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Voller Zorn und voller Scham

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Jetzt soll es eine Mediatorin richten. Die Brüdergemeinde in Korntal hat eine Fachkraft gefunden, die den festgefahrenen Karren wieder flottmachen soll. Bis dahin ist weiter Stillstand, unter dem die ehemaligen Heimkinder leiden.

Veronika Unfried ist Korntalerin, engagiert in der Opferhilfe und seit den Unsäglichkeiten in der Brüdergemeinde so etwas wie der Schutzschild für ihre Freundin. Seit Jahrzehnten kennen sich die beiden Frauen. Erst als die Vorwürfe des seelischen und körperlichen Missbrauchs vor zwei Jahren öffentlich wurden, hat die Freundin von ihren eigenen Erfahrungen im Korntaler Kinderheim berichtet. Von den Demütigungen, der Kälte, der Gewalt. Von den vielen Therapien bis in die Gegenwart, um mit der Vergangenheit klarzukommen. Für Veronika Unfried war es die Erklärung für manche Verhaltensweisen der Freundin, "einer starken Frau, eine Kämpferin, aber eine hochkomplexe Persönlichkeit".

Nur der Therapeut und Veronika Unfried wissen von deren Vergangenheit im Korntaler Kinderheim. Voller Misstrauen sei die Freundin, voller Zorn und zugleich voller Scham. "Aber schämen sollten sich doch die anderen, die Verantwortlichen", sagt Unfried.

Eigentlich wollte die Freundin zu diesem Gespräch dazukommen, endlich reden, sich nicht nur der Veronika öffnen, aus der Anonymität treten. In letzter Minute hat sie der Mut verlassen. Zu sehr wühlt es sie auf, das nun schon zweijährige Tauziehen, die Gesprächsangebote der verantwortlichen Brüder, die ihr in E-Mails versprochen, die aber nie Wirklichkeit wurden. "Das ist wie früher in Korntal", schreibt sie in einer Mail, "außer leeren Versprechungen ist nichts gewesen." Die Freundin hat hier keinen Namen, sie will anonym bleiben. Aber sie gibt nicht auf.

Und sie hat Vertrauen zu Veronika Unfried. Sie darf ihre Mail weiterleiten, ohne Absender. Sie darf für sie sprechen, so wie sie ihrerseits auch ihr berichtet von den Treffen der Opferhilfe. Zu denen geht sie alleine hin, als engagiert Korntalerin, aber auch als Stellvertreterin. Sie will ihre Freundin schützen und unterstützen.

"Außer leeren Versprechungen nichts gewesen"

Veronika Unfried sitzt auf ihrer Terrasse mit Blick auf Korntal, rote Zehennägel, wache Augen, 74 Jahre alt, luftiger Sommerrock, Zigarettenspitze, "weil das gesünder ist", aufhören will sie nicht, der Mann raucht auch, sie lacht. Seit ihrer Kindheit lebt sie in Korntal, heute in dem Haus, in dem schon Hermann Hesse gewohnt hat, mit dem Türmchen, ein Kindheitstraum, der vor zehn Jahren Wirklichkeit geworden ist. Und erst, als Detlev Zander mit seiner Millionenklage gegen die Brüdergemeinde die Korntaler aufschreckte, hat sie vom Leid der ehemaligen Heimkinder direkt vor ihrer Haustür erfahren. "Ich wusste von nichts", sagt Unfried. Das hat sie beschämt.

Und manchmal hat sie ein schlechtes Gewissen, weil es ihr so gut ging, als sie klein war, und manchen Kindern in den Korntaler Kinderheimen so schlecht. Weil sie eine glückliche Kindheit hatte, und andere mit einer so drückenden Last ins Leben starten mussten, einer Hypothek, die viele von ihnen bis heute abzahlen. Weil sie als langjährige, leidenschaftliche Grundschullehrerin weiß, was Kinder brauchen: Aufmerksamkeit, Liebe, Zuwendung.

