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Gefährliche Toleranz

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Der Weg in den Rechtsterrorismus war beim NSU zu erwarten, sagt der Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn und warnt davor, den rassistischen Alltagsdiskurs der Gegenwart zu bagatellisieren. Ein Vergleich der Situation der 1990er-Jahre mit heute zeigt, wie bedrohlich die Lage aktuell ist.

Seit Monaten vergeht kaum ein Tag, an dem nicht von einem wütenden rechten Mob in einer ostdeutschen Kleinstadt berichtet wird, an dem nicht besorgte RassistInnen gegen Flüchtlinge demonstrieren oder gleich gewalttätig auf sie losgehen, an dem nicht ein neuer Skandal über rassistische oder antisemitische Äußerungen eines AfD-Politikers oder einer AfD-Politikerin öffentlich wird; zugleich werden rechte PolitikerInnen durch Fernsehauftritte zur besten Sendezeit regelmäßig hofiert und man scheut sich dabei nur allzu oft, Nazipositionen auch als solche zu erkennen, zu benennen – und dann konsequent auch als außerhalb der Demokratie stehend aus dem öffentlichen Diskurs auszugrenzen. Dabei wird die Freiheit, rechtsextreme Positionen vor einem Millionenpublikum äußern zu können, verwechselt mit der Meinungsfreiheit, die sich die extreme Rechte gern instrumentell zu eigen macht, obgleich es doch nur darum geht, rassistisch, antisemitisch oder völkisch-nationalistisch diskriminieren zu können.

Wohin soll das alles führen?!, fragen viele. Analysiert man die historische Konstellation, dann drängen sich Parallelen zu den frühen 1990er-Jahren und einer innenpolitischen Entwicklung auf, in der der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) entstand und mindestens zehn Morde und eine Reihe weiterer Straftaten begangen hat. Dieser Blick zurück zeigt: Die Situation heute ist in mancherlei Hinsicht noch bedrohlicher – und die Entstehung neuer rechtsterroristischer Netzwerke mehr als wahrscheinlich.

Dabei kann man das Agieren der rechtsextremen, noch zumal rechtsterroristischen Szene nur verstehen, wenn man auch den sozialen und politischen Kontext einbezieht; die Politikwissenschaft spricht von "Gelegenheitsstrukturen". Einfach gesagt: Auf welches gesamtgesellschaftliche Klima treffen rechtsextreme Positionen? Wenn es ein Klima ist, das Rechtsextremismus ablehnt und aktiv bekämpft, dann gerät jedes Individuum mit rechtsextremen Einstellungen in eine Selbstrechtfertigungskrise seiner Positionen, verliert gegenbenenfalls den Anschluss an andere Szeneangehörige und tendiert dazu, sich zu isolieren und eventuell auch seine Positionen zu verwerfen, zumindest aber zu begreifen, dass seine Einstellungen nicht erwünscht sind. Existiert in einer Gesellschaft aber eine Grundakzeptanz für Rassismus und Antisemitismus, werden rechtsextreme Positionen nicht konsequent ausgegrenzt, dann führt das zu einem Verstärkungseffekt mit Blick auf rechte Einstellungen und rechtes Verhalten und birgt das Risiko in sich, dass auch die Intensität der Gewaltbereitschaft bis hin zum Rechtsterrorismus zunimmt. Und genau so ein gesellschaftliches Klima haben wir Anfang der 1990er-Jahre erlebt.

Der Blick zurück

Wolfgang Kreutzberger hat in seiner Phaseneinteilung der Geschichte des bundesdeutschen Rechtsextremismus darauf hingewiesen, dass die 1990 beginnende (sechste) Phase geprägt war durch eine insgesamt massive öffentliche Präsenz des Rechtsextremismus, die weniger in Wahlerfolgen, sondern in alltäglicher Gewalt zu beobachten war: von den zahlreichen Pogromen gegen Flüchtlinge und Ausländer über das Anwachsen einer rechtsextremen Skinhead-Szene auf dem Gebiet der ehemaligen DDR bis hin zu zunehmenden Aktivitäten neonazistischer Organisationen durch Demonstrationen und Aktivitäten gegen politische Gegner ("Anti-Antifa"). Geprägt von einem, so Kreutzberger, "Vereinigungspathos", zeigten sich die Maßnahmen gegen Rechtsextremismus nicht nur pädagogisch weitgehend hilflos, sondern die Justiz operierte auch strafrechtlich mit vergleichsweise milden Urteilen gegen rassistische Gewalttäter, obgleich es auch zu neuen Vereinigungsverboten kam. Wesentliche Rahmenbedingungen waren hierbei auch, dass im Kontext der deutschen Einheit die Toleranz für rassistische Gewalttaten in der Bevölkerung zunahm und überdies mit den Stimmen fast aller Parteien das Asylrecht drastisch eingeschränkt wurde. Zugleich aber war die linke Opposition parlamentarisch schwach (die Grünen waren nicht im Bundestag vertreten, die PDS war keine Fraktion, sondern hatte nur Gruppenstatus). Dass die Bundesrepublik in dieser Phase auch die Ostgrenzen völkerrechtlich verbindlich anerkannt hat, war hingegen ein schwerer Schlag für das gesamte rechtsextreme Spektrum. In dieser Zeit Anfang der 1990er setzte sich der Trend zu Militanz, Gewalt und Subkulturalisierung ebenso fort wie eine, wie Kreutzberger sagt, öffentliche "Hinnahme-Bereitschaft gegenüber Gewalt".

