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Dement und Staatsfeind Nr. 1

Dement und Staatsfeind Nr. 1
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Michael Schmieder hat vor 30 Jahren eine Demenz-Einrichtung in der Schweiz aufgebaut und steht für einen neuen Umgang mit demenzkranken Menschen. In seinem Heim wird nicht nur geweint und gestorben, sondern auch gelacht und geliebt. Was macht er anders? Heute Abend (12. Oktober) liest er im Literaturhaus Stuttgart aus dem Buch "Dement, aber nicht bescheuert".

Als Michael Schmieder 1985 das Haus Sonnweid in der Nähe von Zürich übernahm, war das Haus eine Verwahranstalt für chronisch Kranke. 30 Jahre später ist es wahrscheinlich die beste Einrichtung weltweit. Schmieder, 61, hat Ende 2015 die Leitung des "Demenzzentrums" abgegeben. "Ich bin jetzt Chefideologe im Haus", scherzt er. Er provoziert gerne. Neben der Tätigkeit in Sonnweid hat Schmieder das Portal <link http: www.alzheimer.ch _blank external-link>www.alzheimer.ch und die Website <link http: _blank external-link>www.ungekünstelt.ch (Kunst für Demente) aufgebaut.

Herr Schmieder, einmal angenommen, ich suchte bei Ihnen Hilfe, was würden Sie mir sagen?

Zuerst würde ich Sie fragen: Warum Sind Sie denn da?

Ich bin so vergesslich neuerdings.

Leben Sie noch mit jemand?

Ja, mit meiner Frau.

Und wo ist Ihre Frau?

Zu Hause.

Haben Sie Ihre Vergesslichkeit medizinisch abklären lassen, waren Sie schon bei einem Arzt?

Ich habe mich nicht getraut.

Aber zu mir kommen Sie? Aber gut, wir können uns gerne einmal darüber unterhalten, wie Ihr Weg sein könnte.

Langsam jetzt, wie kann der Weg sein?

Sie müssen keine Angst haben. Er wird so sein, dass Sie in alles, was wir entscheiden und was wir tun, involviert sind, solange Sie können. Dass wir miteinander besprechen, was Sie heute entscheiden können und was nicht. Und wer dann für Sie entscheidet. Was könnten wir jetzt schon besprechen, haben Sie eine Idee?

Wer meine Angelegenheiten regelt?

Das auch, aber Sie können jetzt noch entscheiden, wo Sie wohnen. Sie haben schon entschieden, dass Sie sich nicht abklären lassen - was mir zwar unverständlich erscheint ...

... unverständlich, warum?

Wenn Sie abklären lassen, was der Grund für Ihre Vergesslichkeit ist, haben Sie eine größere Chance, länger zu Hause zu bleiben, als wenn Sie nicht Bescheid wissen. Erstens könnte man die Frage beantworten, ob Sie überhaupt an einer Demenz leiden. Wenn nicht, wäre es blöd, wenn Sie sich mit dem Thema herumschlagen. Wenn Sie an einer Demenz leiden, haben Sie mithilfe von Medikamenten die Möglichkeit, etwa zwei Jahre länger zu Hause zu leben. Ich vermittle Ihnen einen Arzt und Sie lassen sich untersuchen: Das wäre mein erster Vorschlag Sie.

Sie tun, als müsste man vor Demenz keine Angst haben.

Vor Demenz muss man Angst haben, ich habe auch Angst davor. Ich habe gemeint, dass Sie keine Angst haben müssen, dass wir etwas machen, was Sie nicht wollen.

Wenn man vergisst, wird man aus dem Paradies Erinnerung vertrieben.

Ist die Erinnerung immer ein Paradies? Ich glaube, das Problem bei Demenz ist nicht das Vergessen. Sondern dass wir zum Beispiel einfach das Gebiss auf den Tisch legen. Heute würden Sie sich dafür schämen, aber wenn die Demenz fortgeschritten ist, schämen Sie sich nicht mehr dafür. Die Vorstellung, Dinge zu tun, die wir nicht mehr kontrollieren können, macht Angst. Es geht also darum, eine Umgebung zu schaffen, damit das, was Sie tun, möglichst stressfrei abläuft.

Stressfrei, bei dementen Menschen?

