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Eine Frau flieht vor Boko Haram

Eine Frau flieht vor Boko Haram
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Sie lebte in einem behüteten Elternhaus in Nigeria. Dann wurde ihr Dorf von den Milizen der Boko Haram überfallen. Seitdem ist Tosin Johnson Waise und auf der Flucht. Gejagt von einer islamistischen Terrororganisation, die Frauen versklavt und mit ihren Kriegern zwangsverheiratet. Tosin hat in Deutschland Asyl beantragt.

Der Rauch. Die Flammen. Die Menschen, die wild durcheinanderlaufen. Die sie festhalten, sie fernhalten wollen. Die das Schulmädchen hindern wollen, dorthin zu gehen, wo der Rauch herkommt. Dorthin, wo die Flammen hochschlagen und wo heute Morgen noch ihr Elternhaus stand, als sie unbeschwert in die Schule aufbrach. Diese Bilder holen Tosin Johnson immer wieder ein. Auch im Flüchtlingsheim in Cannstatt, wo sie seit zwei Jahren lebt. "Ich muss darüber reden, meint meine Therapeutin, das hilft", sagt die Nigerianerin tapfer.

Tosin Johnson ist eine freundliche Frau, die gerne lacht, stattlich, weder zu übersehen noch zu überhören, wenn sie spricht mit dieser vollen, resoluten Stimme. Deren Mund sich zu einem glücklichen Lächeln biegt, wenn sie von ihrem zweijährigen Jungen erzählt, von David, der mit ihr in dem kleinen Zimmer im Flüchtlingsheim lebt und heute im Kindergarten ist. Doch das Strahlen erlischt, wenn die 27-Jährige berichtet, wie die muslimische Terrormiliz Boko Haram an diesem Tag ihr Dorf im Nordosten Nigerias überfallen hat, die Kirche anzündete und das Haus des Pastors, ihres Vaters, ihr Elternhaus. "Sie sind alle verbrannt, du musst weg, Tosin, die suchen dich, die Tochter des Pastors, schnell", drängten die Nachbarn. Es war die schrecklichste Entscheidung, die die damals 18-jährige junge Frau treffen musste. Nicht wissend, was mit den Eltern, dem Bruder passiert ist, ob sie vielleicht noch leben, versklavt von der gefürchteten Boko Haram, sich vielleicht doch retten konnten.

Tosin, die am Morgen noch eine fröhliche Studentin war, die in einem behüteten Elternhaus aufwuchs, Business Management studierte und von einem Job in Kanada träumte, ist am Abend eine Frau auf der Flucht. Und allein. "Ich wusste nicht, wohin", sagt Tosin und ihre Stimme wird ganz klein.

Boko Haram wütete lange vor "Bring back our girls"

Es war die Entführung der Schulmädchen von Chibok, die Boko Haram weltweit bekannt machte. "Bring back our girls" hieß 2014 die weltweite Kampagne, an der sich neben vielen Prominenten auch Michelle Obama, die Frau des US-Präsidenten, beteiligte. Im April dieses Jahres jährte sich die Entführung der 276 nigerianischen Schulmädchen, die bis heute nicht befreit wurden. Auch Tosin Johnson ist zum Jahrestag auf die Straße gegangen. Sie hat David im Kinderwagen durch Stuttgarts Straßen geschoben, eine Hand am Kinderwagen, die andere am Megafon: keine Abschiebung nach Nigeria. Lasst die Mädchen frei. Doch Boko Haram hat den Nordosten Nigerias schon lange vor der spektakulären Entführung terrorisiert.

Was 2002 als soziale Bewegung im Nordosten Nigerias begann, mit Mikrokrediten und Unterstützung der armen Bevölkerung, wurde schon bald zu einer terroristischen Gruppe, die Anschläge auf Polizisten und Behörden verübte. Boko Haram, übersetzt "Bücher sind Sünde" oder "westliche Bildung verboten", machte erstmals um 2004 mit der Einrichtung des Trainingslagers "Afghanistan" an der Grenze zum nördlichen Nachbarland Niger von sich reden. Dort rekrutierte sie gezielt junge Männer. Warnungen von Imamen vor der Gefährlichkeit dieser Sekte wurden von den Behörden zunächst ignoriert. Doch in die Dörfer im Nordosten Nigerias war sie da schon längst eingesickert.

