KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Praxisschock im Flüchtlingsheim

Praxisschock im Flüchtlingsheim
|

Datum:

Die Theorie ist hell, die Praxis düster: Studierende der Hochschule Esslingen haben das in einem Praxissemester in der Flüchtlingsarbeit schmerzlich erfahren. Dort würden Menschenrechte mit Füßen getreten. Zum Jahrestag von "Wir schaffen das" wollen sie mit einer Petition dagegen vorgehen. Ein ungeschminkter Praktikumsbericht.

Franziska Platzer studiert an der Hochschule Esslingen Soziale Arbeit im vierten Semester. Das obligatorische Praxissemester haben sie und ihre KommilitonInnen gerade hinter sich. Platzer war als Sozialarbeiterin in einer großen Flüchtlingsunterkunft beschäftigt. "Wir kriegen im Studium die Theorie beigebracht, aber die Praxis ist anders", sagt sie, eine stolze junge Frau von 24 Jahren, mit Idealen und Wertvorstellungen und einem Bild von Deutschland, das in den vergangenen Monaten Risse bekommen hat. Und damit ist sie nicht alleine.

"Manchmal haben wir Studierenden uns zu einer Supervision getroffen und Erfahrungen ausgetauscht", erzählt sie. "Am Anfang haben wir wenig davon berichtet, wie es uns persönlich geht, weil wir professionell sein wollten. Aber irgendwann ist bei uns allen der Knoten geplatzt, und es musste raus." Auch in die Öffentlichkeit. Unterstützt durch ihren Professor Claus Melter haben die Studentinnen und Studenten deshalb ihre Erfahrungen gebündelt und die Petition "Menschenrechtsverletzung gegenüber Geflüchteten" gestartet. Ernüchtert von den Zuständen ein Jahr nach "Wir schaffen das".

Franziska Platzer möchte nicht sagen, in welcher Einrichtung sie beschäftigt war, weil sie findet, die Trägerorganisation macht gute Arbeit. Aber selbst wenn sie wollte, dürfte sie nicht, auch ihre StudienkollegInnen dürfen keine Namen nennen, denn die sozialen Träger lassen ihre Mitarbeitenden Schweigepflicht-Klauseln unterzeichnen. Das macht es schwer, Missstände dort aufzudecken. Auch dagegen wehren sich die Studenten mit ihrer Petition, denn wer schweigt, ändert nichts an bestehenden Problemen. Die junge Frau atmet tief durch, kramt in Hunderten Eindrücken, die sie mitgenommen hat, nach einem Anfang. Sie habe die älteren SozialarbeiterInnen in der Einrichtung bewundert, weil die in vielen Berufsjahren gelernt hatten, professionell mit ihrer Arbeit umzugehen, sagt sie schließlich, den Job nicht in die Seele einsickern zu lassen. Dann erzählt sie. Ein Protokoll:

"Ich kam zum ersten Mal durch die Tür und war schockiert. Es war dreckig und beengend. Die Einrichtung der Zimmer besteht aus Spint, Tisch, Betten, Stuhl, Kühlschrank. Alles sieht verlebt aus, weil die Fluktuation hoch ist, wenn einer geht und ein anderer kommt, macht keiner hygienisch sauber. Manche versuchen die Flure sauber zu halten, alleine schon wegen der Kinder, aber bei so vielen Menschen ist das mühsam. Andere putzen eine Zeit lang, aber jedes Mal, wenn sie fertig sind, latscht irgendwer durch und es ist wieder dreckig wie zuvor. Irgendwann sind sie es dann leid. 

Die richtige Reinigung der Einrichtung übernehmen Flüchtlinge, die als Ein-Euro-Jobber putzen. Aber es gibt nur normale Putzmittel, keine, die es für die Reinigung einer solchen Einrichtung bräuchte. Und keiner zeigt ihnen, wie man professionell sauber macht. Die sanitären Anlagen sind unter aller Kanone, weil viele anders aufs Klo gehen, als wir in Deutschland. Sie hocken auf der Brille, sie sitzen nicht. Unsere Klos sind dafür einfach nicht gemacht, und es geht dementsprechend viel daneben. Die Reinigungskräfte resignieren dann irgendwann. Kann ich gut verstehen. Aber es macht eben auch kein anderer.

