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Wo Despina Kult ist

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Auf ihre griechisch-orthodoxe Kirche mitten im Ort sind sie stolz. Doch derzeit diskutieren die Waiblinger Griechen andere Glaubenssätze wie Schuldenschnitt, Rettungspaket, Grexit oder den Vorwurf, sie alle seien faul. Ganz gleich, ob sie sich in der Änderungsschneiderei, zum Zocken im Ochsen oder im Gemeindezentrum treffen.

Die Meldung ist erst wenige Stunden alt, aber im Waiblinger Ochsen wissen sie längst Bescheid: Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras hat Neuwahlen angekündigt, und die Zocker legen kurz die Karten beiseite. Beim Pirimpa-Spiel, einer Art Bridge, muss man sich konzentrieren, wenn man gewinnen will. Und gewinnen wollen sie hier alle, die griechischen Männer, für die der Ochsen von Stavros ein Stück Heimat in der schwäbischen Wahlheimat ist. Eine Insel, auf der Griechisch gesprochen und munter geraucht wird. Ein Ort, an dem man keinem erklären muss, wie zerrissen es sich derzeit anfühlt, deutsche und griechische Zeitungen zu lesen. Für die einen sind alle Griechen faul, für die anderen alle Deutschen Nazis. "Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte", sagt Theo Damaskinidis. Seit einem halben Jahrhundert lebt der 58-Jährige nun in Waiblingen. Das Leben zwischen den Welten hat ihn zum Philosophen gemacht.

Als Theo jung war, hat er sich für die konservative Nea Dimokratia starkgemacht. Damals gab es noch zwei griechische Fußballclubs in Waiblingen: Einer stand der sozialdemokratischen Pasok nahe, der andere der Nea Demokratia, und der war Theos Club. Heute gibt es nur noch eine Mannschaft, bei der das Kicken im Mittelpunkt steht und nicht die Partei. Theo war Vorstand der griechischen Gemeinde, im Fußballclub, klar, und seit zehn Jahren ist er außerdem aktiv im Verein der Griechen von Pontos. Theos Pirimpa-Karten hat längst ein anderer übernommen, er steht am Tresen und erzählt aus seinem schwäbisches Griechenleben, kurzes Haar, Tätowierung am Arm, steckt sich die fünfte Marlboro an, demnächst muss er los zur Nachtschicht bei Bosch, seit 33 Jahren macht er das schon.

Seine Kinder fühlen sich als Deutsche, die Verwandtschaft in Griechenland ist fern und Theo Damaskinidis irgendwo dazwischen, wo er die Wahrheit vermutet. Antikommunist ist er geblieben, aber heute, sagt er, würde er Syriza wählen, wenn er noch in Griechenland lebte. Wegen Yanis Varoufakis, der die Troika nach Hause geschickt hat. Weil die Schuldenlast der Rettungspakete Griechenland nicht retten, sondern ausbluten wird. Weil noch Generationen von Griechen daran abzahlen müssen. "Jedes zweite Wort im Deutschen ist griechischen Ursprungs", prahlen seine Griechenfreunde zu Hause. "Na und?", entgegnet er manchem Deutschenhasser dann, "was kannst du dir davon kaufen?" Darüber zuckt er genauso mit den Schultern wie über den Spruch des CDU-Landesvorsitzenden Thomas Strobl: "Der Grieche hat jetzt lang genug genervt." Idioten, sagt Theo stoisch zwischen der fünften und der sechsten Zigarette, hätten keine Nationalität.

