KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Mit Erdoğan in Vesperweiler

Mit Erdoğan in Vesperweiler
|

Datum:

Mit 29 Kilo Manuskripten über den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und ein paar Klamotten im Koffer hat die Journalistin Çiğdem Akyol vor drei Wochen ihre Wohnung in Istanbul verlassen. Sie ist vor den täglichen Terrorwarnungen und ihrer Schreibblockade geflüchtet. Ihr Ziel: der Schwarzwald. Ihre Mission: die erste deutsche Erdoğan-Biografie.

Çiğdem Akyol saß manchmal an ihrem Schreibtisch in Vesperweiler und winkte Erdoğan zu – auf ihrem Bildschirm. Recep Tayyip Erdoğan, Ministerpräsident der Türkei. Dem Mann, mit dem sie sich seit eineinhalb Jahren intensiv beschäftigt. An dessen Fersen sie sich geheftet hat. Dessen Lebensstationen sie bereist hat. Den sie aber nie persönlich getroffen hat. "Ich habe diesen Mann verfolgt, jemanden, den ich nicht kenne. Das ist schon ein bisschen verrückt", sagt sie.

Die 37-Jährige Deutsche, deren Eltern aus den türkischen Kurdengebieten kommen, ist Journalistin, Neugierige. Am 12. April soll ihre Biografie über den hochumstrittenen Politiker im Herder-Verlag erscheinen. Über den Mann, der sein Land in die EU bringen will. Über den Mann, der in seinem eigenen Land Journalisten schikanieren und ins Gefängnis werfen lässt, sobald sie ihn kritisieren. "Dieser Mann liefert mir jeden Tag News, das ist wie in einer Telenovela", sagt Akyol über Erdoğan.

Das Schicksal regierungskritischer Kollegen in den vergangenen Wochen habe sie wütend und nervös gemacht. Auch in ihrem Postfach landen seit dem ersten Buch "Generation Erdoğan" Drohungen von seinen Anhängern, einer hat ihr Bilder von seinen Waffen geschickt. Hinzu kam, dass im November Terrorwarnungen das öffentliche Leben in Istanbul gelähmt haben, wie sie erzählt. Sie wohnt wenige Meter vom Taksim-Platz und Gezi-Park entfernt, wo an kritischen Tagen alles abgesperrt wird, um Demonstrationen zu verhindern.

Erdoğans Geschichte ist in Deutschland noch nicht erzählt worden

An einem Samstag Mitte November tippte Akyol eine E-Mail an eine Kollegin in Stuttgart: "In Istanbul ist einfach zu viel los, dazu diese ständigen Terrorwarnungen. Ich brauche einen Rückzugsort, die Deadline rückt nahe. Am besten ein Ort im Wald, Natur, Ruhe. Weißt du etwas?" Die Kollegin wusste etwas: Sie vermittelte Akyol an Annette Rieger, ebenfalls Journalistin, die in Vesperweiler bei Freudenstadt lebt. "Ich musste für einen Moment raus aus der Türkei, um sachliche und professionelle Distanz zu wahren", sagt Akyol.

Vesperweiler, rund 240 Einwohner, mit dem Kulturdenkmal Mönchhof-Sägemühle. Die Ortsstraße windet sich in Schlaufen den Berg hinauf, bis sie im Wald verschwindet. Zu Hause in Istanbul sieht sie von ihrem Schreibtisch aus die Möwen auf den gegenüberliegenden Hausdächern sitzen. Vor dem Fenster ihrer Schreibstube im Schwarzwald ranken sich die winterdürren Blätter einer Weinrebe. Der Blick öffnet sich über ein kleines Tal hinweg auf die Kirche des nahe gelegenen Nachbarorts Lützenhardt. Auf einem Teller klebt der Wachsrest einer bis zum Ertrinken niedergebrannten Kerze. Hier kann Çiğdem Akyol wieder schreiben. Sie arbeitet die Nächte durch, bis vier Uhr morgens, um mit Erdoğan fertig zu werden.

