KONTEXT:Wochenzeitung
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Leben in vier Dimensionen

Leben in vier Dimensionen
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Wie sollen Flüchtlinge integriert, Alte gepflegt oder Kinder zu guten Menschen erzogen werden, wenn keine Zeit dazu bleibt? Was wird aus der Politik, wenn die Kluft zwischen Bürgern und Parlamenten noch größer wird? Unsere Autorin hat eine Gesellschaftsutopie entworfen, die all das lösen soll.

Um politisch handlungsfähig zu sein, brauchen wir die Fähigkeit zum Träumen. Um handlungsfähig zu bleiben, müssen wir unsere Träume herunterholen auf den Boden, auf dem wir heute gehen. Um unser Gehen unaufhaltsam zu machen, langen wir wieder nach den Träumen. Kurz: Für unsere Politik brauchen wir eine Perspektive, die unsere Hoffnungen auf ein gutes Leben einschließt und unsere alltäglichen Schritte leitet.

Ohne Vorstellung – und sei sie noch so ungewiss –, wie eine andere Gesellschaft sein könnte, lässt sich schwer Politik machen, die viele engagiert. Eine Orientierung bietet seit mehr als 150 Jahren die Arbeiterbewegung: Sie zielt auf eine Überwindung entfremdeter Lohnarbeit und kämpft im Hier und Jetzt um Löhne, Tarifabkommen, Arbeitsplätze. Gegen diese ausschließliche Fokussierung der Form des Befreiungsdenkens traten die Frauenbewegungen des 20. Jahrhunderts an, indem sie darauf bestanden, dass es mehr Arbeit gebe als die in Lohnform verrichtete. Sie betonten, dass die häusliche Sphäre sowohl eine Stätte der Unfreiheit sei als auch eine der menschlichen Sorge um einander – und dass die Zurkenntnisnahme von Haus- und Familienarbeit grundlegend sei für ein Denken, dass sich die Befreiung aller Menschen zum Ziel setzt.

Was in den Kämpfen dieser Bewegungen nicht ausreichend zum Vorschein kommt, macht Karl Marx umso deutlicher: dass nämlich die Entwicklung eines jeden die Voraussetzung der Entwicklung aller sei. Übersetzt in unsere nüchterne Sprache meint das, dass es auch Ziel von Befreiung sein muss, die Fähigkeiten, die in den Einzelnen schlummern, zur Entfaltung kommen zu lassen. Und in alledem – in Arbeiterbewegung, in Frauenbewegung, in der Frage der Selbstentwicklung einer jeden/eines jeden – gibt es schließlich eine Voraussetzung, die so grundlegend ist, dass sie extra zu nennen schon überflüssig scheint: Die Befreiung der Menschen kann nur von ihnen selbst unternommen, kann nicht für sie erstritten werden, kann nicht eine Tat von oben sein. "Wenn wir uns nichts selbst befreien, bleibt es für uns ohne Folgen", hat der Schriftsteller Peter Weiss für die Arbeiterbewegung geschrieben. Es gilt auch für uns Frauen. Politik also für eine andere Gesellschaft als die jetzige muss Politik von unten sein. 

Immer mehr Menschen finden keinen Einstieg in die Erwerbsarbeitswelt. Hoffnung auf Veränderung von Gewerkschaftsseite richtet sich auf Lohnforderungen und die Sicherheit der Plätze derer, die noch "in Arbeit" sind. Dagegen suchte ich nach einer Utopie, die solches Handeln nicht beiseiteschiebt, die aber zugleich die Hoffnungen der vielen anderen aufnimmt und auf ein menschenwürdiges Ziel ausrichtet. Die Kunst der Politik, so lernte ich bei Rosa Luxemburg, besteht nicht darin, das "richtige" Ziel auszumachen und es dann durchzusetzen; die Kunst der Politik besteht in der Verknüpfung vieler einzelner Ziele, in der Erstellung eines Orientierungsrahmens, der Zielbewusstsein und Zusammenhang in die verschiedenen örtlichen "und zeitlichen Fragmente des Klassenkampfes bringt". (Luxemburg, GW 4, S. 124) 

Ich nehme meine Fassungslosigkeit ernst, wenn die Regierung verspricht, mehr Arbeit zu schaffen – als hätten wir nicht übergenug Arbeit, die für die Gesellschaft überlebensnotwendig ist und die ungetan bleibt, sowohl an der Natur als auch am Menschen. Es gilt nicht, "neue" Arbeit aus dem Hut zu zaubern, sondern die vorhandene Arbeit gerecht zu verteilen. Das meint nicht einfach, dass wir die Arbeitsplätze gleichmäßig auf alle arbeitsfähigen Menschen umlegen. Es meint vielmehr, dass wir uns alle menschlichen Tätigkeiten – im Erwerbsleben, in der Reproduktion, in der eigenen Entwicklung und in der Politik – auf die einzelnen Bereiche in gleichen Proportionen verteilt denken.