Im Haus "Sonnweid" ist viel mehr normal als draußen in der Welt. Wenn bei uns jemand das Gebiss auf den Tisch legt oder in Unterhosen über den Gang läuft, ist das kein Problem. Wir nehmen nur Menschen mit einer demenziellen Erkrankung auf, deshalb haben wir auch einen höheren Toleranzpegel. Es sind nicht immer die Normalen da, die sagen: Ah, er macht schon wieder etwas falsch. Das Personal ist darin geschult, diese nicht normalen oder anders normalen Dinge zu akzeptieren. Niemand sagt: Das dürfen Sie nicht.

Sie nehmen nur demente Menschen auf. Warum diese Absonderung?

Menschen mit Demenz verhalten sich nicht der Norm gemäß. Das heißt, es entstehen Konflikte, wenn Menschen ohne Demenz und Menschen mit Demenz aufeinandertreffen. Ich nenne das die "Nahkampfzone Speisesaal". Wenn in einem Speisesaal ein Dementer seinem nicht dementen Nachbarn das Gebiss in die Suppe legt oder von dessen Teller stibitzt, führt das zu unnötigen Konflikten - dabei macht ja niemand etwas falsch. Alte Menschen, die nicht an einer Demenz leiden, haben das Recht, sich nicht dauernd damit auseinandersetzen zu müssen, wie ihre Zukunft aussieht. Wenn sie mit einem Demenzkranken am Tisch sitzen, wird der Schrecken Tag für Tag an einer Person sichtbar. Wir Menschen reagieren auf unsere Ängste, indem wir abwehren, aggressiv werden. Das sind zutiefst menschliche Verhaltensweisen, und die treffen sich dann im Altersheim. Und dann heißt es plötzlich: Neben der will ich nicht mehr sitzen.

Das hat Ihnen den Vorwurf eingetragen, Sie würden Demenzkranke isolieren.

Was ich tat, war gegen die herrschende Ideologie, ja. Aber das hat mich noch nie gekümmert, wenn ich von etwas überzeugt war. Wir haben gesehen, dass wir zufriedene Menschen im Haus, zufriedene Angehörige und viel weniger Stress haben. Und heute hat sich die Ideologie ja geändert.

"Sonnweid" ist in drei Einheiten eingeteilt, leichte, mittlere, schwere Fälle.

Die leichten Fälle leben alle noch zu Hause. Die Fälle im mittleren Krankheitsstadium leben bei uns in einer Familienstruktur, wie in einer Großfamilie. Das sind alle die, die noch imstande sind, gewisse soziale Regeln einzuhalten, etwa noch ein Gefühl für Mein und Dein, für soziale Gemeinschaft haben. In der kleinräumigen Struktur, in der sie leben, erkennen sie bestimmte Muster aus ihrem Leben wieder, darin fühlen sie sich meistens sehr wohl. Sie managen den Haushalt, kaufen ein, kochen miteinander.

Und danach?

Mit der Zeit verschwindet das Bewusstsein für soziale Normen, damit verschwindet auch die Möglichkeit, etwas zu tun. Nichtstun ist in Ordnung, aber ich darf den Menschen nicht mit dem konfrontieren, was er nicht kann. Ich kann also nicht sagen, deck den Tisch, wenn er dazu nicht mehr fähig ist, aber ich kann sagen, halt das Besteck. Der Verlust von sozialer Kompetenz und von Körperlichkeit - wenn der Mensch sich nicht mehr selber pflegen kann, führt meistens zum Übergang in den Bereich mit den Menschen mit einer schweren Demenz. Dort stellt niemand mehr Ansprüche an sie.

In welcher Welt leben diese Menschen?

Der demente Mensch liest nicht Zeitung und erzählt dann davon. Er hat keinen Bezug mehr zur aktuellen Welt, er lebt häufig in einer anderen Welt. In seinem Erleben fehlen ja auch oft 30, 40, 50 Jahre. Wir haben jetzt eine Frau aus Ägypten im Haus, die lange in der deutschen Schweiz gelebt hat. Mit einem Pfleger, der ebenfalls aus Ägypten kommt, spricht sie jetzt wieder Arabisch. Die Erinnerung daran, die 50 Jahre lang verschüttet war, kommt jetzt wieder.

Was passiert, wenn Menschen nicht mehr mobil sind?