Wenn sie schon im Schwarzwald ist, will sie auch was davon haben. Akyol schlingt sich einen dicken roten Schal um den Hals, klemmt ihre schwarzen langen Haare mit einer Klammer am Hinterkopf zusammen und spaziert los. Zeit, über ihr Projekt zu sprechen. Warum eine Erdoğan-Biografie? Warum über jemanden schreiben, der niemanden an sich ranlässt? Aus urjournalistischen Gründen: Für Çiğdem Akyol war es eine Lücke, dass Erdoğans Geschichte in Deutschland noch nicht erzählt worden ist.

29 Kilo Information – so viel hat sie über Erdoğan zusammengetragen. Sie hat in Archiven gestöbert, nachgelesen, was in den 70er-, 80er-, 90er-Jahren über ihn geschrieben wurde. Sie hat die knapp zehn Biografien durchgearbeitet, die es in der Türkei gibt. "Die sind von Leuten geschrieben, die ihn vergöttern oder hassen, die Quellen sind tendenziös." Sie hat unzählige Wahlkampfveranstaltungen von ihm besucht. Sie hat an seinem Geburtsort recherchiert, "ärmlich, fromm-sunnitisch", und an seinen politischen Stationen. "Ich habe Wegbegleiter getroffen", sagt sie. "Es war enorm schwierig, an die ranzukommen."

Ihre unzähligen Anfragen an die Regierung seien bislang nicht beantwortet worden. "Journalismus ist ein harter Job in der Türkei, überhaupt nicht vergleichbar mit der Situation in Deutschland", sagt sie.

Kritiker warfen Akyol schon bei der Rezension ihres Buches "Generation Erdoğan" vor, sie habe nur Erdoğan-Kritiker gehört. "In der idealen Welt hätte ich den Protagonisten getroffen, klar", sagt sie. Aber Recherche in der Türkei funktioniere anders als in Deutschland. "Man ruft da nicht an und fragt Statements ab oder vereinbart ein Interview."

Der Türkei-Experte Burak Çopur von der Universität Duisburg-Essen, Institut für Turkistik, bestätigt das. "Es ist generell sehr schwer, an solche Autokraten ranzukommen, die misstrauen fast jedem. Wahrscheinlich sogar ihren engsten Mitarbeitern." Was seine politische Strategie und persönlichen Machtinteressen angehe, beherrsche er die Manipulationstechniken wie kein anderer Staatschef, so Çopur. "Seine Bauernschläue und Gerissenheit überfordern selbst erfahrene westliche Regierungschefs." Seine Geheimagenda, meint Çopur, würde Erdoğan mit einer kritischen Journalistin aber sowieso nicht teilen.

Ein Menschenfänger mit schillerndem Charakter

Trotzdem hat es Çiğdem Akyol geschafft, sich Erdoğan als Person zu nähern. Sie beschreibt ihn als schillernden Charakter, als Menschenfänger mit Charisma, als politisches Naturtalent. Für seine Anhänger sei er gottgleich, der Meister. Für Akyol ist er abgedriftet ins Autoritäre, in Größenwahn. "Er hat sich verloren in dieser Gier nach Macht." Er habe in der Türkei ein autoritäres Präsidialsystem aufgebaut.

"Wegen all der Terrorwarnungen in Istanbul konnte ich beim Schreiben das Gute, was er anfangs gemacht hat, nicht mehr sehen." Er habe eine bis vor Kurzem nie dagewesene Stabilität ins Land gebracht, mit seiner Partei AKP ein Sozialsystem mit Pflegegeld eingeführt, die Renten erhöht und stabile Wasser- und Stromversorgung in weiten Teilen des Landes etabliert. "Aber er macht es mir nicht leicht." An viele ihrer Sätze über Erdoğan schließt sich ein Aber an. Denn der Preis für diese Stabilität ist hoch. "Es gab noch keinen Ministerpräsidenten, der so sehr die Pressefreiheit beschnitten hat." Außerdem sei die Justiz unterwandert. Immer mehr Grundrechte würden beschnitten. 

Über Çiğdem Akyol fegt der Wind rau durch die hochgewachsenen Tannenwipfel. Er wirft ein paar Zapfen von den Bäumen auf den Weg. Der gefrorene Waldboden knackt unter den Füßen. "Es war das Beste, hier herzukommen", sagt Akyol. Der Wald sei für sie schon immer Ruhepol gewesen, in ihrer Heimat in Herne und überall dort, wo sie auf der Welt schon war: zum Studium in Russland, mit Journalismus-Stipendien im Libanon und in China, zur Arbeit im Kongo und in der Türkei, wo sie als freie Journalistin arbeitet.