Zudem war die rechtsextreme Szene in diesen Jahren durchweg geprägt von der Orientierung auf ein zentrales Kampagnenthema: die "Überfremdungskampagne". Sie war, Richard Stöss folgend, in den 1980er- und 1990er-Jahren das zentrale Thema der rechten Szene und erfüllte die Funktion, "AnhängerInnen zu mobilisieren und Sympathisanten zu gewinnen". Diese "Überfremdungskampagne", maßgeblich getragen von rechtsextremen Parteien, aber auch dem intellektuellen neurechten Spektrum, war in ihrer Ausrichtung völkisch und rassistisch als "Kampf gegen die multikulturelle Gesellschaft" (Stöss) gerichtet. Sie nahm das völkisch-nationale Argument zum Kernanliegen, nach dem Migration und Zuwanderung die "deutsche Identität" gefährde und insofern verhindert werden müsse. MigrantInnen wurden verantwortlich gemacht für politische, soziale und ökonomische Krisenerscheinungen, verbunden mit der These einer völkisch-kollektiven Homogenität von Nationen und damit in expliziter Gegnerschaft zum modernen, aufgeklärten Nationenverständnis. Die europapolitische Kehrseite des völkischen Nationalismus war dabei das neurechte Konzept des "Ethnopluralismus". Diese Konzept ging zwar weiterhin von der völkischen Grundannahme einer Verbindung von vorpolitischen Kollektiven und geografischen Orten ("Volk und Raum") aus, soufflierte nun aber das neonazistische "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus" mit der Idee der ethnischen Homogenität aller Nationalstaaten, nach dem es die vermeintliche kulturelle Identität von "Völkern" durch ethnische Separation zu bewahren gelte – wobei die ethnokulturelle Variation der neonazistischen Parole dann "Deutschland den Deutschen, die Türkei den Türken" lautet.

Der Blick auf diese Gelegenheitsstrukturen, in denen der NSU in den 1990ern entstand, zeigt, dass einerseits die rechtsextreme Szene insgesamt dominiert war von einer rassistischen "Überfremdungskampagne", also wesentliche Züge des rassistischen Terrorismus des NSU im Weltbild exzessiv vorformuliert und mit Blick auf die Integration in die Szene maßgeblich prägend waren. Zugleich waren die 1990er-Jahre auch die Zeit, in der schon einmal Unterkünfte von Flüchtlingen in großem Umfang angezündet und MigrantInnen ermordet wurden und mit den Stimmen fast aller Parteien das Asylrecht drastisch eingeschränkt wurde. Massenmedien beteiligten sich an der rassistischen Hetze und vermittelten damit, gerade in Ostdeutschland, den entstehenden rechtsextremen Strukturen den Eindruck, rassistische (Mord-)Taten würden exekutieren, was eine Mehrheit der Bevölkerung denke und fordere.

