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"Nicht die Investoren machen Stadt"

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Wir sollten die Flüchtlinge zum Anlass nehmen, endlich über bezahlbaren Wohnraum zu reden, sagt Markus Müller, der Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg. Er widerspricht dem SPD-Wirtschafts- und Finanzminister Nils Schmid, der vor allem privates Kapital mobilisieren will: Der Markt wird es nicht richten.

Herr Müller, Sie sagen, wir haben kein Flüchtlingsproblem, sondern ein Wohnproblem. Warum?

Es wäre grundfalsch, nur von Flüchtlingswohnen zu reden. Es geht heute um das Wohnen von Menschen mit geringerem Einkommen. Diese Zielgruppe ist in Baden-Württemberg lange übersehen worden. Hier im Land herrscht das Selbstbild: Wir sind erfolgreich, wir sind die Maschinenbauer, alle schaffen beim Daimler und verdienen viel Geld. Nun ergibt sich die Chance, kostengünstiges Wohnen in die Wohnungsbaupolitik einzuführen. Wir sind uns da mit den kommunalen Spitzenverbänden einig, der Mieterbund und der Haus- und Grundbesitzerverein haben dieselbe Wahrnehmung. Da sind einerseits die Flüchtlinge. Aber das Gute ist, dass wir erstmals auch alle anderen in den Blick nehmen.

Also Senioren, Studierende, Menschen mit geringem Einkommen?

Ja, die Wenigverdiener, und die reichen weit in die Mitte der Gesellschaft hinein. Es gibt Institute, die davon ausgehen, dass es sich um etwa sieben Millionen Menschen handelt, das sind nahezu zehn Prozent der Bevölkerung, und die tun sich im Wohnungsmarkt schwer. Bisher hat es in den Ballungsräumen Verdrängungseffekte ins Umland gegeben. Das hat auch relativ lange funktioniert und ist sicher eine Erklärung dafür, warum die Wohnungsnot weder zu sozialen Verwerfungen geführt hat, noch in der Kommunalpolitik wahrgenommen wurde.

In der Architektenkammer gibt es eine Arbeitsgruppe zum Thema Flüchtlingsunterbringung. Woran arbeitet die?

Wir haben in der Architektenkammer verschiedene Handlungsfelder, auf denen wir meinen als Architekten und Stadtplaner einen Beitrag leisten zu können. Eines dieser Felder ist das Wohnen, und da ist nun tatsächlich akut im Kontext der Flüchtlinge eine Arbeitsgruppe entstanden. Da sind Architekten dabei, aber auch ein Vertreter der katholischen Kirche, der evangelische Oberkirchenrat, die Wohnungswirtschaft, Hochschulen, eine Baubürgermeisterin – relativ bunt gemischt. Wir versuchen, das ganze Know-how zu bündeln in Vorschläge, die wir dann in Richtung Landespolitik schicken und an denen wir auch unsere eigenen Aktivitäten in der Architektenkammer orientieren.

Wenn die Flächen begrenzt sind, steigen Grundstückspreise und Mieten. Es heißt immer, die Städte sind auf Investoren angewiesen.

Hier würde ich widersprechen. Nicht die Investoren machen Stadt. Stadt ist ein hoch komplexes System. Es gibt immer gegenläufige Zielstellungen, die für sich genommen vernünftig erscheinen können. Es ist vollkommen richtig zu sagen, wir müssen nachhaltig bauen. Es gibt gute Gründe, warum man das Thema Barrierefreiheit stark in den Blick genommen hat. Oder den Flächenverbrauch: Innenstadtflächen zu entwickeln ist viel komplexer als ein Stück Wald abholzen und ein paar Einfamilienhäuser in die Fläche bauen.

Die Genossenschaften sagen, sie kommen nicht zum Zug. Fehlt der politische Wille?

Natürlich hat man schon früh darauf hingewiesen, dass Flächenverknappung heißt: Flächen werden teurer. Das ist so lange verträglich, wie wir wenige Wohnungsprobleme haben. Jetzt haben wir aber mehr Zuwanderung, als es das Statistische Landesamt jahrelang gepredigt hat. Bis vor drei Jahren hieß es: Baden-Württemberg schrumpft. Viele Kommunen haben nun gemerkt: Irgendetwas kann da nicht stimmen. Diese Diskussion ist gerade anderthalb Jahre alt. Jetzt sind wir in einem Umsteuerungsprozess und müssen korrigieren. Es ist in der Tat so, dass wir das Problem nicht durch Investoren und auch nicht nur kommunal lösen werden. Wir müssen es, dezidiert von staatlicher Seite, wirtschaftlich attraktiv machen, bezahlbaren Wohnraum herzustellen. Alle, die sich mit dem Thema beschäftigen, sagen: Man kann Wohnungen nicht so billig bauen, dass sie aus den Mieterträgen von Geringverdienern refinanziert werden können.

