in Kraft tritt, sind es vor allem wieder die Frauen, die in die Pflicht genommen werden. Dann müssen sie sich behördlich registrieren lassen. Dann müssen sie nachweisen, dass sie "freiwillig" im horizontalen Gewerbe arbeiten. Dann müssen sie "auf den Bock" und sich regelmäßig zwangsuntersuchen lassen. Dann sollen sie ihren Freiern klarmachen, dass ohne Gummi ab jetzt strafbar ist. Dann ist sogar von einem Hurenausweis die Rede, der jede Frau stigmatisiert, die anschaffen gehen muss.

Als Vorstehende im Verein "Sisters" setzt sich Breymaier neben ihrer politischen Arbeit auch für Ausstiegshilfe aus der Prostitution ein. Das neue Gesetz werde der Situation der weit überwiegenden Armuts-Prostituierten auch in Stuttgart nicht gerecht, betonte Breymaier im SWR weiter. Wenn sie darüber hinaus erklärt, dass seit der "sogenannten Liberalisierung der Prostitution" in Deutschland schon "18-jährige Abiturienten in der Gruppe ins Bordell gehen, um Spaß für wenig Geld zu haben", trifft Breymaier einen Nerv, der bislang viel zu wenig berührt wurde: das Frauenbild vieler Männer. 

Dass sich an diesem Bild dringend etwas ändern muss, weiß auch Sabine Kopal. Die 28-jährige Streetworkerin ist hauptberuflich im Rotlichtmilieu der Innenstadt unterwegs, kennt und beobachtet die Szene seit Jahren. Täglich verkaufen hier etwa 500 von mehr als 1400 Prostituierten in Stuttgart ihren Körper. Wenn Kopal sich nicht gerade im Frauencafé La Strada im Leonhardsviertel um die Anliegen von rund 40 bis 50 Frauen pro Abend kümmert, dann macht sie auch Hausbesuche in Drei-Farben-Haus und Co. Vergangenen Donnerstag spricht sie im brechend vollen Wohnzimmer des Stadtteilzentrum Gasparitsch. Das Frauenkollektiv Stuttgart hat zu einem Vortrag mit Diskussion geladen. Rund 100 Menschen zwischen 14 und mitte Fünfzig wollen hören, was Kopal zu erzählen hat – auch einige Jungs und Männer.

"Wenn ich aus einem Bordell komme, fühle ich mich wie ausgekotzt"

Was die Sozialarbeiterin in den nächsten 60 Minuten aus ihrem Alltag erzählt, schnürt den meisten ZuhörerInnen die Kehle zu. Grün und blau geschlagene Frauen. Ungewollte Schwangerschaften durch Freier, die nur ohne Gummi wollen. Zuhälter, die Ausweise horten und ihre "Ware" damit erpressbar machen. Krankheit, Zwang und Elend. "Wenn ich aus einem Bordell komme, fühle ich mich wie ausgekotzt", erzählt die taffe junge Frau. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund. Nennt die Dinge beim Namen. Als das Prostitutionsgesetz erstmals 2002 in Deutschland eingeführt wird, sei die Ausgangssituation eine komplett andere gewesen. "Damals waren das größtenteils noch deutsche Frauen, für die das Gesetz gemacht wurde", erklärt sie. Seit der EU-Osterweiterung sei die Situation beschissener als jemals zuvor. "Während meiner Arbeit habe ich vielleicht drei deutsche Frauen kennengelernt", sagt Kopal. "Jetzt haben wir die Ärmsten aus Europa hier".

Junge Mädchen und Frauen aus Rumänien und Ungarn machten heute etwa 90 Prozent der Prostituierten in Stuttgart aus. Fast alle, so Kopal, haben Gewalterfahrung. Werden von Vätern, Onkeln oder Cousins nach Deutschland gebracht, um für die Familie im Ausland anzuschaffen. Bis auf die "Basics", wie "Blasen" oder "Ficken", sprächen viele kein Wort Deutsch. "Für 30 Euro gibt's vaginal, anal oder oral. Meistens ohne Gummi", redet die Streetworkerin Klartext. Früher sei es Prostituierten darum gegangen, so wenig Geschlechtsverkehr wie möglich zu haben. Die Freier mit Champagner abzufüllen, "die Sache" möglichst mit der Hand zu erledigen. Doch die frivol-verruchte Rotlicht-Romantik sei passé. Spurt ein Mädchen nicht, gibt's Dresche vom "Manager" – oder dem Kind im Heimatland werden die Beine gebrochen.

Kaum eine Frau, die nicht aussteigen würde, wenn sie es könnte. Doch physische und psychische Zwänge drücken schwer. "Am schlimmsten sind die 'Loverboys'. Die nutzen die Sehnsucht der Frauen nach emotionaler Zuneigung aus und schicken sie dann auf den Strich. Die sind wie Zecken", erzählt Kopal. Auch wenn nächstes Jahr das neue Prostitutionsschutzgesetz komme, werde sich wenig ändern am Status quo der Prostitution – die, was Kopals Arbeitsumfeld betrifft, seit vielen Jahren fast nur noch Zwangs- und Armutsprostitution sei. Doch "was machen" sei schwer. "Wie willst Du einen Zuhälter drankriegen, wenn sich die Frau nicht traut, eine Aussage bei der Polizei zu machen?"