Wie dies konkret funktioniert hat, hat Matthias Quent jüngst in einer großen Untersuchung für Jena und Thüringen analysiert und gezeigt, wie die "Karrieren individueller Radikalisierung" mit Blick auf den NSU funktioniert haben vor dem Hintergrund des bundesdeutschen Rechtsextremismus der 1990er-Jahre. Quent entwickelt dafür einen Ansatz, der gut geeignet ist, um noch einmal quasi mit der Lupe auf rechte Radikalisierungsprozesse zu sehen. Dafür entlehnt er einen Begriff aus der Terrorismusforschung und wendet ihn auf den Rechtsextremismus an – den des Vigilantismus, was so viel meint wie "systemstabilisierende Selbstjustiz". Mit Blick auf den NSU heißt das, dass sich dieser eben als "systemstabilisierend" begriffen hat, weil er sich im Einklang mit der rechten Szene und mit einem gewichtigen Teil der Bevölkerung gesehen hat, aber eben fundamental in Opposition zur Bundesrepublik, der Demokratie und dem Rechtsstaat stand. Dieser Haltung folgend fantasiert man sich in der rechtsextremen Szene dann in eine "Notwehrsituation", in der ein völkisches "Notwehrrecht" gegen Demokratie und reales Recht für sich reklamiert wird. Denn man wähnt sich – angelehnt an die fiktionale Erzählung des Romans "The Turner Diaries" – in einem auf Eskalation angelegten "Rassenkrieg". Und diesen Krieg müsse man in kleinen und unabhängig agierenden Untergrundgruppen führen.

Auf der Basis seines Konzepts gelingt es Quent, die Radikalisierungsprozesse des NSU in seinem politischen Nahumfeld, aber auch im Kontext des gesamtdeutschen Rechtsextremismus zu rekonstruieren und zu zeigen, dass deren Entwicklung hin zu einer "vigantilistischen Untergrundgruppe" ein schrittweiser Prozess war. Er beginnt bei einer kriminellen Jugendgruppe, die sich zunehmend rechtsextrem politisiert hat; allgemeine Kriminalität verband sich also nach und nach mit rechtsextremen Einstellungen. Hieraus gingen dann Strukturen einer "informell organisierten Untergrundgruppe (Kameradschaft)" hervor. Aus dieser heraus agierten wiederum kleine Teile zunehmend konspirativ, bevor sie sich dann vollständig in den Untergrund absetzten. Hierbei gilt es zu betonen, dass der NSU aus einem Radikalisierungsprozess hervorgegangen ist, bei dem die NSU-TerroristInnen fortlaufend zahlreiche Kontakte zu anderen RechtsextremistInnen hatten, ohne die die terroristischen Aktivitäten undenkbar waren. Sie haben zwar als rechtsterroristische Untergrundgruppe als "lone wolves" gehandelt. Sie waren aber im Unterschied zu dem, was der medial oft verwendete Begriff nahelegt, in keiner Weise isoliert, sondern weiterhin fester Bestandteil ihrer terroraffinen Szene.

Richtet man mit diesem Wissen den Blick auf die heutige Situation, dann zeigt sich, dass Rassismus in Wort und Tat wieder viel zu oft toleriert wird. Dass man wieder öffentlich mit RassistInnen redet, statt über Rassismus. Und dass sich die rechte Szene durch das zögerliche und zurückhaltende Verhalten der DemokratInnen und durch das weitgehende Ausbleiben von effektiven Repressionsmaßnahmen – die notwendig wären sowohl gegen organisierte Nazistrukturen wie gegen rassistische Mobilmachungen auf lokaler Ebene – in einem Klima der gefühlten Bestärkung befindet. Die ersten terroristischen Gruppierungen sind bereits festgenommen worden: im Mai 2015 vier Personen, die unter dem Label "Oldschool Society" terroristische Aktionen vorbereitet haben sollen; im Oktober 2015 drei Personen im Raum Bamberg, wobei unmittelbar vor dem Zugriff eine Postsendung mit Sprengstoff abgefangen worden war; im April 2016 im sächsischen Freital fünf Personen, hier erfolgte die Festnahme sogar durch die GSG 9. Und was man auch nicht vergessen darf: Der Attentäter, der im Juli 2016 die Morde in dem Münchner Einkaufszentrum begangen hat, war auch ein Rechtsextremist.

Noch ist Zeit, den rassistischen Alltagsterrorismus zu stoppen. Will man aber einen neuen NSU verhindern, dürfen die Exekutivorgane nicht mehr länger wegsehen, sondern müssen dringend handeln.

 

Info:

Prof. Dr. Samuel Salzborn ist Professor für Grundlagen der Sozialwissenschaften an der Uni Göttingen und war Sachverständiger im zweiten NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags von Baden-Württemberg. Weitere Informationen unter <link http: www.salzborn.de external-link-new-window>www.salzborn.de.


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9 Kommentare verfügbar

  • peter-paul klinger
    am 01.10.2016
    Antworten
    ich lese regelmässig kontext und begrüsse ausdrücklich die veröffentlichung des artikels "gefährlicher toleranz". der herr professor salzborn beschreibt seehr treffend die situation und die gefährlichkeit der zeit.
    seit ich in deutschland lebe (es sind mehrere jahrzehnte) beobachte ich, dass…
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