Was schlagen Sie nun konkret vor? Helfen Konzeptvergaben?

Man muss diskutieren, welche Steuerungsmöglichkeiten es gibt. Wir Architekten haben gemeinsam mit dem Städtetag und mit dem Verband der Wohnungswirtschaft eine ganze Liste erarbeitet, die wir Wirtschafts- und Finanzminister Nils Schmid auf dessen Wohnungsbaugipfel vorgestellt haben. Summarisch kann man sagen: Wir brauchen in der Wohnraumförderung mehr Geld. Baden-Württemberg steckt insgesamt 72 Millionen in die Wohnraumförderung, davon sind knapp 40 Millionen Landesmittel, der Rest kommt vom Bund. Zum Vergleich: Bayern wird bis 2019 2,6 Milliarden in die Wohnraumförderung stecken, stockt also von 200 Millionen pro Jahr auf 500 Millionen auf. Wer glaubt, das Wohnungsproblem durch irgendwelche Stellschrauben lösen zu können, die niemand wehtun, der verspricht etwas, was nicht zu halten sein wird. Jetzt geht es darum: Wie setzt man das Geld ein? Wir sind überzeugt, dass die Wohnraumförderung konzeptionell und sozial integriert angelegt werden muss, statt mit der Gießkanne ins Blaue zu fördern.

Wie wird derzeit der Wohnbau gefördert?

Im Moment durch eine Zinsverbilligung. Es ist empirisch erwiesen, dass das im Markt nicht nachgefragt wird. Im Moment laufen über die Wohnbauförderung in Baden-Württemberg 300 Wohnungen pro Jahr. Das ist de facto nichts. Von daher ist klar: Es geht nur über eine Zuschussförderung. Wir sagen, wir müssen Konzepte fördern. Man legt ein Modellprogramm auf. Verschiedene Arten von Projektträgern können Vorschläge einreichen. Das hat man sehr erfolgreich bei der Konversion von Industriebrachen betrieben. Die Konzeptprogrammierung müsste so sein, dass es in der Nutzungsmischung ein ausgewogenes Verhältnis gibt von sozialen Gruppen, die tatsächlich hilfebedürftig sind, und dem Querschnitt der Bevölkerung – das ist im Prinzip auch der Gedanke beim Stuttgarter Innenentwicklungsmodell (SIM).

Die soziale Mischung also. München fördert allerdings 30 Prozent der Wohnungen in Bauprojekten, bei städtischen Grundstücken sogar 50 Prozent, und das schon seit 1994, während es in Stuttgart nur 20 Prozent sind, und das auch erst seit 2011.

Im Augenblick geht es darum, Programme zu entwickeln, die funktionieren, egal wie die politische Rhetorik ist. Das ist im Übrigen das Erstaunliche in Bayern: Wenn man die Rhetorik von Herrn Seehofer anhört und schaut, was die im praktischen Leben machen, dann sind das zwei Welten. Wie gesagt, Bayern investiert 500 Millionen im Jahr, Baden-Württemberg nur 72: gerade mal ein Siebtel. In Baden-Württemberg müssen wir einfach sagen: Jetzt macht halt! Wir reden darüber seit einem halben Jahr. Ich glaube, da sollte man jetzt nicht mehr so wahnsinnig viel erklären müssen.

Die Entwicklung der modernen Architektur war stark mit der sozialen Frage verbunden. Der soziale Wohnungsbau ist aber in den 1960er-Jahre in Verruf geraten. Wie müsste eine heutige Antwort aussehen?

Heute müssen wir sagen: Wohnraum muss extrem pluralen Bedürfnislagen gerecht werden. Unsere Gesellschaft ist gerade auf dem Weg, die soziale Vernetzung wieder zu entdecken. Das finde ich einen der positivsten Aspekte an der Flüchtlingsfrage: Wir übernehmen Verantwortung füreinander, achten aufeinander und lassen uns trotzdem Spielraum – das ist für mich ein Hinweis, wie die Wohnstrukturen sein müssten. Das wird ja auch diskutiert: die Veränderbarkeit von Wohnungen, die Nutzungsmischung, das assistierte Wohnen, welche Gemeinschaftszentren mit implementiert werden müssen. Die Trennung von Wohnen und Arbeiten, die durchgrünte Stadt nach der Charta von Athen: Das war im Kontext der Industrialisierung richtig, der Ausfluss davon ist die Baunutzungsverordnung. Wir müssen aber jetzt wieder fragen: Ist heute alles richtig, was vor 100 Jahren richtig war? Oder können wir die Stadt nicht als ein großes Mischgebiet verstehen? Ich muss genau zehn Meter laufen in mein Büro.

