KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Keine Tür in die Türkei

Keine Tür in die Türkei
|

Datum:

Keine Klarnamen, keine klaren Fotos: Nur so sind manche Türkinnen und Türken, die sich laizistisch, europäisch und demokratisch verstehen, bereit zu reden. Sie seien eine Minderheit in der Minderheit, sagen sie in der Kontext-Redaktion und betonen, dass sie in das "Willkürland" nicht zurückkehren wollen. Die Angst ist zu groß.

Nach dem Putsch bin ich bei meinen Recherchen in der türkischen Community immer wieder der Angst begegnet. Der Angst, Erdoğan zu kritisieren. Der Angst um Verwandte oder vor türkischen Nachbarn. Machen Sie sich Sorgen?

Erdal: In meinem kleinen Dorf lebt ein Nachbar, der die türkische Flagge auf dem Auto hat und ein schreiend großes Bild von Erdoğan. Ich habe keine Angst, aber auch keine Lust, in sinnlose Auseinandersetzungen mit einem Erdoğan-Hooligan zu geraten. Deshalb möchte ich anonym bleiben.

Özlem: Nach dem Putsch hatte ich ein seltsames Gefühl. Das Gefühl, etwas verloren zu haben. Meine Jugend und die Freiheit, wählen zu können, ob ich in der Türkei oder hier in Deutschland leben will. Ich verurteile den Putsch. Aber wenn ich heute Erdoğan kritisiere, werde ich in die Putschistenecke gestellt.

Deniz: Als 14-Jährige hatte ich Angst, dass ich als Alevitin verfolgt werde. Ich träumte immer denselben Traum: Ich renne durch Treppenhäuser und klopfe überall an und keiner macht mir auf. Seit ich in Deutschland lebe, ist dieser Traum verschwunden. Natürlich mache ich mir Sorgen um meine Mutter und meine Schwester. Vergangene Woche saßen beide in einem Cafe in Istanbul. Da kamen Jungs vorbei, die sagten: "Nutten, ihr werdet auch bald dran sein."

Doruk: Die Polizei stoppt Leute auf der Straße und schaut, was sie auf Whatsapp geschrieben haben. Meine Tante hat sich bei mir entschuldigt: "Ich habe meine ganze Whatsapp-Vergangenheit gelöscht und leider auch die Fotos von deinem Sohn, sorry." Jeder von uns hier am Tisch verurteilt den Putschversuch. Aber mit den sogenannten Säuberungen kam auch die Angst. Ich sehe wenig Hoffnung für die Türkei. Was zuletzt passiert ist, ist lediglich etwas on top. Seit Jahren geht es mit der Rechtsstaatlichkeit bergab. Jetzt hat Erdoğan alles in der Hand, die Medien, das Militär, die Justiz, die Politik. Die Türkei ist für mich ein Willkürland.

Am Sonntag war die große Türken-Demo in Köln. Der Kölner Kabarettist Jürgen Becker hat es so zugespitzt: "Ich gönne den Türken die Meinungsfreiheit und das Demonstrationsrecht. Auch wenn sie dafür demonstrieren, dass die Meinungsfreiheit und das Demonstrationsrecht in der Türkei eingeschränkt werden. Diese Absurdität muss man aushalten." Was hat das bei Ihnen ausgelöst?

Erdal: Die Bilder haben bei mir ein Gefühl von Fremdschämen ausgelöst …

Özlem: Ja, weil sich alles um Erdoğan dreht und nirgendwo der Wunsch nach Demokratie und Menschenrechten auftaucht. Ich bin froh, dass die Demo friedlich zu Ende gegangen ist.

Erdal: Der Kabarettist hat recht, das muss man aushalten. In gewisser Weise stellt die Türkei für uns liberale Türken, die wir hier in Deutschland eine Minderheit in der Minderheit sind, und für ganz Europa eine ähnliche Herausforderung dar wie der Mörder Breivik für die Norweger. Der hat viele Menschen getötet und fordert nun menschliche Haftbedingungen für sich. Seit Jahren passiert Schlimmes in der Türkei, es gibt Korruptionsvorwürfe gegen AKP-Minister, Verfolgung von Erdoğan-Kritikern, Einschränkung der Pressefreiheit, Anschläge nicht nur in Ankara, auch auf Kurdendemos mit vielen Toten. Und es gibt keine Aufarbeitung, nichts, man geht schweigend zur Tagesordnung über. So kann sich nichts verändern in der Türkei, und sie bleibt eine dieser Pseudo-Demokratien, die in der Nachkriegszeit entstanden sind.

Die großen Rating-Agenturen haben das Land schon heruntergestuft. Wird der drohende wirtschaftliche Abstieg negative Folgen für Erdoğan haben?

Doruk: Erdoğan wird nur gehen, wenn die Wirtschaft in der Türkei völlig kollabiert, denn letztlich wählen ihn viele, die von seiner Gunst profitiert haben. Aber ob mit einem Niedergang der Wirtschaft ausreichend Druck auf Erdoğan aufgebaut wird, wage ich zu bezweifeln.

Özlem: Ich kenne Firmen, die für 2017 keine Projekte mehr starten in der Türkei. Das ist sicher ein Druckmittel.

Erdal: Das glaube ich nicht. Erst vor wenigen Tagen hatte ich eine Schulung zum Thema Risikomanagement. Dann schlägt man halt einen Risikozuschlag drauf. Die Wirtschaft ist flexibel.

Erdoğan hat die Abwertung jedenfalls als Angriff auf die Türkei gesehen.

Doruk: Erdoğan kultiviert diese Opferrolle. Er ist das Opfer vom Militär, von Europa, von Deutschland, von Satire.

