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Pflegefall Pflege

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Die Pflege ist in der Krise. Marcus Jogerst kämpft mit seinem Heim im badischen Renchen seit zehn Jahren dafür, dass gute Pflege möglich wird. Dieser Kampf ist wichtiger denn je.

Marcus Jogerst ist 17 Jahre alt, als er das erste Mal mit seinem Pragmatismus aneckt. Und nicht nachgibt. In einer schwülen Augustnacht – er macht damals eine Ausbildung zum Krankenpfleger – steht die Luft wie eine warme, wabernde Wand auf den Stationen. Jogerst hat Dienst. Drückt Wagen durch die Flure, trägt Tabletts, steigt Treppen, eilt von Zimmer zu Zimmer. Längst ist sein Kittel schweißnass.

Morgens um vier, kurz vor Ende der Nachtschicht, muss er bei einem Patienten einen zentralen Zugang verbinden, durch den Nährlösung bis an den Vorhof des Herzens geführt wird. Dieser Zugang muss steril bleiben, frei von Keimen. Um jeden Preis. Ohne lange zu überlegen, zieht er sich eine kurze Hose an und bindet sich ein Schweißtuch um die Stirn. Als die leitende Schwester ihn sieht, ist sie entsetzt. Ob er die Kleiderordnung nicht kenne?

Doch Jogerst fühlt sich im Recht. Er ruft den leitenden Krankenhaushygieniker an und schildert ihm den Fall. Ziehen Sie das Ding halt an, sagt der Mann. Also verbindet Jogerst den Zugang in kurzer Hose und mit Stirnband. Kein Schweiß tropft, der Zugang bleibt steril. Aber mit seiner Chefin hat er es sich ab da verscherzt. Von nun an herrscht Krieg auf der Station.

Jogerst geht viel feiern, um sich abzulenken. Am Ende büffelt er wochenlang, um die Ausbildung doch noch zu beenden – und wechselt danach in die Altenpflege. Es ist Mitte der 90er-Jahre, Jogerst ist eine von ganz wenigen ausgebildeten Fachkräften. Er will etwas verändern. Bequeme Möbel für die Bewohnerinnen und Bewohner, die nach dem Abendessen alle auf ihre Zimmer verschwinden – abgelehnt. Ein Begegnungszimmer, weil die Bewohnerinnen und Bewohner in einem nahe gelegenen Waldstück miteinander schlafen und er abends die Tannennadeln aus den Unterhosen holen muss – abgelehnt. Kolleginnen und Kollegen machen Stimmung gegen ihn. Seine Vorgesetzten nehmen ihm die Wohnbereichsleitung weg und versuchen ihn davon abzuhalten, sich zum Qualitätsmanager fortzubilden. Jogerst kann nicht mehr.

Im Jahr 2004 wagt er den großen Sprung, nimmt mit nur 28 Jahren einen Kredit über 4,5 Millionen Euro auf und baut ein Pflege- und Altenheim für 50 Bewohnerinnen und Bewohner. In Renchen, auf halbem Weg zwischen Karlsruhe und Freiburg. Sein eigener Herr sein. Endlich. Jogerst ahnt nicht, auf was er sich einlässt.

Ein Vormittag im Seniorenhaus Renchen, gut zehn Jahre später. Jogerst führt seinen Besucher über die Stationen, begrüßt die Bewohnerinnen und Bewohner, wischt hier ein wenig Speichel aus dem Mundwinkel, hält dort ein Schwätzchen. Alle kennt er mit Namen. In einer Wohnküche kochen die Bewohnerinnen und Bewohner gemeinsam mit den Hauswirtschaftskräften Knödel, andere blättern in der Zeitung, auf der Dachterrasse scheint die Sonne. In Renchen leben die Seniorinnen und Senioren in Hausgemeinschaften zusammen, Zwölfer-WGs, in denen es in manchen Momenten so herzlich zugeht wie in einer Familie. Jede Einheit hat ein Wohnzimmer mit Sofa, Sesseln, Fernseher, Stereoanlage, Büchern und Zeitschriften – echte Möbel. Sie sind vielleicht nicht keimfrei und müssen häufiger ausgetauscht werden, aber sie sind gemütlich.

Abends wird zusammen gekocht, die Bewohnerinnen und Bewohner essen dann gemeinsam mit den Pflegekräften. Was auf den Tisch kommt, können sie mitentscheiden, manchmal kaufen sie die Zutaten sogar selbst ein, auf dem Wochenmarkt nebenan. Noch später sitzen einige der Bewohnerinnen und Bewohner dann bei einem Glas Saft oder Wein zusammen und lesen.

