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Noch mehr Hungerlöhner

Noch mehr Hungerlöhner
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Ab 2017 wird es keinen Missbrauch bei Leiharbeit mehr geben. Das hat Andrea Nahles kürzlich vollmundig versprochen. Von wegen. Ihr Gesetzentwurf wird die Zahl der Niedrig- und Hungerlöhner weiter in die Höhe treiben.

Kurz vor der Bundestagswahl 2013 traut sich ein Christian Graupner in der ARD-Sondersendung "Wahlarena", der Kanzlerin das Problem zu schildern: "Ich bin seit 2003 Leiharbeiter in einem Unternehmen. Ich habe prinzipiell nichts gegen Leiharbeit in Produktionsspitzen, aber die Produktionsspitze dauert nun mittlerweile schon zehn Jahre an. Und da ist es so, dass wir von 30 bis 40 Stammbeschäftigten reden und 500 Leiharbeitern." Angela Merkel ist sichtlich überrascht. "Ein krasser Fall", sagt sie und verspricht Graupner: "Ich melde mich noch einmal bei Ihnen."

Und so funktioniert das System: Normalerweise haben Beschäftigte einen Arbeitsvertrag mit ihrer Firma. Es gelten die Tarifverträge der Branche. Um das zu umgehen, wird ein Verleiher dazwischengeschaltet, der deutlich schlechtere Löhne zahlt. Und wem das nicht billig genug ist, der schaltet noch ein Unternehmen dazwischen, mit dem ein Werkvertrag abgeschlossen wird. Ein Milliardengeschäft auf Kosten von derzeit knapp einer Million Leiharbeiter und vermutlich mindestens – genaue Zahlen gibt es nicht – so vielen Werkvertrags-Beschäftigten.

Anruf vom Kanzleramt 

Leiharbeiter Christian Graupner bekommt Wochen nach seinem Fernsehauftritt tatsächlich einen Anruf vom Kanzleramt. "Die Frau Merkel, die hat auch gesagt, dass sie das Problem erkannt haben, dass es im Koalitionsvertrag mit vereinbart ist. Und dass sie das im Frühjahr angehen wollen", berichtet Graupner. Aber welches Frühjahr, habe die CDU-Frau nicht gesagt.

Im Frühjahr nach der Wahl gibt es jedenfalls noch nicht einmal einen Referentenentwurf, denn in den Abteilungen des Ministeriums wird heftig gestritten. Die einen nehmen die Versprechungen von CDU und SPD ernst, die anderen suchen nach Lösungen für die Wirtschaft, die höchst beunruhigt ist. Ob die von Unternehmensverbänden bezahlte "Initiative für soziale Marktwirtschaft" oder Vorstände von DAX-Konzernen, alle versuchen Einfluss zu nehmen auf den Gesetzestext.

Besonders deutlich äußert sich ausgerechnet Daimler-Personalvorstand Wilfried Porth. Die ARD hatte dem Konzern ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl in einer Undercover-Dokumentation zur besten Sendezeit Dumpinglöhnen nachgewiesen. "Hungerlohn am Fließband – wie Tarife ausgehebelt werden", so der Titel der Sendung, die eine monatelange Diskussion in allen Medien auslöst. Etliche Leiharbeiter, die bei Daimler über Werkverträge arbeiten, verdienen seit Jahren so wenig, dass der Staat ihr Einkommen auf Hartz-IV-Niveau aufstocken muss, der Steuerzahler den Nobelkonzern also indirekt subventioniert. Betriebsräte melden immer häufiger Fälle von Scheinwerkverträgen. Und Betroffene versuchen ihren Status durch Klagen vor dem Arbeitsgericht zu verbessern.

Werkverträge sind seit Jahren ein beliebtes Mittel, um Dumpinglöhne durchzusetzen. Nicht nur bei Daimler, BMW oder Porsche, nicht nur in der Automobilindustrie, sondern in vielen Branchen bis hin zur Abfallwirtschaft und zur Fleischbranche. Das Prinzip ist einfach: Die regulären Arbeiter werden durch Beschäftigte einer Fremdfirma ersetzt, die viel weniger verdienen. Dafür schließen die Unternehmen mit der Fremdfirma einen Werkvertrag. Wenn das Unternehmen den Fremdarbeitern konkrete Anweisungen gibt, wenn die Neuen in den Arbeitsprozess des Auftraggebers integriert sind, dann ist es aber nur ein Scheinwerkvertrag. Und damit illegal. 

Die Folge: Die Firmen müssen den vollen Branchenlohn nachzahlen. Dazu die Sozialversicherungs-Beiträge und ein Bußgeld. Den Managern droht wegen der Beitragshinterziehung sogar Gefängnis. Theoretisch. Denn in der Praxis gibt es dafür ein Schlupfloch: Wenn man das Ganze nachträglich zur Leiharbeit erklärt und eine Erlaubnis der Bundesagentur für Arbeit zur Arbeitnehmerüberlassung vorlegt, ist das Geschäft wieder legal. Diesen Trick haben auch Vertragspartner von Daimler in Stuttgart angewandt. 

Die Lobby schlägt zu

Ausgerechnet der Mann, der im Daimler-Vorstand mit dafür verantwortlich ist, Wilfried Porth, greift jetzt zu einem altbewährten Druckmittel. Er droht mit der Verlagerung von Arbeitsplätzen. Öffentlich warnt der Daimler-Spitzenmanager davor, "dass ein weiterer Eingriff, eine weitere Reglementierung und auch eine weitere Reduzierung der Flexibilität am Ende ganze Wertschöpfungsketten gefährdet". Das war 2014.