Tosin erinnert sich genau an die anfangs subtile Schreckensherrschaft. Die Mutter schickte sie aufs Feld, um Gemüse fürs Essen zu holen. Drei Männer folgten der 14-Jährigen, sie waren Muslime, sie gehörten zu Boko Haram, das wussten alle im Dorf, in dem viele Mädchen nicht mehr in die Schule gingen, aus Angst vor Entführungen. Sie ging schneller, die gingen auch schneller. Sie lief, die liefen auch. Da rannte Tosin zum ersten Mal um ihr Leben. Ihr Glück war, dass sie als Kind auf dem Farmland ihrer Familie gespielt hatte und alle Verstecke kannte, sie duckte sich am Wegesrand. Sie hörte, wie die Männer vorbeikamen, direkt vor ihr beratschlagten, ist sie da vorne oder doch noch hier. Sie hielt den Atem an, schlug sich die Hand vor den Mund, "So", demonstriert sie, erstickt fast an der Erinnerung. Erst um Mitternacht traute sie sich nach Hause. Im Nordosten Nigerias sind Frauen Freiwild für die Gotteskrieger von Boko Haram. Sie werden geraubt, wie die Schulmädchen von Chibok. Sie werden versklavt und verkauft oder zwangsverheiratet mit deren Kriegern. Tosin ist vor dieser Gewalt geflohen. Sie hat in Deutschland Asyl beantragt.

Immer wieder haben Pro Asyl und die Frauenrechtsorganisation medica mondiale kritisiert, dass sich die deutsche Rechtsprechung an einem männlichen Flüchtlingsbegriff orientiert. Doch Frauen fliehen auch vor Zwangsheirat, Genitalbeschneidung, vor häuslicher Gewalt, vor Menschenhandel, der in der Prostitution endet. Solche frauenspezifische Fluchtgründe werden im Vergleich zu "traditionellen" Fluchtgründen selten als Asylgrund anerkannt, obwohl sie 2005 ins Einwanderungsgesetz aufgenommen wurden. Dort ist zu lesen: "Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft." Doch die Praxis sieht anders aus.

Das weiß auch Doris Köhncke. "Es ist ein Drama, dass die wirklichen Fluchtgründe von Frauen oft in den Mühlen des Asylverfahrens zermahlen werden", sagt die Leiterin des Stuttgarter Fraueninformationszentrums (FIZ). Doris Köhncke unterstützt Tosin bei ihrem Asylantrag. Sie weiß, wie schambehaftet es für viele Frauen ist, über die sexuelle Gewalt zu berichten, die sie erfahren haben. Oder wie sie in die Hände von Menschenhändlern fielen und in die Prostitution gezwungen wurden. Wenn sie dies auf Englisch tun sollen, das nicht ihre erste Sprache ist. Wie misstrauisch sie sind, wenn der Übersetzer ein männlicher Nigerianer ist, der zwar ihre Sprache versteht, aber nicht die Probleme der Frauen. "Frauenspezifische Fluchtgründe sind subtil", sagt Köhncke, "sie brauchen Raum, Zeit und Vertrauen." Doch beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge müsse es schnell, schnell gehen, da bleibe kein Raum für diffizile Einzelschicksale. Dabei brauchen traumatisierte Frauen wie Tosin Johnson ganz besondere Unterstützung und Beratung im Asylverfahren. Seit Jahren hat sich deshalb auch der Arbeitsbereich des FIZ erweitert. Längst beraten sie nicht mehr nur Migrantinnen, sondern auch Flüchtlingsfrauen.

Doris Köhncke hat Tosin zur Anhörung begleitet. Sie hat sich um den kleinen David gekümmert, während die Mutter über zwei Stunden ihre Fluchtgründe darlegte. "Wie sollen denn Frauen über sexuelle Gewalterfahren erzählen, wenn ihre Kinder dabei sind", fragt Doris Köhncke, "die womöglich noch alles verstehen, wenn sie älter sind?" Es sind immer mehr Frauen wie Tosin ins FIZ gekommen. Die Frauen des FIZ haben deshalb beschlossen, ihr Arbeitsgebiet zu erweitern. Sie haben nun bei der "Aktion Mensch" einen Antrag auf eine weitere Stelle gestellt. Es soll eine Frau sein, die sich ausschließlich um die spezifischen Probleme der Flüchtlingsfrauen kümmert.

"Und ich überlebte wieder"

Um Menschen wie Tosin. Die nach dem Tod ihrer Familie über die nächste Grenze geflohen ist, in den Norden, nach Niger. Wo sie sich anderen Flüchtlingen angeschlossen hat, dort als alleinstehende Frau und Christin in einer muslimischen Gesellschaft keine Chance hatte, beschloss, nach Libyen zu fliehen, dort gebe es Arbeit, sagten die anderen. Sie hatte kein Geld, sie wartete mit vielen anderen auf Lastwagen, die nach Tripolis fuhren, wie die Flüchtlinge in Calais auf den Eurostar nach England. Sie wurden entdeckt und verjagt. Sie gingen zu Fuß weiter, wurden überfallen. Zwei Wochen dauerte die Flucht durch die Wüste, sie sah Menschen und Tiere sterben. "Und ich überlebte wieder, I survived", sagt sie. Tosin hat viele Leben.