Knapp 2500 Griechen leben derzeit in der Kreisstadt an der Rems, die meisten davon mitten in der 50 000-Einwohner-Stadt. Viele von ihnen wurden angeworben in den 60er-Jahren, vor allem vom Sägenhersteller Stihl, weiß Markus Raible, früher Ausländerbeauftragter. Viele sind geblieben. Sie arbeiten bei Bosch, bei Mercedes, bei Stihl und in den kleinen Handwerksbetrieben im Remstal. Viele leben schon Jahrzehnte in der Fachwerkidylle in Waiblingen. Manche haben in der griechisch-orthodoxen Kirche im Stadtkern geheiratet. In der Nikolauskirche mitten im Herzen von Waiblingen, die die Griechen seit 1970 nutzen, 2001 für einen Euro erworben und für viel Geld renoviert haben. Rund 150 000 Euro hat der griechische Förderverein zusammengetragen, um die altgotische Kirche aufzuhübschen, an den Renovierungskosten haben sich auch das Landesdenkmalamt und die Stadt Waiblingen beteiligt.

Stecknadeln und gute Ratschläge hat Frau Despina immer griffbereit

Auch Despina Stathiopoulou hat ihren Mann vor vielen Jahren in der kleinen Kreisstadt geheiratet. Despina ist Kult in Waiblingen. Ihre kleine Änderungsschneiderei ist viel mehr als ein Geschäft mitten in der Fußgängerzone. Das kleine Häuschen, nur wenige Meter von der Nikolauskirche entfernt, haben die 66-Jährige und ihr Mann Statis schon vor Jahren gekauft. Unten arbeiten, oben wohnen, so haben sie sich eingerichtet. Direkt neben ihre Ladentür haben Stadtarbeiter ein Bänkchen gestellt, auf dem an diesem Tag der Mann und eine Freundin sitzen. Drinnen steht die Schneiderin, die alle nur Frau Despina nennen, Maßband um den Hals, ein selbst geschneidertes Kleid am Leib, ein freundliches Lächeln auf den Lippen, Stecknadeln und gute Ratschläge immer griffbereit. "Meine Katze mochte die Jacke nicht", sagt eine junge Frau entschuldigend. "Kein Problem, das kann ich flicken", sagt Frau Despina freundlich und steckt prüfend einen Finger durch das Loch, "morgen ist das fertig." Die Katzenfrau verlässt glücklich den Laden.

Der Kellner von nebenan bringt einen Cappuccino vorbei, Nachbarn und Kunden winken im Vorübergehen, hallo, Frau Despina! "Grüß Gott", winkt die zurück und seufzt glücklich, "ich hab die besten Kunden der Welt." Ihr Mann auf dem Bänkchen lächelt wissend, die Tochter Sofia vor der Tür nickt verstehend. Waiblinger Griechin oder griechische Waiblingerin, egal, Despina bleibt Despina. Auch sie eine leidenschaftliche Raucherin, jetzt ist sie auf E-Zigarette umgestiegen, die kann sie auch im Laden paffen, ohne dass die Kleider, Jacken und Hosen nach Nikotin und Rauch stinken.

Als Despina 23-jährig nach Deutschland kam, hat sie zuerst bei Olymp in Bietigheim Hemden genäht, bevor sie 1973 ihren eigenen Laden aufmachte. Der Mann ist Taxi gefahren und hat über 30 Jahre die Bahnhofsgaststätte betrieben, die Töchter Sofia und Ariadne, genannt Ani, sind in Waiblingen aufgewachsen. Sofia ist zum Studium nach Thessaloniki, hat dort ihren Mann kennengelernt und dort gearbeitet. Seit vier Jahren ist sie wieder zurück, "damit die Kinder eine bessere Chance haben". Die waren sowieso jedes Jahr für drei Monate bei der Oma in Waiblingen, und sprechen fließend deutsch.

Über Politik reden die Stathopoulous ungern. Gerade so, als ob sie Angst hätten, dass die Debatten ein sorgsam austariertes Gleichgewicht zwischen Herkunft und Heimat stören würden, jetzt, wo Griechenland der böse Bube in Europa ist und Deutschland der Zuchtmeister. Ihr Leben lang hat die Änderungsschneiderin Despina ihre Kunden durch dick und dünn begleitet, hat Kleider enger und weiter genäht, das verbindet. Sie hat hart gearbeitet, was sie in den Augen der Schwaben adelt und ein bisschen zu einer der ihren macht. Faule Griechen? Despina lacht laut, zupft an dem Maßband um ihren Hals, nein, diesen Vorwurf hat ihr noch keiner gemacht. Die Verwandten berichten von deutschen Touristen, die ganz bewusst in Griechenland urlauben, um das Land zu unterstützen. Die Deutschen, die Griechen – solche Schubladen zieht Despina nicht auf.