Das reduziert das Verkehrsaufkommen.

Genau! Wir sind ein Land, das gewohnt ist, maximal innovativ zu arbeiten: in der Mobilität, im Maschinenbau, in der Medizintechnik, in der Raumfahrt. Dann lass uns sagen: Wir packen das an. Wir müssen nicht die Favelas von Kalkutta, sondern sehr heterogene, komplexe europäische Städte zukunftsfähig machen.

Wenn ein Rentner allein in einer großen Wohnung übrig bleibt und eine kleinere sucht, dann findet er allenfalls eine teurere. Gibt es darauf von Architektenseite eine Antwort?

Die ganze Fehlbelegungsdiskussion führt aus unserer Sicht zu nichts. Wir müssen Lösungsangebote machen und nicht die Leute bevormunden. Ein Projekt für seniorengerechtes Bauen, barrierefrei, mit Assistenzsystemen im Pflegefall: Da haben Sie noch nicht mal angefangen zu bauen, und schon ist das Ding verkauft. Es dürfen dann aber nicht Monostrukturen für eine Alterskohorte werden. Wir brauchen nutzungsgemischte Angebote. Und die Assistenzsysteme, mit denen wir im altengerechten Wohnen hervorragende Erfahrungen machen, können für viel breitere Bevölkerungsschichten wirksam werden.

Kann sich so etwas jeder leisten?

Ich kenne Projekte, bei denen man sehr darauf achtet, dass es unterschiedliche Einkommensgruppen gibt. Aber das ist genau der Punkt: Die Lücke zwischen verfügbarem Einkommen und der wirtschaftlich sinnvollen Miete, die können wir nicht auf die Privatleute abwälzen. Das ist meines Erachtens eine Frage der Daseinsvorsorge.

Gerade in Stuttgart haben wir viele Arbeitsplätze, begrenzte Flächen und Warteschlangen im Wohnungsamt. Lässt sich dieses Problem ohne das Umland überhaupt bewältigen?

Man kann viel mehr schaffen, als viele glauben. Wir waren gerade in Södertälje, südlich von Stockholm, die haben bei 90 000 Einwohnern 15 000 Flüchtlinge. Die schaffen das auch. Wenn man sieht, dass in Stuttgart-Mitte massenhaft Häuser stehen, dort aber nur 20 000 Menschen wohnen, während sich 300 000 jeden Tag beklagen, dass sie im Stau stehen, weil sie hier einen Arbeitsplatz haben: Dazu würde mir schon etwas einfallen. Man könnte zum Beispiel fragen: Muss denn jeder Großkonzern seine Zentrale in der Stadtmitte haben? Oder wäre es besser, wenn in der Stadtmitte auch Platz für Wohnen bleiben würde?

Nach der Logik des Geldes kann man bei den Stuttgarter Grundstückspreisen keine Wohnungen bauen.

Ich habe früher mit großer Ehrfurcht von Baubürgermeistern gehört, wie Stadtentwicklung geht: Die hübschen Pläne sind das eine. Aber das Wichtigste sind die Grundstücke, über die eine Stadt verfügt. Wenn ein Kämmerer sagt, Hauptsache, ich habe einen ausgeglichenen Haushalt, dann verkaufe ich eben noch ein paar Grundstücke an den Meistbietenden, dann hat er Wesentliches seines Jobs nicht verstanden. Kommunale Baulandbevorratung ist das Kernstück strategischer Stadtentwicklung. Oder wenn das Land Baden-Württemberg die LEG verkauft, weil angeblich die Europäische Union das verlangt, um irgendwelche Banken zu retten, dann entledigt man sich eines strategischen Instruments der Baupolitik. Das sind jetzt sehr unarchitektonische Aussagen, aber das sind die Instrumente, die wir einsetzen müssen, um Baupolitik betreiben zu können. Wir müssen weg von dem puren betriebswirtschaftlichen Denken, dem Asset-Management, denn Gesellschaft ist viel, viel mehr.


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6 Kommentare verfügbar

  • Kornelia
    am 31.10.2015
    Antworten
    @CharlotteRath..... Wir haben seit Jahrzehnten ein bewusst gemachtes Problem mit Verantwortung!
    Wir differenzieren nicht zw. privater Person und Öffentlichkeit Person! M.E. Absicht!
    Gewinne werden privatisiert und Verluste sozialisiert....auch hier!
    Wenn man den bezahlten Posten von einer…
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