KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Das Leid der 1000 Frauen

Das Leid der 1000 Frauen
|

Datum:

Rund 250 traumatisierte IS-Opfer aus dem Nordirak hat Grün-Rot in einem Sonderprogramm nach Baden-Württemberg geholt - 1000 sind das Ziel. Der Therapeut der Frauen sagt, ihr Schicksal bringe einen an den Rand des Verstehens.

Samiras Onkel hielt es irgendwann nicht mehr aus: die Schreie seiner Nichte in der Nacht, wie sie ihren Kopf gegen den Betonboden schlug, wie sie sich die Schamlippen aufschnitt. Die 17-Jährige konnte nicht vergessen, wie die Terroristen des Islamischen Staates sie verschleppt, verkauft und vergewaltigt hatten. Samiras Onkel ging zu Jan Ilhan Kizilhan in die Stadt Dohuk in der Region Kurdistan und bat um Hilfe. "Wir schicken sie überall hin", sagte der Onkel. So erzählt es Kizilhan, Traumatologe und Beauftragter der grün-roten Landesregierung. Er soll sich um Frauen und Mädchen wie Samira kümmern - und sie aus dem Nordirak nach Baden-Württemberg holen.

Das bundesweit einzigartige Programm zur Aufnahme traumatisierter Frauen und Mädchen läuft seit März. 248 Personen sind nach Angaben des Staatsministeriums bisher nach Baden-Württemberg gekommen. Nun verschärfen jedoch die Angriffe der Türkei auf kurdische Stellungen im Nordirak die Lage in der Heimat der Frauen.

Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hatte im Oktober 2014 verkündet, bis zu 1000 Frauen und Mädchen aus dem Nordirak und Syrien nach Baden-Württemberg zu bringen. Es sollte um Opfer des Islamischen Staates gehen, vor allem um Angehörige der religiösen Minderheit der Jesiden. Doch aus mehr als einer Idee bestand das Programm bis dahin nicht. In Regierungskreisen sahen es einige als Versuch, Kretschmanns Ruf aufzupolieren. Kurz zuvor hatte er im Bundesrat für weitere Sichere Herkunftsländer gestimmt und damit Abschiebungen auf den Balkan beschleunigt. Die Parteilinke kritisierte ihn dafür scharf.

Das Staatsministerium unterschätzte für das Projekt die Sicherheitslage im Nordirak. Es überschätzte die Kapazitäten der Deutschen Botschaft in der kurdischen Hauptstadt Erbil, immerhin zuständig für die Visa-Vergabe. Erst nach fünf Monaten kamen die ersten Frauen in den Südwesten. "Ich bin nach den anfänglichen Schwierigkeiten, die wir hatten, mit dem Verlauf sehr zufrieden", sagt nun Staatssekretär Klaus-Peter Murawski (Grüne). Kizilhan geht davon aus, dass das Ziel von 1000 bis Jahresende erreicht wird.

Einsatz der Türkei im Nordirak schafft neue Probleme

Doch nun schafft der Einsatz der Türkei im Nordirak neue Schwierigkeiten. Seit vergangener Woche bombardiert das Militär Stellungen der kurdischen Arbeiterpartei PKK. "Wenn da irgendwelche Risiken oder Gefahren auftauchen würden, müssten wir das Projekt natürlich unterbrechen", sagt Murawski. Schließlich könne man weder für die Frauen noch für die Mitarbeiter der Landesregierung ein Risiko eingehen.

Weil die Deutsche Botschaft mit den Visa für die Frauen überfordert ist, sind seit März vier Mal Landesbeamte in den Nordirak gereist. Dass die zehn Freiwilligen zuvor nur zwei Tage an der Hochschule für Polizei in Villingen-Schwenningen geschult wurden, kritisieren unter anderem die FDP und der Beamtenbund als deutlich zu kurz. Murawski sagt dagegen: "Die Vorbereitung für diese Dienstreisen ist intensiver gewesen, als sie bei Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes praktiziert wird." Bisher sei alles gut gegangen.

Kizilhan selbst ist sechs Mal für das Projekt in den Nordirak geflogen. "Ich fühle mich sicher dort, sonst würde ich es nicht machen", sagt er, der selbst aus Kurdistan stammt. "Ich bin kein risikofreudiger Mensch." Er hat eine Frau und zwei Töchter, ist Hochschulprofessor an der Dualen Hochschule in Villingen-Schwenningen.