Sie arbeitete bei einer reichen libyschen Familie, erlebte zum ersten Mal Rassismus, hatte aber ein Dach über dem Kopf. Dann wurde Gaddafi gestürzt, und die Familie floh ins Ausland und Tosin vor dem Bürgerkrieg aufs Meer. In einem völlig überfüllten Boot, ohne Kapitän, ins Meer gestoßen in der Hoffnung, Italien zu erreichen. Fünf Tage treiben sie auf dem Mittelmeer, Hunderte Menschen dicht gedrängt auf einem kleinen Boot, kaum Wasser, nichts zu essen, die Sonne verbrennt Haut und Mut, und manche sprangen vor Hunger, Durst und Verzweiflung ins Meer, um dem Leiden ein Ende zu machen. "Da sprang auch eine schwangere Frau", sagt Tosin. Sie stockt, sie sieht sich um in ihrem kleinen Zimmer, als wolle sie die Bilder abschütteln. Schaut auf die Koffer auf dem Schrank, das kleine Waschbecken, wo sich Putzmittel und Kosmetika drängeln, auf den kleinen Tammy, der auf dem Fußboden spielt, der Junge, auf den sie aufpasst, während sie erzählt. Die Therapeutin hat gesagt, dass sie über die Vergangenheit reden muss. Doch manchmal braucht es den Blick auf die Gegenwart, auf den Alltag in Deutschland, auf all die Dinge, die sie erinnern, dass sie überlebt hat.

Auch diesen Moment, als sie ein italienisches Patrouillenboot sahen. Als Hunderte Menschen vor Freude hochsprangen und jubelten und das Boot kenterte. Es war der Moment, in dem Tosin ihr Gedächtnis verlor, Tosin, die Angst vor Wasser hat und nicht schwimmen kann. Sie weiß nicht, wie sie ins Krankenhaus gekommen ist, wo sie einen Tag später aufwachte. Sie weiß heute, dass nur die Hälfte der Bootsflüchtlinge gerettet werden konnten. Tosin mit den vielen Leben war dabei. "I survived", sagt sie als sei sie selbst überrascht. Der kleine Tammy hält ihr wie zum Trost sein Polizeiauto hin. "Wenn Sie ein Problem haben, rufen Sie 110", sagt eine Computerstimme aus dem Wagen. Wenn es nur so einfach wäre.

Vom Krankenhaus in Lager nach Salerno, und als das zugemacht wurde, Neapel. Dort versuchten Menschenhändler sie in die Prositution zu zwingen. Sie floh mit einem Nigerianer, den sie kennen und lieben gelernt hatte, nach Turin. Die Beziehung zerbrach, als sie schwanger wurde, sie wollte das Kind, er nicht. Da erinnerte sich Tosin an ihren Jungmädchentraum von Kanada, sie bettelte das Geld für ein Ticket zusammen und setzte sich hochschwanger ins Flugzeug. Die Italiener haben nicht so genau hingesehen, die Deutschen schon. Beim Zwischenstopp in Frankfurt beantragte Tosin Asyl, sie kam nach Karlsruhe, dann nach Stuttgart und landete irgendwann im FIZ. Doris Köhncke hat der traumatisierten Frau zugehört, ihr einen Therapieplatz besorgt, sie zur Anhörung begleitet, hilft ihr auch beim Einrichten in der Unterkunft in Cannstatt.

Die Frau vom FIZ weiß auch, dass die Situation von Frauen im Flüchtlingsheim nicht einfach ist. "Warum werden sie mit ihren Kindern nicht im Erdgeschoss untergebracht, wo sie ihren Kinderwagen nicht hochtragen müssen?", fragt sie. Warum denkt keiner daran, dass Männer zur Anhörung selbstverständlich alleine gehen, Frauen aber meist ihre Kinder dabei haben und sich schwer auf ihre eigene Geschichte konzentrieren können? Und nicht nur in den Gemeinschaftsunterkünften gilt eine junge schwarze Frau als Freiwild.

Heute lebt Tosin, die Nigerianerin mit den vielen Leben, auf neun Quadratmeter Deutschland. Das Zimmer ist vollgestellt wie ein Setzkasten. Und doch finden hier noch zwölf Firmlinge Platz, denen sie beibringt, dass man Menschen, älteren Menschen, Fremden, allen Menschen, mit Respekt begegnet. Und wenn in St. Martin gleich gegenüber Flüchtlingstag gefeiert wird, predigt die Pastorentochter Tosin Johnson schon mal in der deutschen Kirche. Auf Italienisch oder auf Englisch.


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