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Ins Hotel mit Hirtenbrief

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Autowaschen an Sonn- und Feiertagen ist verboten. Aber gesprengt werden darf schon, wenn die Deutsche Bahn es will. Eigentlich müssten die Kirchen dagegen protestieren. Aber sie tun es nicht. Als Trostpflaster bietet die Bahn Hotels über Pfingsten an.

Als "nicht gesundheitsgefährdend, aber doch erheblich belästigend" kündigt die DB-Projektgesellschaft Stuttgart–Ulm (PSU) die Bauarbeiten an, die an der Augsburger Straße an mehreren Wochenenden im Mai und im Juni für einen Höllenlärm sorgen werden: Auf Höhe des Imwegs soll eines Tages der Tunnel enden, der vom Hauptbahnhof ins Neckartal führt. Für die Bauzeit müssen dort temporäre Brücken entstehen, deren Pfeiler mit schwerem Gerät in den Boden gerammt werden. Und zwar nachts, an Wochenenden. Denn der Verkehr muss dabei ruhen auf allen Gleisen zwischen Bad Cannstatt und Esslingen.

Solche Arbeiten hat es 2013 schon einmal gegeben, im benachbarten Untertürkheim. Den Erfahrungen von damals – als wütende Anwohner die Baustelle enterten und die Arbeiten zum Erliegen brachten – ist das Angebot geschuldet, das die Bauherrin Bahn diesmal großräumig den Anwohnern des Imwegs unterbreitet. Alle, die wollen, dürfen umziehen ins Hotel, jetzt an Pfingsten, wenn die Arbeiten starten, und an allen folgenden Wochenenden bis Mitte Juni. Dann soll's erledigt sein mit dem Rammen.

Bischof Fürst belässt es bei frommen Worten

Proteste lärmgeplagter Anwohner gibt's in den Stuttgarter Neckarvororten schon seit Jahren, auch im Stadtteil Wangen, wo Sprengungen für Lärm und Erschütterungen sorgen. Auch sonntags und an Feiertagen, 2014 sogar am Totensonntag und am Volkstrauertag. Eine Anwohner-Initiative wandte sich deshalb im Januar 2015 hilfesuchend an die (Landes-)Bischöfe der beiden großen christlichen Kirchen. Und Gebhard Fürst, der Katholik, stellte sich sogleich den Bittstellern an die Seite, schickte seinen Hirtenbrief "Der Sonntag ist uns heilig!" nach Wangen und zitierte in seiner Antwort sogar das Grundgesetz, Artikel 140: "Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt."

Der fromme Mann hätte gleich noch Artikel 5 der baden-württembergischen Verfassung zitieren können, wonach diese Bestimmung des Grundgesetzes Bestandteil der Landesverfassung ist, also von den Behörden des Landes zu beachten ist. Und im Gesetz über die Sonntage und Feiertage (Feiertagsgesetz – FTG) heißt es eindeutig, dass an den Sonntagen und den gesetzlichen Feiertagen öffentlich bemerkbare Arbeiten, die geeignet sind, die Ruhe des Tages zu beeinträchtigen, verboten sind. Nur in besonderen Ausnahmefällen können die Ortspolizeibehörden von dieser Vorschrift befreien, und das Innenministerium kann aus wichtigem Grund allgemeine Ausnahmen zulassen, doch sind davor die zuständigen kirchlichen Stellen zu hören.

So sieht es auch das Eisenbahn-Bundesamt, das klar Position bezieht: "Es gilt, dass die Vorhabenträgerin die Regelungen des Sonn- und Feiertagsgesetzes beachten muss. Da es sich bei diesem Gesetz um ein Landesgesetz handelt, ist das Eisenbahn-Bundesamt allerdings nicht die für seinen Vollzug zuständige Behörde. Die Überwachung der Einhaltung dieser gesetzlichen Regeln liegt beim Amt für öffentliche Ordnung der Landeshauptstadt Stuttgart."

Die klare Rechtslage zum Schutz der Sonn- und Feiertage schert aber die Bahn und die Behörden im Land nicht. Und die christlichen Kirchen, deren Rechte geschützt werden sollen, offenbar auch nicht besonders. Im Gegenteil beruft sich die Bahn darauf, das Eisenbahn-Bundesamt habe mit seiner Planfeststellung grünes Licht dafür gegeben, dass es die nächsten Jahre keine Sonntagsruhe mehr in der Feinstaubhauptstadt Stuttgart gibt. Darüber hinaus lägen jeweils für die ausführenden Firmen Genehmigungen nach dem Arbeitszeitgesetz vor. Einer Ausnahmegenehmigung nach dem Feiertagsgesetz bedürfe es daher nicht. Im Gegensatz zu früheren Stellungnahmen behauptet die Bahn jetzt allerdings nicht mehr, ihre innerbetriebliche "Betra" (Betriebs- und Bauanweisung) befreie sie vom Feiertagsgesetz.