Da wir in solcher Berechnung viel zu viel Arbeit haben, gehen wir zunächst von einem Arbeitstag von sechzehn Stunden aus. In ihm haben die vier Dimensionen des Lebens, idealtypisch gerechnet, jeweils vier Stunden Raum. Das ist natürlich nicht mechanisch gedacht und mit der Stoppuhr abzuleisten, sondern dient als eine Art Kompass, der unsere Schritte lenken kann.

Im ersten Bereich, in dem bekannten der Erwerbsarbeit, wird sogleich offenbar, dass das Gerede von einer Krise, weil uns die Arbeit ausgehe, von einem äußerst restriktiven Arbeitsbegriff ausgeht und an diesem festhalten will – koste es, was es wolle. Vom Standpunkt des gesamten Lebens und seiner menschlichen Führung sieht die Sache radikal anders aus. Zur neuen Leitlinie in der Politik um Arbeit wird eine notwendige Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit für alle auf ein Viertel der aktiv zu nutzenden Zeit, also auf vier Stunden. Auf diese Weise erledigt sich das Problem der Arbeitslosigkeit – wir haben dann weniger Menschen als Arbeitsplätze – mitsamt Prekariat und Teilzeitarbeit und den sogenannten Migrantenströmen. Denn so gesehen, gehen alle einer Teilzeitarbeit nach, und dieser Begriff hat aufgehört, etwas sinnvoll zu bezeichnen. Wir können uns konzentrieren auf die Qualität der Arbeit und auf die Frage, ob sie angemessen berücksichtigt, wie Menschen darin ihre Fähigkeiten verausgaben. So wird es nicht mehr nötig sein, den ganzen Tag die gleichen Handgriffe zu betätigen; aber auch die moderne Form der Bildschirmarbeit gehört kritisch aus der einseitigen Belastung in ein Arbeitskonzept überführt, dass eine größtmögliche Abwechslung mit einer Entwicklung aller Sinne verbindet.

Die Reproduktionsarbeit, zweiter Bereich der vier Dimensionen des Lebens, ist nicht bloß als Haus- und Familienarbeit zu begreifen. In ihr bündelt sich alles, was für eine Wiederherstellung von Zivilgesellschaft nötig ist. Sie beinhaltet die Arbeit an sich selbst und an anderen Menschen – was wir das Menschliche an Menschen zu nennen gewohnt sind. Und was Marx dazu brachte, mit Charles Fourier zu erkennen, dass "der Grad der weiblichen Emanzipation das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation" sei, weil "hier im Verhältnis des Weibes zum Mann, des Schwachen zum Starken, der Sieg der menschlichen Natur über die Brutalität am evidentesten erscheint". Wenn auch die Schwächeren in gleichem Maße wachsen können, zeigt sich das wahrhaft Menschliche, wozu auch die Liebe gehört. Denn, so Marx, entscheidet es sich am "Verhältnis des Mannes zum Weibe [...] inwieweit das Bedürfnis des Menschen zum menschlichen Bedürfnis [...] geworden ist, inwieweit er in seinem individuellen Dasein zugleich Gemeinwesen ist." Eingeschlossen sind also auch die Fragen der Alten, der Behinderten, der Kranken, bis hin zum Verhältnis zur Natur.

Für die Reproduktions- und Familienarbeit bedeutet dies zuallererst eine Verallgemeinerung auf alle Menschen. So wie in unserem Vorschlag niemand aus der Erwerbsarbeit ausgeschlossen sein kann, so auch nicht aus der Reproduktionsarbeit. Alle Menschen, Männer wie Frauen, können und sollen hier ihre sozialen menschlichen Fähigkeiten entwickeln. Das erledigt den Streit ums Erziehungsgeld, ohne die Qualität der Arbeit, die hier geleistet wird, abzuwerten – ja, im Gegenteil: Jetzt erst, in der Verallgemeinerung, statt in der alleinigen Zuweisung auf Frauen und Mütter, kann der Anspruch verwirklicht werden, dass Reproduktionsarbeit qualifizierte Arbeit ist und also erlernt werden muss wie andere Arbeit auch; und dass sie Freundlichkeit unter den Menschen beinhaltet.

Im dritten Bereich geht es darum, sich lebenslang lernend zu entfalten, das Leben nicht bloß als Konsumentin passiv, sondern tätig zu genießen, und damit auch eine andere Vorstellung vom guten Leben entwerfen zu können. Anders formuliert: Es sollte nicht mehr hingenommen werden, dass die einen so und so viele Sprachen sprechen, tanzen, musizieren, dichten, malen und reisend wie Goethe sich weiter vervollkommnen, während andere froh sein müssen, wenn sie überhaupt lesen und schreiben können.

Alle Menschen verfügen über ein Entwicklungspotenzial, das aus dem Schlummer des Möglichen ins Leben zu holen ist. Die Betätigung aller menschlichen Sinne soll nicht mehr als Luxus erscheinen, den sich nur Reiche leisten können. Vielmehr soll jeder Mensch nach seinen Fähigkeiten leben können. Und dafür braucht es eigenen Raum und eigene Zeit für Entwicklung.