"Der Hauptpunkt von Korntal sind für mich die unendlichen Demütigungen, Missachtung und Nichtbeachtung, das 'Nichtsehen' der Kinder. Du kennst ja als Mutter, wie das wichtig ist für die Kinder, dass sie den 'Glanz im Auge der Mutter' erfahren.Aber wenn ich an die 'Schwarzen Raben' (= schwarz gekleidete Diakonissen) im Kleinen Kinderheim denke, erinnere ich da nur Dunkles, Ungeduldiges und 'Schwarzes' in ihren Augen. Der seelische Missbrauch ist schon unerträglich. Wie schlimm ist dann erst der körperliche??!!!", schreibt die Freundin ihrer Mail.

Fünf Jahre saß Veronika Unfried für die SPD im Korntaler Gemeinderat, seit Jahrzehnten trifft sie sich mit ihrer Frauengruppe, ist aktiv im BUND, bei den Freunden der Stadtbibliothek, und alle drei Woche übernimmt sie eine Nachtschicht bei der S-21-Mahnwache am Stuttgarter Hauptbahnhof. Sie singt im Chor der örtlichen Musikschule und stellt immer wieder fest, dass viele Korntaler am liebsten nicht wissen wollen, was dort in den Kinderheimen in ihrer Nachbarschaft geschehen ist.

Sie will es wissen. Sie will Klarheit, will, dass jeder Täter zur Verantwortung gezogen, das Leid der Opfer anerkannt wird, sie entschädigt werden. Als Peter Meincke, der Leiter der Korntaler Musikschule, die Opferhilfe gründete, einen Zusammenschluss von Korntaler BürgerInnen, der für Aufklärung kämpft, war sie mit dabei – als Korntaler Bürgerin und als Freundin. "Es muss jetzt endlich weitergehen, die Brüdergemeinde muss sich rühren", sagt sie und schaut hinunter auf ihre Heimatstadt, "das ist wichtig für Korntal und für die betroffenen Heimkinder." Die Zeit des Wegsehens ist vorbei. Doch seit vier Monaten bewegt sich nichts in Korntal. Stillstand, mal wieder. Die erste Runde der Aufarbeitung ist im Februar dieses Jahres gründlich gescheitert.

"Du kannst Frau Stiefel gerne sagen, dass die Ehemaligen unbeschreiblich leiden unter dem Verhalten der Brüdergemeinde. Es ist feige und verantwortungslos, verlogen und rücksichtslos, demütigend und sogar erniedrigend. Durch Totschweigen!!! werden die Probleme nicht!!! bewältigt. Alle Opferverbände kümmern sich um die Opfer bzw. Opfergeschichten und -Schicksale. Nur nicht die Brüdergemeinde", schreibt die Freundin.

Traumatisierte Heimkinder agieren nicht immer freundlich

Ein Jahr lang hatte eine Steuerungsgruppe unter der Leitung der Landshuter Professorin Mechthild Wolff daran gearbeitet. Detlev Zander gehörte zu der sogenannten Steuerungsgruppe, als einer der Vertreter der Heimkinder, Klaus Andersen als Vorsteher der Brüdergemeinde. Nach einem Jahr waren die Betroffenen untereinander heillos zerstritten. Mechthild Wolff hatte viel für die Wissenschaft getan, aber die sich immer heftiger zoffenden Heimkinder sich selbst überlassen. Am Ende hatte sie deren Vertrauen verspielt, ihr Vertrag mit der Brüdergemeinde kam nicht zustande.

Zwei Jahre nachdem die Vorwürfe öffentlich wurden, fängt man jetzt wieder bei null an. Keine Entschädigung, kein Konzept, Streit. Immerhin hat die Brüdergemeinde inzwischen akzeptiert, dass sie in einer Bringschuld ist: Andersen sprach öffentlich von der Täterorganisation. Dahinter kann die Brüdergemeinde nicht zurück.

