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Gegenverkehr erwünscht

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In der Evangelischen Akademie Bad Boll fühlte sich der katholische Betriebsseelsorger Paul Schobel trotz eines anderen Gesangsbuchs zu Hause. Vor allem in der Abteilung Arbeit und Industrie. Und so verbindet unser Autor seine Glückwünsche zum 70. Akademie-Geburtstag mit dem Appell, die Kritik bestehender Unrechtsverhältnisse nicht zu vergessen.

Auch Zaungäste dürfen ja gratulieren, wenn sie von Nachbars Geburtstag erfahren. Und so werfe ich gerne einen Stein in den Vorgarten der Evangelischen Akademie in Bad Boll, die in diesen Tagen auf stolze 70 Lenze zurückblicken darf. Das benachbarte "Stückle" mit einem Stein zu bewerfen kommt im Schwäbischen übrigens einer Liebeserklärung gleich, doch dies nur nebenbei. Als katholischer Betriebsseelsorger fühlte ich mich über 40 Jahre lang in Bad Boll, vor allem in der Industrie-Abteilung, trotz des anderen Gesangsbuchs fast wie zu Hause. Daher, altes Haus: Glück und Segen zum 70. Geburtstag.

Es war ja vor allem die den Kirchen fremde Arbeitswelt, die den legendären Gründungsvater Eberhard Müller umgetrieben hatte. Aus der Geschichte weiß man: Nur einige Lichtgestalten in den Kirchen hatten damals den gesellschaftlichen Umbruch zur Zeit der Industrialisierung wahrgenommen, waren aber weitgehend damit allein geblieben. In der katholischen Kirche reden wir in diesem Zusammenhang von einem bis in unsere Zeit hinein noch fortwirkenden Skandal. Dem Proletariat in seiner elenden Verfassung die befreiende Botschaft Jesu Christi vorenthalten zu haben ist ein starkes Stück. Es erfordert "Wiedergutmachung". Die Erfindung der Betriebsseelsorge bei uns und der Industrie- und Sozialpfarrämter bei unseren Geschwistern mag auch diesem Skandal geschuldet sein.

Eine massive Rundbogenbrücke nahm man als Logo. Und so versuchte die Akademie Bad Boll unter anderem auch den Brückenschlag in diese für sie so andere Welt, die Welt der Arbeit und der Industrie. Auf dieser Brücke war natürlich Gegenverkehr ausdrücklich erwünscht. Viele Unternehmen aus dem Ländle ließen sich gerne zu den sogenannten Querschnittstagungen einladen. Da rumpelten freilich zwei Gefährte über das Kopfsteinpflaster der Brücke heran: die Arbeitgeber mit ihrem Tross an Meistern und leitenden Angestellten im einen, im andern die arbeitende Bevölkerung mit Betriebsräten und Gewerkschaften auf der Pritsche. Gesprächsweise, so glaubte man, ließen sich doch gewiss die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit überwinden.

Es kam unter sachkundiger, geduldiger und strenger Führung zu Annäherungen – gewiss. Doch manchmal hatte ich als Gast und Koreferent eher den Eindruck, dass lediglich der Kriegsschauplatz gewechselt worden war. Anders am späten Abend im legendären Café Heuss: Unter dem milden Blick des ersten Bundespräsidenten und der segensreichen Wirkung schwäbischen Trollingers und von Schmalzbroten konnte man erleben, dass sich Meister und Untergebene, Geschäftsführung und Betriebsräte fast weinend in den Armen lagen. Ein andermal jedoch wurde noch in der Nacht die Revolution ausgerufen. Beide epochalen Ereignisse hielten allerdings anderntags einer nüchternen Betrachtung nicht stand.

Bald diagnostizierten kritische Betrachter in der Akademie die "Querschnittstagungen" eher als "Querschnittslähmungen". Das war böse und auch so gemeint, denn die 68er-Jahre waren inzwischen mächtig ins Land gezogen. Allenthalben mischten sich die IndustriepfarrerInnen in betriebliche und soziale Konflikte ein, man hatte von der Parteilichkeit der Bibel gehört und der "Option für die Armen". Das kam nicht überall gleich gut an. Nun glühten die Drähte zwischen Wirtschaftsleuten und Synodalen – das blieb nicht ohne Folgen. In der Akademie rollten kritische Köpfe, und es stürmte ständig am Fuße der Alb.

Wer weiß – vielleicht hätte man der Industrieabteilung der Akademie bald ein unseliges Ende bereitet, wäre nicht am Horizont eine neue, ungeahnte Schlechtwetterfront emporgezogen. Die Arbeitslosigkeit war nun auch im "Speckgürtel" des Musterländles angekommen und schob sich vor bis an die Altäre. Da gab es kein Entrinnen mehr. Eines muss man den Kirchen lassen: Sie haben sich früh der Betroffenen angenommen und die Arbeitslosigkeit vor allem in ihrem gemeinsamen "Sozialwort" im Jahre 1997 als gesellschaftliches Unrecht gegeißelt. In Boll gaben sich die mutigsten Vordenker im Blick auf die "Zukunft der Arbeit" die Klinke in die Hand. Und bis heute kommen auch die Betroffenen selbst in eigenen Tagungen zu Wort. "Arbeit und Einkommen teilen" – unter dieser Leitlinie wurden vor allem neue, kreative Arbeitszeitmodelle diskutiert, die alle schon wieder in Vergessenheit geraten sind. Man wird sie eines Tages wieder ausbuddeln müssen.

Und da verbinde ich mit meinem Glückwunsch die Hoffnung, dass unsere kirchlichen Akademien auch zukünftig "prophetische" Qualität entwickeln. Ein Wirtschaftssystem, das die Kapitalrendite in den Mittelpunkt wirtschaftlichen Handelns stellt, ist ethisch unhaltbar. Prophetie ist Kritik bestehender Unrechtsverhältnisse und Entwicklung zukunftsfähiger Visionen. Und dies bitte unter Einbezug der "Kompetenz von unten", denn Akademien sind keine Fakultäten. Es geht um "Anwendungsprogramme", um die Umsetzung der biblischen Botschaft in Leben und Zeit. 

 

Paul Schobel hat 38 Jahre lang in der Betriebsseelsorge der Diözese Rottenburg gearbeitet, von 1991 bis 2008 war er deren Leiter. Bei den katholischen Hierarchen war er nie beliebt, bei den Malochern schon. Er hat auch schon undercover an den Werkbänken gestanden. In der Evangelischen Akademie Bad Boll war er immer wieder gefragter Diskussionspartner.


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1 Kommentar verfügbar

  • invinoveritas
    am 09.09.2015
    Antworten
    Nicht auszudenken, wie weit es die Linke in diesem unserem Lande schon hätte bringen können, wenn es viel mehr Leute vom Typ Paul Schobel gäbe.
    Einen, den nicht Hass und Feindbildpflege antreiben, nicht wahnhafte Verschwörungstheorien und Entlarvungsgelüste, sondern warmherziges und konkretes…
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