Akyol ist beim Schreiben um Nüchternheit bemüht. "Er ist ein Protagonist", sagt sie, wie sie als Journalistin schon viele Protagonisten in ihren Geschichten hatte. "Ich habe da keine Emotionalität." Und doch verlangt ihr die Analyse der türkischen Politik und Gesellschaft einiges ab. Denn Çiğdem Akyol ist Teil der Geschichte. Durch ihre Arbeit als Auslandskorrespondentin in Istanbul ist sie in den vergangenen zwei Jahren mitten hineingeraten in das politische Geschehen und die Schikanen gegenüber der kritischen Presse. Und sie hat kurdische Wurzeln – ihre Eltern sind in den 70er-Jahren aus dem Südosten der Türkei ins Ruhrgebiet ausgewandert.

Die Kurden seien ein wichtiges Thema im Buch, sagt Akyol. Erdoğan habe den Friedensprozess zunächst vorangebracht. "Aber er hat alles verraten, als die AKP die Wahlen verloren hat. Weil Macht halt wichtiger ist als Versöhnung." Wut und Enttäuschung klingen an. Wenn nicht am Schreibtisch, dann eben im Wald.

"Es wird immer schlimmer"

Ihre Recherche hat sie der Türkei näher gebracht, auch wenn sie zum Schreiben von dort weg musste. Sie habe Verständnis dafür entwickelt, warum die Türken Erdoğan wählen. Er geriere sich als einer, der von ganz unten in der Gesellschaft kommt ("Was inzwischen Unsinn ist, wenn man seinen Palast anschaut"), aber das komme an. "Es nervt mich, dass auf den AKP-Anhängern rumgehackt wird – sie seien so dumm wie Schafe." Sie hätten gute Gründe, warum sie die AKP unterstützten. So wie sie gute Gründe hat, als Journalistin die aktuellen politischen Entwicklung in der Türkei zu missbilligen.

Es sei angesichts der vergangenen Jahre zum Reflex geworden, die Türkei unter Erdoğan negativ zu beurteilen. Deshalb habe sie ihre Position überprüft und mit vielen Leuten gesprochen, die sie für ihr politisch-analytisches Denken schätze. "Auch die sagen: Es wird immer schlimmer." Die aktuelle Nachrichtenlage bestärkt diesen Eindruck. Innerhalb weniger Tage wurden zwei regierungskritische Journalisten wegen vermeintlicher Terrorverstrickungen ins Gefängnis gebracht, ein prokurdischer Anwalt angeblich zufällig auf der Straße getötet und ein russischer Kampfjet über Syrien von der Türkei abgeschossen.

Die Türkei werde Erdoğan weiter wählen, sagt Akyol. "Er wird uns erhalten bleiben, außer es passiert was Unvorhergesehenes." Çiğdem Akyol wird bald mit ihm abgeschlossen haben. Sie hat für sich alle zugänglichen Quellen ausgewertet und verarbeitet sie im Buch. "Da gibt's nicht mehr rauszuholen", sagt sie. Ihr zweites sei auch ihr letztes Buch zu Erdoğan. "Ich will nicht in die Geschichte eingehen als die Frau, die sich an Erdoğan abgearbeitet hat." 

Im Ofen in Vesperweiler knistert das Feuer. Çiğdem Akyol verbrennt ihr Manuskript Kilo um Kilo, so wie sie es durchgearbeitet hat, im Kachelofen. Sie fliegt zurück nach Istanbul – mit leichtem Gepäck, so wie sie es wollte.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


3 Kommentare verfügbar

  • Jürgen P. Fuß
    am 21.03.2016
    Antworten
    Hallo Herr Lotter,

    habe erst heute - durch Zufall - Ihren Kommentar gelesen. Finde viele Gedanken sehr interessant. Leider haben Sie keinerlei Quellen für Ihre Aussagen zur Türkei und zu Erdogan angegeben, sodass man sie bis auf weiteres als ihre persönliche Meinung / Bewertung / These ansehen…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!