Sauer auf die griechischen Politiker

Aber die Politiker, gerade die griechischen! Auf die ist Tochter Sofia ist sauer, weil sie nur versprechen und in die eigene Tasche wirtschaften. Am besten nicht mehr drüber reden, sagt sie, "sonst wird man verrückt". Der 74-jährige Vater nickt zustimmend. Zurück nach Griechenland? Das ist kein Thema bei Despina und Co. Gerade beherbergen sie ihre Cousins, die Urlaub in Deutschland machen. Dass die es derzeit zu Hause schwer haben, erleben sie so jeden Tag. Warum also zurückgehen? Statis hat längst ein Gütle im Remstal, wo er Zucchini, Kartoffeln und Tomaten anbaut. "Für die Familie", sagt er. Gerade hat er seiner Tochter 30 Kilo von den eigenen Kartoffeln vorbeigebracht. Zu viel Politik stört das private Glück.

Sie haben sich so gemüht, anzukommen. Die Gastarbeiter haben die griechische Gemeinde Waiblingen gegründet, eine Art Selbsthilfeverein, in dem Neuankömmlinge aus der alten Heimat unterstützt wurden bei Behördengängen, bei ihren sprachlichen Schwierigkeiten, bei ihrer Arbeitssuche. Heute sitzen im kargen Zimmer an der Rems nur noch wenige alte Männer und noch weniger alte Frauen. Der Mitbegründer und Vorsitzende Michail Sacharidis, 73, bekam vor einem Jahr die Heimatmedaille des Landes verliehen, als Brückenbauer zwischen der alten und der neuen Heimat. Mit ihm und dem Rechtsanwalt Dimitrios Giannadakis sitzen derzeit zwei Griechen im städtischen Integrationsrat. Viele Waiblinger Griechen sind längst griechische Waiblinger geworden, auch wenn die meisten keine deutsche Staatsbürgerschaft haben. Bei der Kommunalwahl gehen sie selbstverständlich wählen, und über die griechische Politik und europäische Rettungsschirme werden sie weiter streiten.

Die Jungen kümmert Politik weniger. Sie treffen sich in den griechischen Kaffees im Zentrum, sie trinken und reden dort mit ihren italienischen, türkischen und deutschen Freunden, wie der 18-jährige Nico Chatzigeorgiadis im Café CaBa. Die Wahrheit liegt für ihn nicht mehr dazwischen. Waiblingen ist sein Zuhause, in die griechischen Clubs nach Cannstatt fährt er zum Feiern. Demnächst fängt er eine Ausbildung als Fahrzeugelektroniker an, den Realschulabschluss hat er grade hinter sich.

Ob sie nun bei Bosch arbeiten wie Theo, eine Kneipe haben wie Stavros oder schneidern wie Despina. Ob sie seit 40 Jahren da sind oder hier geboren wurden. Ob sie im Alter wieder zurückwollen nach Griechenland oder hierbleiben, weil sie längst keine Gäste mehr sind, sondern dazugehören, irgendwie, wenn auch nicht ganz: Am Sonntag gehen die meisten von ihnen in die Kirche. Und dann stört es auch den größten Syriza-Fan nicht, dass die griechisch-orthodoxe Kirche nach dem Staat der größte Grundbesitzer in Griechenland ist, Immobilien in Milliardenhöhe besitzt und dennoch keine Grundsteuer zahlen muss. Wenn der griechisch-orthodoxe Priester Anastasios Zertelidis sonntags auf Altgriechisch die Messe liest, ist die Nikolauskirche in Waiblingen voll.


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