Zu viel Wissenschaft, zu wenig Bemühen um die traumatisierten Heimkinder. "Das lag wohl bei Frau Wolff nicht in den richtigen Händen", sagt Veronika Unfried. Sie hat inzwischen viele persönliche Tragödien gehört. Sie weiß, dass diese traumatisierten Menschen nicht immer freundlich agieren. Dass sie zornig sind, weil sie endlich gerecht behandelt werden wollen, sprunghaft, weil sie ein tiefes Misstrauen haben, nicht nur gegenüber den Tätern, gegenüber allen Menschen. Und sie wollen nicht mehr nett sein, sie wollen nicht mehr gefallen. "Genau das ist das Lernthema in meiner Therapie: dass ich lerne, mir einen Gefallen zu tun, nicht anderen", schreibt die Freundin. Gefallen wollen, auch wenn es Prügel gab – das war der Schlüssel fürs Überleben in den Kinderheimen.

"Es gibt keine zwei gleichen Missbrauchserfahrungen und auch keine zwei gleichen Umgehensweisen der Betroffenen. Manche leiden nachhaltiger. Andere kommen mit ihrem Leben zurecht", sagte der ehemalige Stuttgarter Prälat Martin Klumpp vor einem Jahr im Interview mit Kontext. Auch Veronika Unfried hat eine Patentochter, die mit zwölf Jahren ins Korntaler Heim kam und ein fröhlicher Mensch geworden ist. "Aber es ist doch schlimm, dass ausgerechnet die Schwächsten lieblos behandelt wurden", sagt Unfried. Die als kleines Kind ins Heim kamen, wie ihre Freundin, die niemanden hatten, dem sie sich anvertrauen konnten.

Eine Mediatorin soll den Stillstand beenden

Nur selten kommt die Freundin noch nach Korntal. Schon die Fahrt dorthin ist für die Frau belastend. Doch sie stellt sich ihrer Angst immer wieder, will sich nicht unterkriegen lassen, betrachtet es als "Selbsttherapiemaßnahme". Ihr schwer verdientes Geld ist in die Psychotherapie geflossen, ab einer bestimmten Stundenzahl zahlt die Kasse nicht mehr.

"Es gibt Zeiten, da kannst du nicht mehr reden. Da liegst du auf der Couch und bist nur noch stumm. Schlimm war ja nicht nur die eigene Gewalterfahrung – sondern!!! auch das Miterleben und Zusehenmüssen, wie anderen Kindern Gewalt angetan wurde. Dazu kam immer das Gefühl der Schande und der Beschämung = sich schämen, einfach nur, weil es einen gibt", schreibt die Freundin.

Die Verantwortlichen führen ein gemütliches Rentnerdasein, während sie lebenslänglich leidet. Es ist eine Achterbahn zwischen Zorn und Hoffnung.

Jetzt rührt sich wieder etwas in Korntal. Die Brüdergemeinde hat sich auf die Suche nach einer Mediatorin gemacht und ist mithilfe von Johannes-Wilhelm Rörig, dem Bundesbeauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs, fündig geworden. Vorgeschlagen hat er Elisabeth Rohr, lange Jahre tätig als Professorin für interkulturelle Erziehung am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Marburg. Elisabeth Rohr hat mehr als 25 Jahren Erfahrung als Gruppenanalytikerin und Supervisorin.

Gemeinsam mit ihrem Kollegen Gerhart Bauz hat die Mediatorin mit den zerstrittenen Opfergruppen vor wenigen Tagen Kontakt aufgenommen und Sondierungsgespräche angeboten. Erste Reaktionen zeigen bereits, dass der Job nicht einfach sein wird. Die Aufarbeitung kann nur gelingen, wenn die Brüdergemeinde dazu bereit ist. Und wenn sich die betroffenen Heimkinder darauf besinnen, dass sie nur gemeinsam erfolgreich für Gerechtigkeit, Anerkennung und Entschädigung kämpfen können.

Veronika Unfried sitzt im Schatten ihrer Terrasse, nippt an ihrem Espresso, schaut über die Korntaler Dächer in den Sommerhimmel. Sie wünscht der Mediatorin starke Nerven, Empathie und Erfolg.


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15 Kommentare verfügbar

  • Ulrich Scheuffele
    am 18.07.2016
    Antworten
    Liebe Angelika,

    zum dem Thema AfD sollte man wissen, dass einer der führenden AfDler im Landkreis Ludwigsburg auch im Brüdergemeinderat in Korntal sitzt.
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