Einmal habe ich eine Erstaufnahmestelle besucht. Die Trennwände waren dünn wie Papier. Privatsphäre? Null. Viele Familien dürfen nicht selbst kochen, wegen Brandgefahr. Die Luft in den großen Einrichtungen ist schlecht und verbraucht, geduscht wird in Gemeinschaftsduschen. Und ja, da kann es zu Übergriffen von Männern auf Frauen kommen.

Studienkollegen haben mir erzählt, dass bei ihnen zum Beispiel heimlich fotografiert wurde. Wie schrecklich muss es sein, wenn eine Frau, die Schleier trägt, von irgendeinem fremden Typen nackt oder im Bikini beim Duschen fotografiert wird? Auch unter Flüchtlingen gibt es schwarze Schafe. Aber das liegt nicht daran, dass sie Flüchtlinge sind. Ich wurde früher im Freibad belästigt und begrabscht, ich möchte gar nicht mehr daran denken. Da waren es eben deutsche alte Säcke. Unter tausend Menschen, egal welcher Nation und Herkunft, gibt es immer eine Anzahl von Idioten. Nur bei den Flüchtlingen wird es medial hochgezogen und breitgetreten. Ich bin vorsichtig geworden mit Nachrichten. Gesicherte Information? Wer sagt das? Woher kommt die Info? 

Idioten gibt es überall – auch unter den Geflüchteten

Ich habe kein einziges Mal erlebt, dass mich einer unserer Bewohner belästigt. Die meistens sind unheimlich dankbar, dass man ihnen hilft. Auch für die kleinsten Kleinigkeiten. Aber ich habe genauso Wutausbrüche erlebt, ja klar, Flüchtlinge sind auch bloß Menschen, was erwarten wir denn von ihnen? Ständig gute Laune? Ich verstehe es gut, wenn einer sauer wird, weil wieder etwas nicht klappt. Aber es sind nicht alle Triebtäter. Es gibt nicht nur schwarz und weiß, es gibt viel dazwischen. Eine Frau hat mir zum Geburtstag einmal einen Kuchen gebacken. Ein Mann hat für uns ein Drei-Gänge-Menü auf zwei kleinen Kochplatten gekocht. Kichererbsenmus, Lahmacun mit Bulgursalat, zum Nachtisch gab es Grießklöße.

Ich habe in einem Büro gearbeitet und schon morgens bildeten sich manchmal Schlangen, wie auf einem Amt. Manche standen zwei Stunden an, kamen dann wieder und standen wieder an, weil alles nur langsam geht, weil es keine richtigen Dolmetscher gibt. Bestenfalls ehrenamtliche, meistens aber andere Flüchtlinge, die besser Englisch oder sogar Deutsch können. Aber wenn eine Frau auf der Flucht Gewalt erfahren hat, dann möchte sie es doch nicht irgendeinem Mann erzählen, der einen Stock weiter oben wohnt und vielleicht ihren Ehemann kennt. Dann erzählt sie lieber nichts. Auch wenn es um Frauenthemen geht, möchte man doch mit einer Frau sprechen. Es gibt viele, die unter Traumata leiden. Nicht nur die Frauen, auch Kinder, Männer, ganze Familien. 

Manche von ihnen kommen andauernd vorbei, warten ewig wegen Kleinigkeiten, sie wollen Nähe, Ansprache und Wärme. Das nervt natürlich, wenn man arbeiten muss und viel zu tun hat. Aber es ist verständlich, denn keiner hat Zeit für sie, keiner hat die Zeit für ein Gespräch. Alleine einen ALG-II-Antrag auszufüllen dauert ewig, vor allem, wenn man nicht dieselbe Sprache spricht.

Religiöse Werbeflyer sind verboten

In der Unterkunft haben alle möglichen Organisationen Hausverbot. Die Zeugen Jehovas lassen ihre Info-Flyer mittlerweile in Dutzenden Sprachen drucken und an Flüchtlinge verteilen. Mittlerweile ist in dieser Einrichtung das Verteilen von religiösen oder ähnlich gelagerten Werbe-Flyern und Materialien komplett verboten.

