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An einem sicheren Ort

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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Ein ganz anderes Leben im Waldhorn in Meßstetten. Statt der NPD sind junge Flüchtlinge eingezogen und mit ihnen eine Zukunft, die Hoffnung verspricht. Ein Ortsbesuch.

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Hussein saugt sein Zimmer mit einer Inbrunst, als gelte es, sich mitten ins Herz der Meßstettener Hausfrauen zu arbeiten. An seine Tür hat er in holprigen Buchstaben geschrieben, dass der Zutritt nur in Socken erlaubt ist. Ein Bild von ihm gebe es nur mit Staubsauger, bedeutet er dem Fotografen, als müsste dieser Augenblick für immer festgehalten werden. Der 13-jährige Junge hat eine mehrwöchige Flucht hinter sich, weg vom syrischen Afrin, über die Türkei, Griechenland, den Balkan bis nach Meßstetten, wo er zum ersten Mal ein eigenes Zimmer hat. In einem frisch herausgeputzten Haus, im ersten Stock, in dem ein Schild die "Care-Woche" anmahnt.

Seit Mai lebt Hussein im Waldhorn, in der sich einst Rechte und Linke, Rocker und Liebhaber großer Schnitzel getroffen haben und zuletzt, wie mehrfach berichtet, die NPD eine Heimstatt finden wollte. Der Tresen, von dem aus Hektoliter Bier ausgeschenkt wurden, steht noch, nur der Zapfhahn ist weg. Statt des Gläserarsenals blinkt ein kleiner Pokal vor der Wand, den Hussein gemeinsam mit Isam, Mohamed, Reda, Omar, Mohamad, Ali, Ismael und Sadegh gewonnen hat. Beim Fußballturnier des Diasporahauses Bietenhausen, dem neuen Eigentümer des Waldhorns. Die karitative Einrichtung vertritt eine "Pädagogik des sicheren Orts", in Meßstetten soll er es für die neun unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (UMF) sein, wie sie im Amtsdeutsch heißen.

Isam ist auch ein UMF. Der 14-Jährige kommt aus Qamischli, einer 200 000-Einwohner-Stadt im Nordosten Syriens, wo er in einer Dönerbude gearbeitet hat. Sein Vater hat Schuhe geflickt. Für die Schule war nur wenig Zeit, sagt er, was bedeutet, dass er Lesen und Schreiben erst lernen muss. Das wenige, was er erzählen kann, ist, dass er mit 2050 Euro losgelaufen und mit einem 100-Lira-Schein angekommen ist. Ihn hält er hoch, zerknittertes Papier, wenige Cent wert, wenn überhaupt, der letzte Gegenstand aus der Heimat. Sein Kreuz, das er um den Hals getragen hat, habe er auf der Flucht verloren, berichtet er. Isam ist Christ.

Am Computer zeichnen die Kinder, zusammen mit Sozialpädagogin Sabina Seifert, ihren Weg von Syrien nach Deutschland nach. Schwarz, grün, blau gestrichelt, Linien, die nur verraten, durch welche Länder sie gegangen sind und wie lange der Weg war. Schon mit den Namen der Länder tun sie sich schwer, mit den Entfernungen ebenfalls. Der Rechner sagt, es seien mindestens 3000 Kilometer gewesen. Im Treppenhaus ist Europa an die Wand gemalt, mit Pinseln ziehen sie die Konturen nach.

Was auf dem langen Marsch passiert ist, vermögen sie nicht zu erzählen, was nicht nur eine Frage der Sprachkenntnisse ist. Sie wollen ihnen zwei Monate Zeit geben, betont Wohngruppenleiterin Isabelle Engler, bis sie so weit seien, darüber zu erzählen. Wie es bei ihnen zu Hause aussah, warum ausgerechnet sie, wer ist geblieben und unter welchen Umständen? Sie sind zwischen 13 und 17 Jahre alt. Manchmal wie kleine Kinder, sagen sie im Waldhorn. Hussein, der Jüngste, gibt das Handy, außer beim Staubsaugen, nicht aus der Hand. Via Google Earth blickt er auf seine Heimatstadt Afrin. "Bombs", sagt er und deutet auf die Rauchschwaden über dem Ort.

Immerhin: Mittels Telekommunikation haben sie Kontakt zu ihren Familien. So weit den BetreuerInnen bekannt, leben Eltern und Geschwister noch. Ihre mobil übermittelten Bilder hängen an den Wänden der Zimmer, demnächst sollen sie auch noch Rahmen dafür kriegen. Alles vorsichtige Versuche, sich an die Schutzbefohlenen heranzutasten, die ihrerseits ganz vorsichtig um die Tische gehen, sich erst daran gewöhnen müssen, dass hier eine Frau der Chef ist, die zusammen mit Gruppenleiter Oliver Sauter über den Tagesplan wacht.

Über Frühstück ( ab 6 Uhr), Hausaufgaben (14 Uhr) Abendessen (ab 18.30 Uhr) und Bettgehzeit (je nach Alter). Wenn sie das Haus verlässt, warnt der kleine Hussein: Pass auf dich auf. Dasselbe geht retour, wenn sie sich auf den Weg in ihre Schulen in Meßstetten und Albstadt machen.

Die Wohngruppe Waldhorn ist ein empfindliches Gebilde. Auch Gerhard Jauß, der Direktor des Diasporahaus Bietenhausen, ist sich dessen bewusst – und ist das Risiko eingegangen. Er hat den Streit um die in Verruf geratene Kneipe genau verfolgt, den Kampf mit der NPD, die aus dem Waldhorn ihre Landeszentrale machen wollte, das Geeiere von Stadt und Landkreis, die das Objekt nicht übernehmen wollten. Jauß hat gekauft, wohl wissend, dass das politische Klima auf der Schwäbischen Alb ein raues ist. Zuletzt, bei den Landtagswahlen, haben 18 Prozent der Meßstettener für die AfD gestimmt.

Wer die fünf syrischen und vier afghanischen Jungs heute erlebt, vermag die Sinnhaftigkeit des Unternehmens zu begreifen. Hussein über Rechenaufgaben, Isam über den Flaggen der europäischen Fußballnationen, Bilder und Buchstaben mit den Fingern aufsaugend – "das ist der Hammer, wie die lernen", sagt Holger Reisewitz. Als technischer Leiter ist er eigentlich eher für Strom, Wasser und Gas zuständig. Und demnächst für die Fahrräder, deren Nutzung nur mit Führerschein erlaubt sein wird.

Beeindruckt ist jetzt auch noch ein anderer: Günther-Martin Pauli. Der Balinger Landrat zeigt sich "sehr dankbar" gegenüber dem Diasporahaus. Auch er hat mit jungen Syrern, Afghanen und Irakern gesprochen und zu ahnen begonnen, wie tief die Verletzungen sind, die Ängste um die Familie und davor, was noch kommt. "Wir können uns nicht vorstellen", sagt der CDU-Politiker, "was in ihren Köpfen vor sich geht". In seinem Landkreis leben 60 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Umso froher ist er über das Diasporahaus, den "starken Partner", mit dessen Engagement die Nutzung des Waldhorn nun doch noch eine "glückliche Wendung" genommen habe.


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