Die Ansicht der Bahn teilt auch die Stadt Stuttgart, die die Einhaltung des Sonntagsfriedens zu prüfen hätte: "Die Planfeststellung hebelt die Sozialvorschriften nicht aus, begründet aber – bei unaufschiebbaren Arbeiten wie zum Beispiel dem Tunnelbau – die Ausnahmen vom grundsätzlichen Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit." Und das Regierungspräsidium Stuttgart als Aufsichtsbehörde setzt in völligem Widerspruch zum Eisenbahn-Bundesamt gleich noch eins drauf, in bestem Behördendeutsch. Wir zitieren deshalb wörtlich aus der Antwort auf unsere Anfrage: "Evtl. haben Sie die Aussage der LHS (Landeshauptstadt) dahingehend verstanden, dass der Planfeststellungsbeschluss ausdrücklich von den Vorschriften des FTG befreie. Dies hat die LHS so aber nicht gesagt, sondern auf die Konzentrationswirkung eines Planfeststellungsbeschlusses hingewiesen (der etwaige Genehmigungen nach Feiertagsgesetz mit umfasst, ohne dass diese explizit erteilt werden müssen). Ergänzend hat die LHS darauf verwiesen, dass das Arbeitszeitgesetz das FTG überlagert, d. h. dass Genehmigungen nach dem FTG ggfs. schon deshalb entbehrlich sind, weil Arbeiten über das Arbeitszeitgesetz genehmigt sind."

Derweil hält sich das Stuttgarter Innenministerium vornehm zurück. Erst auf mehrfache Nachfragen erhielten wir die Antwort: "Sie dürfen versichert sein, dass Sie bei uns falsch sind. Das IM hat für die laufenden Bauarbeiten bei S 21 keine allgemeine Ausnahme vom Sonn- und Feiertagsgesetz zugelassen."

Die Kirchen halten still, wenn es um Stuttgart 21 geht

Fakt ist freilich, dass die Stadt Stuttgart als Ortspolizeibehörde weder von der Einhaltung des Gesetzes eine Befreiung erteilt noch das Innenministerium eine allgemeine Ausnahme zugelassen hat und auch die kirchlichen Stellen nicht gehört wurden. Und so könnte es an Pfingsten erneut – wie an einem Sonntag im Januar 2015 in Untertürkheim – geschehen, dass ein Geistlicher die von der Bahn beauftragten Arbeiter bitten muss, die Arbeiten einzustellen, damit er seinen Gottesdienst abhalten kann. Und das trotz der uns von der Bahn gegebenen Zusicherung: "Zunächst einmal möchten wir allerdings unterstreichen, dass wir als Vorhabenträger stets darum bemüht sind, die Auswirkungen der Baumaßnahmen für die Bürgerinnen und Bürger so gering als möglich zu halten. Dazu gehört selbstverständlich auch, dass die Bauunternehmen bei ihren Arbeiten an Sonn- und Feiertagen die Zeiten und Orte der Hauptgottesdienste besonders berücksichtigen."

Laute Proteste der beiden Landeskirchen müssen die Projektbetreiber weiterhin nicht befürchten. Anders als sonst, wenn es um die Genehmigung von sonntäglichen Fußballspielen, Flohmärkten und Tanzveranstaltungen geht, halten beide Kirchen still, wenn es um Stuttgart 21 geht. Mehr als Hirtenbriefe verschicken ist nicht: "Die Kirchen haben uns gegenüber bislang keine Beschwerden gegen die Bautätigkeit für S 21 erhoben", teilt die für die Kontrolle der Sonntagsruhe zuständige Landeshauptstadt auf Kontext-Anfrage mit.

Dazu passt auch die Antwort der katholischen Diözese Rottenburg-Stuttgart auf den Hilferuf aus Wangen vom März 2015: "Die Nachfrage hat ergeben, dass sich die Kirchengemeinde Christophorus in Wangen durch den Tunnelbau während der Eucharistiefeier nicht gestört fühlt. Es heißt dort, eher störe die direkt hinter der Kirche fahrende Straßenbahn, die indes mit dem Tunnelbau nicht in Verbindung steht." Und tröstlich für die lärmgeplagten Anwohner ergänzt die Diözese ungefragt in Bezug auf die bei S 21 tätigen Mineure und Bauarbeiter: "Die Beschäftigten dürfen zudem laut Arbeitgeber, wenn sie es wollen, samstags die Sonntagsvorabendmesse besuchen."