Erdal: Diese nachhaltige Opferrolle bringt ihm die laute Unterstützung seiner Anhänger, die sich auch ungerecht behandelt fühlen. Die Ausländer sind gegen uns, empört man sich in der Türkei.

Özlem: Ich möchte es jedenfalls niemandem in Europa wünschen, dass Erdoğan noch 20 Jahre im Amt bleibt.

Bei den Protesten zum Gezi-Park waren die Opfer andere. Welche Hoffnungen haben Sie mit den landesweiten Protesten von 2013 verbunden?

Özlem: Mich hat das an Stuttgart 21 erinnert und ich habe auf einen politischen Wechsel gehofft. Die Menschen gingen auf die Straße, um für Bäume, für eine lebenswerte Stadt zu kämpfen. Endlich ging es nicht um die Dinge, die uns Türken spalten, um das Kopftuch oder um die Religion. Es ging um die Menschen, um Natur, um ein gutes Zusammenleben.

Erdal: Egal ob Kurde, Alevite, oder Muslim, damals wollten die Menschen gemeinsam etwas bewegen. Doch diese Hoffnung hat Erdoğan brutal niedergeschlagen. Das war für mich wie ein Putsch. Auch das wurde nie aufgearbeitet. Niemand redet über die Wahrheit. Und irgendwann kommt der Punkt, wo alle schweigen.

Doruk: Nach den Protesten wurde die Kurdenpartei HDP zu einer Art Sammelbecken wie die Grünen hier. Für Liberale, Linke, für Feministinnen, für Armenier, Homosexuelle, für die Armen, für Minderheiten eben. Das war eine politische Chance. In Stuttgart gab es nach dem Wasserwerfer-Einsatz mit vielen verletzten Demonstranten Prozesse gegen die Verantwortlichen. In der Türkei hatte das alles keine juristischen oder politischen Konsequenzen. Es gibt keine Gewaltenteilung dort und deshalb auch keine Gerechtigkeit.

Die HDP wurde als Kurdenpartei gegründet. Wie weit spielt der Konflikt mit den Kurden eine Rolle in der türkischen Politik? Eine Ausrede für Repressionen oder eine wirkliche Gefahr?

Erdal: Auch ich habe mit der HDP Hoffnungen verbunden. Sie hat bei der Wahl 2014 viel mehr als die üblichen sieben Prozent Kurden-Stimmen bekommen, mehr als 13 Prozent. Das waren die, die auf einen demokratischen Aufbruch gehofft hatten. Doch dann ließ Erdoğan eben nochmal wählen, bis es ihm gepasst hat und er hat die Friedensverhandlungen mit den Kurden abgebrochen. Die machen sicher auch Fehler und sind, wie sagt man, auch nicht die hellsten Kerzen auf der Torte.

Özlem: Die Kurden haben auch nationalistische Tendenzen.

Erdal: Ja, aber Erdoğans Botschaft an sie lautet: Wir wollen euch nicht. Kennt ihr den bitteren Witz? Ein Türke und ein Kurde warten auf ihre Hinrichtung. Der Kurde sagt auf die Frage nach seinem letzten Wunsch: Ich will meine Mutter sehen. Der Türke: Ich will, dass der Kurde seine Mutter nicht sieht.

Özlem: Während meiner Schulzeit wurde kein Wort über Kurden verloren und keiner meiner Klassenkameraden hat sich als Kurde zu erkennen gegeben. Ich habe erst an der Uni wahrgenommen, dass es Kurden in der Türkei gibt.

Sie sind alle vor vielen Jahren in Deutschland angekommen. Haben Sie noch einen Fuß in der alten Heimat?

Doruk: Erdoğan hat es geschafft, die türkische Gesellschaft zu segregieren. Auch hier in Deutschland. Ich lebe in meiner kleinen Welt hier mit Leuten, die liberal denken. Es gibt keine Berührungspunkte mit AKP-Anhängern. Ich war sehr idealistisch, als ich nach Deutschland kam, um meine Doktorarbeit zu schreiben. Ich wollte als Akademiker zurück in die Türkei und mein Wissen weitergeben. Seit dem Putsch habe ich diesen Wunsch endgültig aufgegeben.

Özlem: Ich wollte immer in beiden Welten zu Hause sein. Jetzt habe ich gemerkt, dass ich nicht nur halb, sondern ganz in Deutschland ankommen muss. Auf den Straßen sieht man nur noch Erdoğan-Anhänger. Die haben das Gefühl, sie seien die Gewinner sind und dürften alles machen, auch Frauen bedrohen, die ihrer Meinung nach nicht züchtig angezogen sind. Ich sehe heute keine Tür mehr für mich in die Türkei.

Erdal: Ich habe einen deutschen Pass und stehe mit beiden Beinen in Deutschland. Meine Tochter spricht auch Türkisch und ich koche ihr türkisches Essen. Aber mit dieser Türkei habe ich nichts am Hut.

Deniz: Seit Anfang des Jahres chatte ich auf Whatsapp mit meinen ehemaligen Mitschülern. Seit dem Putsch haben sich 18 aus unserer Gruppe verabschiedet und die Themen haben sich verändert. Heute reden wir über Krebs. 


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


6 Kommentare verfügbar

  • Akra Maldekstra
    am 08.08.2016
    Antworten
    Ist dies nun ein Machtkampf zwischen den Beiden Bewegungen und ihrer Führer? Deutschland ist aufgrund der grossen "Türkischen Gemeinde" anscheinend für beide Führer ein wichtiges Terrain, weshalb beide möglichst viele auf ihre Seite zu ziehen versuchen. Der Islam wird anscheinend von beiden…
Kommentare anzeigen  

Neue Antwort auf Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!