Kurz habe man sich gefreut, dass die Plakat-Aktion der Stadt etwas gebracht hätte. Viele Menschen seien im Café La Strada vorbeigekommen, um sich zu informieren. Weniger Männer seien deshalb aber nicht in den Bordellen anzutreffen seit April. Im Gegenteil: Die Freier würden frecher und unverschämter denn je. Wer's nicht glaubt, dem macht spätestens Kopals "Überraschungsgast" Sonja klar, durch welche Hölle Frauen auf dem Strich tagtäglich gehen. Vor zehn Jahren schaffte die Ex-Prostituierte den Absprung. Heute hilft sie unter anderem Frauen beim Ausstieg und macht Frühstück im La Strada. Am End- und gleichzeitig Wendepunkt hatte Sonja ein Schlüsselerlebnis: Von Drogen und einer HIV-Infektion gezeichnet, stand sie eines Tages ausgemergelt am Straßenrand, als ein Freier vorbeikam und lüstern raunte: "Elend lässt sich gut ficken". "Diesen Satz vergess' ich bis heute nicht", erzählt die zierliche Frau.

Während die meisten Freier früher noch nach der Pfeife der Hure tanzten und peinlich berührt waren, wenn man ihnen begegnete, habe sich das Blatt heute gewendet. "Wenn ich in ein Bordell gehe, um eine Frau zu besuchen, verstellen mir Freier oft den Weg, sind unverschämt und frech", berichtet die Sozialarbeiterin. Zahlreiche weitere Anekdoten aus dem Nähkästchen von Kopal und Sonja lassen am Vortragsende einen Raum voll ZuhörerInnen zurück, die erst mal eine Pause brauchen, bevor sie Fragen stellen können. "Was also tun, wenn das neue Gesetz nicht hilft?" – diese Frage steht allen Anwesenden ins Gesicht geschrieben.

Schlimmer als jetzt könne es nicht werden, meinen die Frauen

Für Kopal und ihre Begleitung ist klar: Das Schwedische Modell muss her. Der Kauf von Sex muss per Gesetz verboten werden. "Schlimmer als jetzt können wir's eh nicht mehr haben", sind sich beide einig. Nur dann ändere sich auch was in den Köpfen der Jungs und Männer – und das sei letztlich das Dringendste. Es müsste schon in jungen Jahren klar sein, dass in den Puff gehen uncool ist und keine Mutprobe.

"Bei uns in der Schule ist es ganz normal, dass wir Pornos austauschen", erzählt ein Schüler in den hinteren Reihen. "Da gibt es von Anfang an einen enormen Druck, wenn man dazugehören will." Ein anderer junger Mann, Anfang zwanzig, bestätigt seinen Vorredner und erzählt, dass es in seinem Ausbildungsbetrieb total normal sei, schon mal im Puff gewesen zu sein. Fände man das blöd, laufe man gleich Gefahr, als Weichei zu gelten. Das Argument der "coolen" Jungs wäre dabei immer dasselbe: "Ist doch das älteste Gewerbe der Welt", äfft ein Dritter im Raum junge Puffgänger nach.

Klar, einen Kausalzusammenhang zwischen Pornos und Puffgehen gibt es nicht, das weiß auch Kopal. Doch viele Freier wollten Pornoszenen nachspielen, erzählt Sonja. "Ich wünsch' mir einfach, dass es ein Umdenken in der Gesellschaft gibt, was Frauen betrifft. Dass sie nicht mehr als Lustobjekt gesehen werden", sagt die 38-jährige Ex-Prostituierte mit Nachdruck. Ob sich dieses Umdenken per Gesetz einleiten lasse, bleibt für viele FrauenrechtlerInnen bis heute die Gretchenfrage. 

Für Sabine Kopal, Sonja und die meisten ZuhörerInnen im Stadtteilzentrum Gasparitsch wird sie klar mit Ja beantwortet. Das Gerede vom "ältesten Gewerbe der Welt" sei darüber hinaus totaler Blödsinn. Auf die Frage eines Schülers, was man denn sagen solle, wenn mal wieder jemand mit dem klassischen Argument um die Ecke komme, hat Sabine Kopal eine knackige Antwort parat: "Dann sag' einfach, dass das nicht stimmt. Das älteste Gewerbe der Welt ist die Hebammenkunst."


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10 Kommentare verfügbar

  • Muglintar
    am 20.10.2016
    Antworten
    Zwangsprostitution geht gar nicht, bin ich völlig der gleichen Meinung.

    Armutsprostitution hingegen, praktisch ein jeder muss den Wünschen anderer nachkommen, um dafür Geld zu bekommen. Das nennt man dann "Arbeit".
    Vorausgesetzt, dass eine Frau (oder auch ein Mann) Geld mit Sex verdienen WILL,…
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