Ein Jahr später liegt ein wässriger Referentenentwurf vor. Doch selbst der geht der Wirtschaft zu weit. Der Entwurf sei ein Großangriff auf Hunderttausende selbstständige Unternehmen. Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer fordert die Regierung zu einer grundlegenden Korrektur auf. Da knickt auch die Kanzlerin ein. Beim Deutschen Arbeitgebertag in Berlin versichert sie, die Verschärfungen würden nicht über den Koalitionsvertrag hinausgehen.

Und so legt Andrea Nahles (SPD) Anfang 2016 <link http: www.bmas.de shareddocs downloads de pdf-schwerpunkte _blank external-link>erneut einen Entwurf vor, der die Wirtschaft beruhigen soll. Doch auch der gefällt den Herren nicht. Mithilfe des Wirtschaftsrats der CDU und des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer wird weiter gepokert. Bis Andrea Nahles schließlich den "Durchbruch" verkünden darf. "Es wird in Zukunft klare Regeln geben, um den Missbrauch bei Leiharbeit und Werkverträgen zu bekämpfen", verkündet sie und zeigt sich zufrieden über die Einigung: "Wir haben klar verabredet, dass wir gleichen Lohn für gleiche Arbeit machen und da keine Schlupflöcher mehr zulassen."

Eine Meisterleistung der Lobbyarbeit und der Politpropaganda. Einige Zuarbeiter von Andrea Nahles schämen sich zwar für das Gesetzeswerk und die Lobhudelei ihrer Chefin. Doch laut will das keiner sagen. Die Botschaft ist klar: Ein Jahr vor der Wahl macht die Bundesregierung ihr Wahlkampf-Versprechen wahr und will den betroffenen Leih- und Werkvertragsbeschäftigten endlich zu ihrem Recht verhelfen.

Und tatsächlich wird das Schlupfloch für Scheinwerkverträge jetzt geschlossen. <link http: www.miese-jobs.de chroniken _blank external-link>Doch dafür gibt es ein neues. Der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler erklärt es so: Der Leiharbeitnehmer könne künftig erklären, "dass er auf alle Fälle beim Verleiher bleiben will, dass er also nicht zum Entleiher geht". Dies könne man dem Arbeiter nahelegen. Und der werde es im Zweifel auch unterschreiben, denn sonst kann er fast sicher sein, dass er seinen Job schnell wieder verliert. "Und damit ist der Mensch, der Scheinwerkverträge praktiziert, weitgehend aus dem Schneider", sagt Däubler. Im Gesetzentwurf wird die Wirksamkeit dieser Unterschrift ausdrücklich bestätigt. Ein gut beratener Arbeitgeber werde dieses Schlupfloch nutzen, so der emeritierte Juraprofessor. Als Sanktion komme dann allenfalls eine Ordnungswidrigkeit in Betracht.

Genau so sieht dies der Arbeitsrechtler Peter Schüren. Das vorgesehene Widerspruchsrecht sei "ein geschickt verpacktes Geschenk für die Nutzer von Scheinwerkverträgen", sagt der Göttinger Professor. Es wird "den Unternehmen, die mit Scheinwerkverträgen arbeiten, in Zukunft sehr viel Geld und den Führungskräften, die bisher wegen Beitragshinterziehung strafbar wurden, viel Leid ersparen".

Leiharbeit auf Dauerarbeitsplätzen 

Und es gibt eine weitere Verschlechterung. Während die meisten Landesarbeitsgerichte seither Leiharbeit auf Dauerarbeitsplätzen untersagt haben, lässt der Gesetzentwurf der Bundesregierung dies ausdrücklich zu. Selbst Pflegerinnen und Pfleger oder Klinikärzte auf Dauerarbeitsplätzen könnten damit ab 2017 als Verleihgut von einem Krankenhaus zum anderen geschoben werden. Ein Fall, den das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg mehrfach behandelt hat: "Die Quintessenz dieser Urteile war damals, dass wir im Kern gesagt haben, der Einsatz von Leiharbeitnehmern auf Dauerarbeitsplätzen ist unzulässig", berichtet Richter Achim Kühls. Die Leiharbeiter der Kliniken mussten fest angestellt werden, Krankenschwestern, Psychologen, Psychotherapeuten und Ergotherapeuten.

Nach dem neuen Gesetz würden Betriebsräte und Leiharbeiter solche Prozesse verlieren, bestätigt Wolfgang Däubler: "Es ist möglich, dass dann auf demselben Dauerarbeitsplatz ausschließlich Leiharbeitnehmer eingesetzt werden. Man muss nur spätestens nach 18 Monaten einen Wechsel vornehmen." Nach einer Pause von drei Monaten könne sogar der ursprüngliche Leiharbeiter wiederkommen. Das könnte auch ein Unternehmen des gleichen Konzerns sein. Einfach hin und her – ein Arbeitsleben lang. 

Christian Graupner, der Leiharbeiter, der die Kanzlerin 2013 auf das Thema aufmerksam gemacht hatte, ist heute enttäuscht. Da seien "noch viele Schlupflöcher offen, wo man am Ende bloß das Personalkarussell drehen wird", sagt der IG-Metaller, der das gleiche Parteibuch hat wie Arbeitsministerin Andrea Nahles. Auch seine Hoffnung, dass Leiharbeiter nach einer gewissen Zeit eine festen Arbeitsvertrag bekommen müssten, kann er jetzt begraben.

Wenn sich im Gesetzgebungsverfahren im Herbst nichts ändert, wird das Geschäft mit der verliehenen Arbeitskraft ab 2017 noch einfacher und noch lukrativer. Und die Zahl der prekarisierten Arbeiter und Angestellten wird weiter steigen.


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10 Kommentare verfügbar

  • Fritz
    am 23.08.2016
    Antworten
    Kommentarregel Nr. 2:

    "Es bellen mit besonderer Vorliebe getretene Hunde."
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