Klar: Das Selberkochen ist um einiges teurer als geliefertes Kantinenessen. Rund fünf Euro pro Kopf und Tag hat Jogerst veranschlagt, als er das letzte Mal geschaut hat. Das war im Oktober 2009. Seitdem rechnet er nicht mehr nach. Pflegekonzerne versorgen die Alten teilweise mit zwei Euro pro Tag. Da ist dann alles drin. Frühstück, Mittagessen, Abendbrot, Getränke. Alles. Man ahnt, wie dieser Großküchenfraß schmeckt. Im besten Fall nach nichts.

Seit 25 Jahren kämpft Jogerst für eine bessere Pflege

Jogerst legt Wert darauf, seine Bewohnerinnen und Bewohner als eigenständige Menschen zu behandeln. Lieber etwas schiefgehen lassen, als sie andauernd zu bevormunden. Lieber mal jemandem mit schief zugeknöpftem Hemd herumlaufen lassen, als ihn zu behandeln wie ein unselbständiges Kind. Mehr Alltag und weniger Pflegeheim, lieber weniger Perfektion und mehr Herzlichkeit. 

Seit 25 Jahren kämpft Jogerst für bessere Pflege. Gegen unsinnige Vorschriften und illegale 24-Stunden-Pflegekräfte aus Osteuropa, schlechte Pflegeberatung, die Laienpflege daheim, gegen Pflegekassen und Sozialhilfeträger – und für eine professionelle Pflege, die sich an Menschen orientiert und nicht daran, wie man das meiste Geld aus den Patienten pressen kann.

Wer Jogerst begleitet, erlebt wie in einem Brennglas gebündelt die Probleme der deutschen Altenpflege, wo billig mehr zählt als Qualität. Wo draufzahlt, wer gut pflegt. "Das System ist völlig aus dem Ruder gelaufen", sagt Marcus Jogerst. "Es ist menschenverachtend." Und das Schlimme: Das sei ja alles bekannt. Seit Jahren ist klar, wie miserabel es in der Pflege zugeht. Wie wenig Deutschland im internationalen Vergleich in die Pflege investiert – und wie überlastet die Pflegekräfte sind.

In den Jahren nach der Eröffnung findet Jogerst kaum geeignete Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter. Immer wieder kommt es vor, dass seine Pflegekräfte – ausgebildet in traditionellen Heimen – die Regeln nicht verstehen, die in Renchen gelten. "Viele sind stolz, wenn sie an einem Vormittag zehn Leute gewaschen haben." Satt und sauber und Schluss. So geht es in den meisten Heimen zu. Von den 25 MitarbeiterInnen und Mitarbeitern, die Jogerst 2006 eingestellt hat, sind noch zwei bei ihm.

Ganz anders Agnes Dobrasiewicz, seine Pflegedienstleiterin. Einst hat sie in einem Caritas-Heim gearbeitet. Um 17 Uhr gab es dort Abendessen, eine gute Stunde später waren die Bewohnerinnen und Bewohner im Bett. "Wenn ich im Sommer um 20 Uhr nach Hause gegangen bin, hat draußen noch das Leben getobt. Und die lagen schon im Bett", sagt Dobrasiewicz. Sie kündigt – und gelangt durch einen Zufall in das Seniorenhaus Renchen.

An einem Donnerstag, kurz nachdem sie ihre Stelle angetreten hat, wird sie krank. Auch den Freitag lässt sie sich krankschreiben. Aber abends ruft eine Freundin an und fragt, ob sie mit ihr auf das Offenburger Weinfest komme. Angeheitert gehen die beiden irgendwann auf die Toilette. Plötzlich steht sie vor Marcus Jogerst. Der weiß, dass sie krankgemeldet ist und am nächsten Morgen um 7 Uhr Dienst hat.

"Ach, da haben Sie aber eine kurze Nacht", sagt er süffisant. Wie peinlich ihr das ist. Und wie dankbar, dass Jogerst trotzdem zu ihr hält. Vielleicht ist das der Grund, dass sie nun durchstartet und sich zur Pflegedienstleiterin fortbilden lässt. Bei der mündlichen Abschlussprüfung hält Dobrasiewicz den besten Vortrag des Abends, vor einem Saal von Heimleiterinnen und Heimleitern. Jogerst ist auch da. Und ist so gerührt, dass ihm Tränen in die Augen schießen.