In der vierten Dimension des Lebens, dort, wo der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist, ein politischer Zusammenhang besteht, wird folgender Anspruch erhoben: Gesellschaft zu gestalten ist keine arbeitsteilige Spezialität. Nicht länger sollen die einen Politik machen, während die anderen – und das ist die übergroße Mehrzahl – deren Folgen ausbaden müssen.

Die vier Dimensionen menschlichen Lebens sind in einem Spannungsrahmen zu verknüpfen: Das ist der Umriss eines umfassenderen Begriffs von Gerechtigkeit, der heute vom Standpunkt von Frauen formulierbar ist. Er nimmt seinen Ausgang bei der Arbeitsteilung und der damit verbundenen Zeitverausgabung – er will also das Zeitregime in unserer Gesellschaft grundlegend anders gestalten. 

Man könnte sich jetzt vornehmen, die vier Bereiche Erwerbsarbeit, Reproduktionsarbeit, individuelle Entwicklung und politische Arbeit je für sich zu verfolgen. Das würde wiederum auf eine Arbeitsteilung hinauslaufen, bei der einzelne Gruppen je einen isolierten Bereich als ihr Markenzeichen besetzen. Die einen, gewerkschaftlich orientiert, betrieben klassenbewusst eine Arbeiterpolitik, die für Erwerbstätige greifen kann. Die anderen suchten eine Perspektive aus der Vergangenheit hervor, eine Utopie für Mütter nach rückwärts, die uns Frauen lebendigen Leibes ans Kreuz der Geschichte nagelt, wie der Philosoph Ernst Bloch dies ausgedrückt hat. Die Dritten setzten auf die Entwicklung einer Elite, die olympiareif zeigt, was menschliche Fähigkeiten sein können. Die Vierten verfolgten partizipative Politikmodelle in unwesentlichen Bereichen: Sie würden das Fernsehen zu einer Modellanstalt von Zuschauerwünschen machen, die Belegschaft in die Gestaltung des Weihnachtsfestes miteinbeziehen oder die Bevölkerung an der Mülltrennung beteiligen. In allen Fällen wird man erfahren, dass jeder Bereich, für sich zum Fokus von Politik gemacht, langfristig reaktionär wird.

Die vier für ein menschliches Leben zusammengehörenden Bereiche treten im wirklichen Dasein der einzelnen Menschen zumeist nicht nur getrennt, sondern sogar gegeneinandergerichtet auf, als seien sie sozusagen miteinander verfeindet. Familienarbeit steht gegen die Möglichkeit, erwerbstätig zu sein, beide behindern die Entfaltung aller Sinne, und wie selbstverständlich stehen sie alle drei der Teilhabe an Politik gegenüber: Sie wieder zusammenzufügen braucht ein anderes Zeitregime, ein anderes Demokratieverständnis, eine andere Vorstellung von menschlicher Entwicklung, andere Gerechtigkeit, die die Frage der Arbeitsteilung einbezieht. Gerade in den Widersprüchen, die aus der Gegeneinanderstellung der Bereiche sich auftun, gilt es, Politik zu machen. Hier ist Veränderung, ist auch erneuerndes Denken möglich. Denn es handelt sich um einen Herrschaftsknoten – aus Klassenfragen, Geschlechterverhältnissen, Menschsein und Politik, in dem Frauen an strategischer Stelle sitzen. Was als gegensätzlich auftritt, ist nicht auch als unveränderbare Gegensätze zu akzeptieren. Nicht ja oder nein zu denken, nicht in Freund- oder Feindschemata zu verfallen. In jedem Falle gilt es aus den einseitigen Lösungen auszusteigen und eine Veränderung, die das Zusammengehörige bündelt, zu suchen.

Die politische Kunst liegt also in der Verknüpfung der vier Bereiche. Keiner sollte ohne die anderen verfolgt werden, denn angezielt ist eine Lebensgestaltung, die umzusetzen wahrhaft lebendig wäre, sinnvoll, eingreifend und lustvoll zu genießen. Dies ist kein Nahziel, nicht heute und hier durchsetzbar. Aber es kann als Kompass dienen für die Bestimmung von Nahzielen in einer Politik mit diesem Fernziel, als Maßstab für unsere Forderungen, als Basis unserer Kritik, als Hoffnung, als konkrete Utopie, die alle Menschen auf dem gesamten Globus einbezieht und in der endlich die Entwicklung jedes und jeder Einzelnen zur Voraussetzung für die Entwicklung aller werden kann.

 

Info:

Für Kontext hat Frigga Haug eine Einführung für eine Broschüre über Familienpolitik 2010 überarbeitet. Das Original steht in ihrem mit grundlegenden Artikeln gestützten Buch: "Die Vier-in-einem-Perspektive. Politik von Frauen für eine neue Linke." Argument Verlag. Hamburg 2008, zweite Auflage 2009.


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2 Kommentare verfügbar

  • Ute Plass
    am 24.09.2015
    Antworten
    Danke, Frigga Haug für die *Vier in einem Perspektive*, die zwar nicht als Nahziel heute und hier durchsetzbar erscheint,
    doch mit einer repressionsfreien Existenzsicherung für Alle
    im Jetzt näher rücken kann. Lesenswerter Beitrag dazu:

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