Ja, die Mineure, die liegen den Kirchen am Herzen. Denn tatsächlich gibt es, seit an Stuttgart 21 gebaut wird, keine Tunneltaufe, bei der nicht auch Pfarrer der Sache ihren Segen geben.

Dabei wäre die Rechtslage so sonnenklar, wenn sich die Kirchen mit der Bahn anlegen würden. So hat das Oberlandesgericht Stuttgart unter anderem entschieden, dass die Veranstaltung eines allgemein zugänglichen Privatmarkts gegen das Arbeitsverbot an Sonn- und Feiertagen verstoße, ebenso das Betreiben einer Videothek zu einer nicht unerheblichen Störung der Sonn- und Feiertagsruhe führe, der Aufbau eines Kinderkarussells gegen das Verbot der Feiertagsarbeit verstoße und auch der Betrieb einer automatischen Waschanlage auf dem Gelände des Flughafens Stuttgarts nicht zu den ausnahmsweise erlaubten Arbeiten gehöre. Selbst das Waschen eines Fahrzeugs von Hand unterliege dem Tatbestandsmerkmal der Arbeit im Feiertagsgesetz. Ja, sogar: "Wer es durch Bereitstellen der Waschanlage und der Geräte ermöglicht, dass Autofahrer an Sonn- und Feiertagen ihre Fahrzeuge gegen Entgelt selbst waschen können, beteiligt sich zumindest an deren rechtswidriger Tat."

Die Ruhe suchenden Anwohner werden alleingelassen

Versuche betroffener Bürger, die Stadt Stuttgart als zuständige Behörde nach dem Feiertagsgesetz zum Einschreiten gegen sonntägliche Arbeiten zu bewegen, scheiterten bisher sämtlich daran, dass die Stadt die Auffassung vertritt, der Planfeststellungsbeschluss des Eisenbahn-Bundesamtes berechtige zu Arbeiten auch an Sonn- und Feiertagen, jedenfalls aber die Genehmigungen für die ausführenden Firmen, ihre Arbeiter an Sonn- und Feiertagen einzusetzen. Absurd, denn das Eisenbahn-Bundesamt vertritt das Gegenteil, hält sich aber zum Einschreiten nicht für befugt.

Dazwischen werden die Ruhe suchenden Betroffenen in Obertürkheim alleingelassen. Ob sie vor Pfingsten noch in einem Eilverfahren gerichtliche Hilfe gegen verbotene Arbeiten in Anspruch nehmen und rechtzeitig erhalten werden, erscheint da fraglich. Ebenso, ob die massiven Beschwerden der Bewohner des Nordbahnhofviertels wegen ununterbrochener Lkw-Fahrten mit überhöhter Geschwindigkeit auch an Sonn- und Feiertagen durch das Wohngebiet Erfolg haben werden, obwohl die Lkws, vor allem Betonmischer, diese Straßen nach der Planfeststellung überhaupt nicht benutzen dürften, sondern die Baulogistikstraße nehmen müssten.

Und so ist abzusehen, dass auch die uns zugegangenen Hinweise folgenlos bleiben werden, wonach am Sonntag, 21. 2. 2016, gegen 12.30 Uhr im Bereich des Wagenburgtunnels Arbeiten durchgeführt wurden, die zu übel riechenden Staubwolken führten, genauso wie Arbeiten am selben Ort am Sonntag, 3. 4. 2016, gegen 9.51 Uhr, und Sprengungen am Sonntag, 10. 4. 2016, gegen 7.55 Uhr, und am Sonntag, 8. 5. 2016, gegen 9.38 Uhr. Wegen Arbeiten an dieser Stelle am 26. 4. 2016 hat die Bürgerbeauftragte der Stadt Stuttgart dem Sprecher der Betroffenen im Kernerviertel, Frank Schweizer, gar mitgeteilt, alles werde überwacht und optimiert. Weniger optimiert waren wohl die Arbeiten am Untertürkheimer Bahnhof ausgerechnet am diesjährigen Karfreitag, die bis in die Weinberge zu hören waren.

Somit wird man zwar sonntags kein Kinderkarussell am Wagenburgtunnel aufbauen dürfen, dafür aber folgenlos Sprengungen durchführen können.


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20 Kommentare verfügbar

  • Kuno Klecksel
    am 17.05.2016
    Antworten
    Guten Tag ,

    in einer Bau und Betriebsanweisung sind die betrieblichen Besonderheiten während der Bauarbeiten geregelt wie wann welche Zugfahrten durchzuführen sind und welche Gleise zu sperren sind .

    Eine Betra setzt niemals das Feiertagsgesetz außer Kraft und regelt auch keine gesetzlichen…
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