Viele Pflegekräfte leiden unter Schlafstörungen

Eine Pflegerin oder ein Pfleger verdient heute meist keine 2500 Euro brutto im Monat, arbeitet körperlich aber oft schwerer als Bauarbeiterin und Bauarbeiter. Pflegekräfte haben häufiger Schlafstörungen als der Durchschnitt der Bevölkerung. Fast die Hälfte aller Altenpflegerinnen und Altenpfleger arbeiten in Schichten. Viele leiden unter psychischen Problemen. Obwohl die Branche dringend mehr Pflegekräfte benötigt, steigt das Gehalt nur langsam. Weil das Geld fehlt. Politik und Pflegekassen haben ein festes Budget. Damit muss die Pflege auskommen. Also müssen die Heime immer geringer qualifizierte Pflegerinnen und Pfleger sowie Pflegehelferinnen und Pflegehelfer einstellen, die immer mehr Bewohnerinnen und Bewohner betreuen müssen – und zwar immer intensiver, weil es heute mehr Demenz gibt, mehr Härtefälle, mehr Vorschriften. Kein Wunder, dass die Krankenstände in kaum einer Berufsgruppe höher sind als unter Altenpflegerinnen und Altenpflegern und sie im Schnitt nach gut acht Jahren die Pflege verlassen. "Wir brauchen 30 Prozent mehr Personal in der Pflege", sagt Marcus Jogerst. "Sonst bricht das System bald auseinander."

2011 eröffnet Marcus Jogerst ein zweites Pflegeheim, die Villa Auguste, ebenfalls in Renchen. Ein helles Haus, drei Etagen mit je zwölf Betten, ausgelegt für Demenzkranke, damals noch eines der wenigen Häuser dieser Art in Deutschland. Die Eingangspforte zieht die Bewohnerinnen und Bewohner mit Demenz vom ersten Tag wie magisch an. In einem fort gehen sie dorthin. Die Straße ist kaum befahren, aber auf der anderen Seite fließt die Rench. Das Ufer fällt steil ab hinunter zum Fluss, es gibt kein Geländer.

Jogersts Lösung: Er versieht die Pforte mit einem Codeschloss und hängt die Zahlenfolge daneben. So können alle kommen und gehen – bis auf die Dementen. Zusätzlich lässt Jogerst einen roten Alarmknopf daneben anbauen, falls eine Bewohnerin oder ein Bewohner unbedingt hinauswill. Dazu gibt es – ein wenig versteckt – einen Nebenausgang ohne Schloss. Eine pragmatische Lösung. Der Amtsrichter segnet die Konstruktion ab – Jogersts Heim gilt weiter als nicht geschlossene Einrichtung. Doch dann wird der Richter krank.

"Eines Tages kommt sein Vertreter vorbei und sagt: 'Sie wissen, dass sie hier jeden Tag mit einem Bein im Gefängnis stehen?'", erzählt Jogerst. Weil das hier eine geschlossene Unterbringung sei. Freiheitsentzug in 36 Fällen. Jogerst hat schlaflose Nächte. Monatelang argumentiert er für seine Lösung. Schaltet Renchens Bürgermeister ein. Den Rechtsbeistand der Stadt. Alle Angehörigen und rechtlichen Betreuerinnen und Betreuer sind mit dem Codeschloss einverstanden, nur der Richter nicht. Auch die Angehörigen will er verklagen. Anderthalb Jahre dauert der Streit. Dann wird der alte Richter wieder gesund. Und der Konflikt löst sich auf wie eine Fata Morgana.

Immer unter Generalverdacht

Dieser Fall sei symptomatisch, sagt Jogerst. Er ist wütend auf all jene, die den Status quo verwalten, anstatt das System zu verbessern. Auf die Pflegekassen, die Sozialhilfeträger, die Politik. "Es geht nur noch um den Machterhalt derjenigen, die das Geld verteilen", sagt Jogerst. Jedes Mal, wenn die Gefahr besteht, dass zu viele Probleme an die Öffentlichkeit durchbrechen, kommt eine neue Behörde, eine neue Regel, die den Deckel noch fester draufpresst auf den brodelnden Topf. In einem fort ändern sich die Vorschriften in der Pflege. Wo lagere ich welche Dokumente? Wie dokumentiere ich Essen und Trinken? Welche Standards gibt es? Bei wem und wie beantrage ich einen neuen Rollstuhl?