Es gibt viele Ärzte, die super sind, die mit den Menschen toll umgehen können. Aber manchmal, wenn ich in Arztpraxen angerufen habe, um einen Untersuchungstermin auszumachen, habe ich mich nicht mit dem Namen der Organisation gemeldet, weil es auch viele Ärzte gibt, die Flüchtlinge nicht behandeln. Dabei müssten sie das, diese Ärzte verstoßen gegen ihren Eid. Warum darf es das geben? Es heißt dann: Keinen Termin mehr frei oder das machen wir grundsätzlich nicht. Ich habe irgendwann angefangen zu sagen, ich rufe für eine Freundin an. Manchmal haben die Sprechstundenhilfen spitzgekriegt, was ich wollte. Dann hieß es, oh, man habe sich getäuscht, doch alles voll. Manche Ärzte und Ärztinnen drohen oft schon am Telefon, dass sie, sollte der erste Termin aus irgendwelchen Gründen nicht wahrgenommen werden, keinen zweiten mehr vereinbaren werden. Das liegt an der notorischen Unpünktlichkeit der Geflüchteten, die sind da anders als wir. Ich weiß nicht, warum es viele Menschen aus anderen Ländern so oft nicht schaffen, pünktlich zu sein, keine Ahnung, es ist ein echtes Phänomen, aber es ist eben so. Ich verstehe es, dass dann ein Terminplan in einer Praxis durcheinanderkommt. Aber es muss doch möglich sein, auch damit umzugehen. Jeder geplatzte Termin beim Arzt oder auf einem Amt bedeutet wieder wochenlanges Warten.

Die Wartelisten für einen Platz in der Schule, im Kindergarten sind ewig lang. Die Kinder sitzen in den Einrichtungen rum, lernen nichts, und warten sehnsüchtig. Bis ein Erwachsener in einen Integrationskurs darf oder einen Sprachkurs besuchen, dauert es manchmal bis zu einem halben Jahr. Wieder ein halbes Jahr warten! Eine Frau mit vierköpfiger Familie stand so oft bei mir im Büro und hat gefragt, wann sie denn nun endlich zum Integrationskurs dürfe. Es gibt von einer Flüchtlingsorganisation kostenlose Lernmaterialien. Die Familie hatte alles schon x-fach durch. Ehrenamtliche, die Deutschkurse geben, sind toll, aber sie sind kein Ersatz für Profis. Einen pensionierten Lehrer als Hilfe zu haben, ist purer Luxus. Außerdem wollen viele Ehrenamtliche keine Kinder unterrichten, weil sie laut sind und wuselig. Erwachsene sind einfacher. 

Viele wollen sich ihre Vorurteile und Ängste nicht nehmen lassen

Die Leute hier in Deutschland haben Angst. Alleine in meinem Umfeld gibt es genug, die nicht verstehen können, warum wir mit Flüchtlingen arbeiten. Die auch kein Interesse daran haben, sich ihre Vorurteile oder ihre Angst nehmen zu lassen. Sie hören überhaupt nicht zu, wenn man etwas erzählt, wollen nur ihre Wut rauslassen. Die Geflüchteten sollen wegbleiben, die sollen was schaffen gehen. Sie sagen, die Flüchtlinge sollen froh sein, dass sie hier sind, zufrieden mit dem was sie kriegen, denen geht es doch gut genug, besser als daheim!

Natürlich stimmt das. Aber wir müssen ihnen doch auch ein würdevolles Leben ermöglichen. Wir dürfen die Situation hier und die in Syrien nicht vergleichen, wir müssen Maßstäbe anlegen, die wir für Menschen haben, nicht für 'Flüchtlinge'. Das sind nämlich auch Menschen. Eine Kommilitonin befasst sich gerade viel mit der UN-Menschenrechtscharta. Darüber haben wir festgestellt, wie viele Menschenrechte hier in der Flüchtlingsarbeit missachtet werden. Wir haben ein Grundgesetz. Das wird durch den Flüchtlingsstatus ausgehebelt. Aber wenn Gesetze mit Füßen getreten werden, müssen wir uns dafür einsetzen, dass sie wieder gelten. Soziale Arbeit ist Engagement, das hat uns unser Professor beigebracht. Und er hat recht."

Die StudentInnen aus Esslingen haben einen offenen Brief an die Landesregierung verfasst und <link https: www.openpetition.de petition online menschenrechtsverletzung-gegenueber-gefluechteten _blank external-link>eine Petition ins Netz gestellt. Bisher hat sie nur 102 Unterstützer.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


10 Kommentare verfügbar

  • Gela
    am 08.09.2016
    Antworten
    Ich komme erst heute dazu, Stellung zu dem Artikel zu nehmen, der sehr persönlich die Betroffenheit der Studentin über die Verhältnisse von Flüchtlingen in Gemeinschaftsunterkünften schildert. Aber da gleich von "Menschenrechtsverletzungen " zu sprechen, wo es eben um Mißstände geht, die einerseits…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!