Die Menschen, die sehr viel Pflege brauchen, betreuen wir in einer "Pflegeoase". Das ist ein großer Raum mit acht beziehungsweise drei Betten, in dem die Menschen Kontakt zu einem zentralen Tisch, aber auch untereinander haben. Wenn jemand ruft, bekommt er eine Antwort, man hört den anderen reden, man ist immer Teil einer Gemeinschaft. Von Einzelzimmern reden wir ja erst seit 50 Jahren, vorher waren wir immer Teil einer größeren Gemeinschaft. Wir gehen davon aus, dass in dieser Phase die Menschen wieder in diese Gemeinschaft eintauchen und der individuelle Raum keine große Rolle mehr spielt.

Sie sperren nicht die Tür zu, binden die Menschen an oder nötigen sie dazu, Gedächtnisübungen zu machen?

Gedächtnisübungen sind gemein, weil sie in einer bestimmten Phase den Menschen vorführen, was sie nicht können. Wenn Menschen dort, wo sie sind, willkommen sind, gibt es keinen Grund, sie einzusperren. Wenn sie nach draußen wollen, können sie nach draußen und im Garten, der von einem Zaun umgeben ist, durch das Gras oder auch durch den Schnee laufen und sich entspannen. Wir versperren auch die Schränke nicht mehr. Je größer die Freiheit, haben wir bemerkt, umso weniger passiert – es räumt niemand mehr Schränke aus.

Und Sie müssen dann das Chaos ertragen, das durch die lockeren Regeln im Haus entsteht?

Es ist ein Chaos, ja, aber trotzdem gibt es eine unausgesprochene Struktur. Es gibt Dinge, da halten sich die Menschen einfach dran. Wir haben eine Frau im Haus, die nur Dekorationen für die öffentlichen Räume macht, wahre Wunderwerke. Das Interessante ist: Schöne Dinge werden nicht zerstört. In den Heimen wird ja der Sinn für Schönheit in der Regel nicht befriedigt – dort gibt es nur einen Sinn für Zweckmäßigkeit. Bei uns werden die Menschen mit großer Freundlichkeit empfangen. Räumlich wie innerlich.

Das heißt?

Höflich sein zu den Patienten. Es gibt keinen Grund, unhöflich zu sein, nur weil eine bestimmte Diagnose vorliegt. Ich will ja auch, dass man mich nicht anlügt, mich anständig behandelt. Wir sagen dem Personal: Der Patient ist dein Partner, er befindet sich auf Augenhöhe mit dir. In "Sonnweid" ist es auch nicht erlaubt, die Patienten zu duzen.

Kommt die Unhöflichkeit womöglich daher, dass wir Demente – im Wortsinn – für Menschen ohne Verstand, für Idioten, halten?

Krank, schreiend, beißend, aggressiv, blöd – das ist das Bild, das in den Jahren von dementen Menschen entstanden ist. Demente sind nicht blöd, sie haben eine Krankheit. Man muss schauen, wie man ihnen das Leben erleichtern kann.

Was haben Sie für ein Bild von einem dementen Menschen?

Er ist meistens ein humorvoller Mensch, ein Mensch, mit dem man auf der Gefühlsebene gut kommunizieren kann. Erst neulich habe ich wieder eine solche Situation erlebt. Auf dem Gang begegne ich einem Mann, ich grüße, er bleibt stehen und sagt, ich habe eine Frage: Bin ich ein Mann? Ja, antworte ich, Sie sind ein richtiger Mann. Danke, dann ist gut, hat er gemurmelt und ging davon. Er war zufrieden. Oder der Mann, der immer gefragt hat: Wo ist meine Frau? Ich habe geantwortet: Sie ist gestorben. Eine Minute später kommt er wieder an: Wo ist meine Frau? Ich habe Ihnen schon gesagt, sie ist tot, antworte ich. Was, schon wieder gestorben?, hat er da gesagt.

Warum gelten dann Demente als "Staatsfeinde Nr. 1", wie es in Ihrem Buch steht?

Weil sie sich an nichts halten, und wer sich an nichts hält, ist immer ein Staatsfeind. Er ist gefährlich.

Sie lieben diese Menschen?

Ja, das tue ich. Ich hatte Begegnungen und Erlebnisse, die ich sonst nie im Leben gehabt hätte. Demente sind auf ihre Art ehrlich wie niemand sonst, sie können sich nicht verstellen.

Also geht es immer um Beziehung?