Pfleger, sagt Jogerst, stehen unter Generalverdacht. Heimaufsicht, Medizinischer Dienst der Krankenversicherung, Pflegekasse, Sozialhilfeträger, Gesundheitsamt. Und während die Bürokratie über die Jahre immer mehr wird, gibt es weder mehr Geld noch mehr Personal. Auch die Bauvorschriften ändern sich regelmäßig. Aktuell sind die Zimmer in der Villa Auguste zu eng, in einem fünf Jahre alten Heim. Muss Jogerst es jetzt umbauen? Bei den schwer dementen Bewohnerinnen und Bewohnern im dritten Stock hat Jogerst ein Bett in den Essbereich stellen lassen, damit auch die Schwächsten mal aus ihrem Zimmer kommen. Ein Bett im Essbereich? Nicht erlaubt. "Na und?", sagt Jogerst. "Es zählt doch, dass die Senioren so lange wie möglich fit bleiben." In seinem Heim gebe es derzeit niemanden, der bettlägerig sei. "Wenn ich, um das zu erreichen, Regeln brechen muss, dann ist das eben so", sagt Jogerst.

Sein erstes Seniorenhaus feiert in diesem Sommer seinen zehnten Geburtstag. Von allen Seiten erntet Jogerst Anerkennung. Erst vor wenigen Wochen hat ihn der Stadtrat überschwänglich gelobt. Aber Geld verdienen? "Ich wache morgens mit vier Millionen Euro Schulden auf und gehe abends mit vier Millionen Euro Schulden ins Bett", sagt er. Eine Pommesbude hätte sich besser gerechnet.

Menschenwürdige Pflege wäre finanzierbar

Die Pflege leidet seit Jahren daran, dass die Pflegekräfte ausgepresst werden. Von der Politik. Vom Renditestreben der großen Betreiber. Lange haben die Pflegerinnen und Pfleger still gehalten. In den vergangenen Jahren fingen sie an, sich zu wehren. "Pflege am Boden" heißt eine Bewegung, in der sich auch Marcus Jogerst engagiert. Regelmäßig legen sich Pflegerinnen und Pfleger gemeinsam mit Angehörigen auf zentralen Plätzen hin, um auf ihre Überforderung aufmerksam zu machen. Auch in Facebook-Gruppen finden sich die Pflegekräfte zu Tausenden zusammen. Und an der Berliner Charité war vor Kurzem zum ersten Mal ein Streik erfolgreich, in dem Pflegekröfte nicht mehr Gehalt forderten, sondern mehr Personal. So sehr drückt die Arbeitslast.

Jogerst hat Demonstrationen in Renchen und Achern organisiert, an die Landessozialministerin in Baden-Württemberg geschrieben und an Finanzminister Wolfgang Schäuble. In Berlin hat er sich mit dem Pflegebeauftragten der Bundesregierung getroffen. Er will endlich mehr Geld für die professionelle Pflege. Bislang erfolglos. Aber er will weiter kämpfen. Er will, dass er sein Heim so betreiben kann, wie er es tut – ohne sich und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auszubeuten. Alle Heime sollten so arbeiten können. Mit Ruhe. Mit leckerem Essen. Mit guten Ideen. Mit einer menschenwürdigen Pflege der alten Menschen. Das wäre finanzierbar. Die Politikerinnen und Politiker müssten es nur wollen.

 

Der Autor ist Senior Reporter des gemeinnützigen Recherchezentrums correctiv.org und hat ein Buch über Marcus Jogerst und den Kampf um gute Pflege geschrieben. "Jeder pflegt allein: Wie es in deutschen Heimen wirklich zugeht" kann unter shop.correctiv.org bestellt werden. Informationen über alle deutschen Pflegeheime gibt es <link https: correctiv.org recherchen pflege wegweiser _blank external-link>unter diesem Link.


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7 Kommentare verfügbar

  • Gela
    am 04.07.2016
    Antworten
    Wie schön, daß Kontext immer wieder Beispiele von nachahmenswerter Eigeninitiative findet! Es ist ja nicht nur so, daß es an Geld im Pflege- und anderen sozialen Bereichen fehlt. Es fehlt auch an Mut und an den Möglichkeiten, bürokratische Hürden zu überwinden. Zu sagen " Lieber etwas schiefgehen…
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