Immer. Das ganze Leben ist Beziehung. Das ist die große Wahrheit, die in dieser Krankheit steckt. Wir möchten doch alle, dass uns jemand gern hat, wir möchten doch alle in Beziehung zu jemandem stehen. Wenn man aber einen Menschen mit Gummihandschuhen wäscht, entsteht keine Beziehung. Das signalisiert doch, unbewusst, das ist ein Mensch, den man nicht anfassen kann. In "Sonnweid" ist die Verwendung von Gummihandschuhen verboten, außer zur Intimpflege. Essen eingeben mit Gummihandschuhen, das geht nicht. Wenn ich das gesehen habe, gab es Ärger. Ich war immer ein Chef, der den Einzelnen sehr unterstützt hat, aber ich war immer auch konsequent, wenn es um das Wohl meiner Schützlinge ging.

Es gibt ja viele Formen von Umgang mit Demenz. Busse, die nie abfahren, Demenzdörfer mit Geschäften wie in Holland, in die man die Ware wieder zurückbringen kann. Sie können sich fürchterlich darüber erregen, aber was ist so schlimm daran? Der Patient merkt ja nicht, dass das alles nur Theater ist.

Wollen Sie von mir belogen werden?

Haben Sie jetzt gelogen?

Nein. Aber sehen Sie, Sie wollen sichergehen, dass ich Sie nicht angelogen habe. Wir müssen doch darauf vertrauen können, dass der Mensch, zu dem wir eine Beziehung haben, ehrlich ist. Ich plädiere für Ehrlichkeit, egal, ob jemand dement ist oder nicht. Das gebietet der Respekt vor den Menschen. Ich befürworte es nicht, dass Menschen wegen ihrer Diagnose unehrlich behandelt werden.

In "Sonnweid" setzt man auf Methoden, die die Gefühlsebene ansprechen oder den Menschen Wertschätzung vermitteln. Was sind das für Methoden?

Validation, eine Kommunikationsmethode, die die Gefühle der Menschen ernst nimmt. Kinästhetik, eine Technik, die Menschen, die sich schwer bewegen, wieder dazu bringt, ihren Körper zu spüren und sich zu bewegen. Basale Stimulation, die Körper und Sinne anregt, indem man bestimmte Reize auslöst, durch Waschen in eine Richtung etwa oder indem man jemand Marmelade auf die Lippen streicht. Das heißt, die Pflegekräfte haben einen Rucksack voller Werkzeuge, nicht nur einen Hammer zur Verfügung. Mit einem Hammer können sie ja nur draufhauen.

Was sehen Sie, wenn Sie ein "normales" Altersheim betreten?

Sehr unterschiedliches Personal und die Gefahr, dass jeder macht, was er will, und dass jeder behauptet, so wie ich es mache, ist es richtig. Dass es also keine gemeinsamen Ziele gibt, dass die Menschen nicht auf der Beziehungsebene behandelt werden, sondern auf der Ebene von Kranken.

Warum ist Demenz ein so großes Thema?

Weil sie zu den häufigsten Todesursachen gehört, weil sie ein Massenphänomen ist. Rein quantitativ ist sie eine enorme Herausforderung für die Gesellschaft, finanziell und personell.

Wer soll das leisten?

Wir haben es über viele Jahrzehnte geschafft, Menschen zum Militär zu zwingen. Ich bin dafür, für Mädchen und Jungen bis 25 ein verpflichtendes soziales Jahr einzuführen. Und wir müssen darauf bauen, dass es Menschen gibt, die sich freiwillig engagieren, vor allem in der Anfangsphase einer Demenz. Später braucht es eine geschützte Einrichtung.

Was hat Sie bei der Pflege gehalten?

Nähe zu den Menschen, die Möglichkeit, Menschen in Extremsituationen anzunehmen und zu begleiten.

Denken Sie manchmal, ich will nicht werden wie die?

Bei manchen denke ich mir das, aber bei den meisten stört mich die Vorstellung nicht.

Info:

Michael Schmieder wird am 12.10. um 19 Uhr im Literaturhaus lesen. Veranstalter der Lesung ist der Verein "Rosenresli Kultur für Menschen mit Demenz". Mehr Infos gibt es <link http: www.literaturhaus-stuttgart.de event _blank external-link>unter diesem Link.


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5 Kommentare verfügbar

  • Peter Romaker
    am 14.10.2016
    Antworten
    Dank für die Info und allen Respekt Richtung Sonnenweide.
    Das Gute ist ja das sich EinAlles ständig verändert und wenn es auch nur wenige sind die sinnvolle Richtungen vorgeben ist doch der Wert einfach unbezahlbar.
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