Der Mann mit den halblangen schwarz-grauen Haaren und der Brille mit schwarzem Rahmen reist am nächsten Tag wieder in den Nordirak. Er sitzt im Frühstückssaal eines Hotels in der Nähe des Stuttgarter Flughafens. Sein Linienflug nach Erbil dauert viereinhalb Stunden. Am dortigen Flughafen wird ihn ein Fahrer mit gepanzertem Wagen abholen und in das nordwestlich gelegene Dohuk bringen, erzählt Kizilhan. Die Routen ändern sich jedes Mal.

Er kennt Dohuk als eine Stadt, die von ehemals 400 000 Einwohnern aufgrund der Flüchtlingsströme auf etwa eine Million angewachsen ist. Darum herum gruppieren sich 24 Flüchtlingscamps mit je 16 000 bis 18 000 Bewohnern - bis zu 432 000 Menschen. Die Landesregierung arbeitet nach eigenen Angaben im Nordirak mit Flüchtlingsorganisationen zusammen. Für das Projekt gibt es Anmeldeformulare, die auch in den Flüchtlingscamps verteilt werden. Alle Frauen werden, wie Kizilhan sagt, von einer kurdischen Gynäkologin untersucht. Danach spricht er mit ihnen. Bisher mit 637 Frauen. Er schaut, ob sie Gefahr laufen, sich selbst zu töten, ob sie Schmerzen haben oder sich selbst verletzen - ob sie schwer traumatisiert sind und ob ihnen eine Therapie in Deutschland helfen könnte. Auf rund 90 Prozent der Betroffenen, die meisten von ihnen Jesidinnen, trifft das seiner Einschätzung nach zu.

"Die Dinge, die sie erlebt haben, bringen jeden gesunden Menschenverstand an den Rand des Verstehens", sagt Kizilhan, selbst Jeside. Er spricht von einer "Systematik des IS-Terrors" und von einer "faschistoiden Ideologie - alle, die nicht so leben wie sie, haben kein Recht zu leben."

Acht Monate qualvolle Gefangenschaft

Samira, die in Wirklichkeit anders heißt, hat er im Mai getroffen. Am 3. August 2014 haben IS-Kämpfer ihr Dorf überfallen, erzählt er. Das zierliche Mädchen mit den halblangen braunen Haaren steht kurz vor dem Abitur und will in Dohuk Jura studieren. Die Terroristen erschießen ihren Vater und ihre zwei Brüder. Der IS verkauft sie und ihre drei Schwestern in Syrien auf einem Sklavenmarkt. Am Ende landet sie bei einem Araber aus Australien, der sie vergewaltigt - wieder und wieder. "Sie wusste, jedes Mal, wenn er gesagt hat: Geh Dich waschen, dass er sie vergewaltigen wird", sagt Kizilhan. Sie reibt sich mit Fäkalien ein, um den Mann auf Abstand zu halten. Irgendwann erlaubt er seinen sechs Wärtern, sie zu vergewaltigen. Eine Nacht lang - alle nacheinander. Nach insgesamt acht Monaten kann sie fliehen.

Kizilhan schreibt die medizinisch-psychologischen Gutachten für das Staatsministerium. Anschließend überprüfen Landesbeamte die Frauen für die Visa. In einer dritten Stufe untersuchen Mitarbeiter der Internationalen Organisation für Migration die Frauen auf ansteckende Krankheiten. Die Auswahl für das Sonderkontingent treffen Kizilhan sowie zwei Beamte des Landes, betont Staatssekretär Murawski. Das Projekt steht unter besonderer Beobachtung. Beim Koalitionspartner SPD schüttelt heute noch manch einer den Kopf darüber. Ob man den Betroffenen nicht besser in ihrer Heimat helfen könnte? Immerhin stellt Grün-Rot innerhalb von drei Jahren bis zu 95 Millionen Euro bereit, mindestens 42 000 Euro pro Kopf, deutlich mehr als für einen regulären Flüchtling. "Ein absolut irrer Vorgang", heißt es aus Regierungskreisen. Kizilhan sagt dagegen, dass es in ganz Dohuk nur einen Psychotherapeuten gebe, eine Behandlung in der Region sei nicht möglich.

Auch dank der großzügigen, finanziellen Ausstattung hat das Land offenbar keine Probleme, genügend Unterkünfte für die Frauen zu finden. Mittlerweile sind sie laut Murawski in acht Kommunen untergebracht. Bei dem Profil der Frauen wolle man nun mal helfen, heißt es beim Landkreistag.

Die Aufenthaltsorte der Frauen sind geheim

Zum Schutz der Frauen teilt die Regierung nicht öffentlich mit, wo diese untergebracht sind. Nach Angaben des Innenministeriums gibt es in Baden-Württemberg "eine niedrige zweistellige Zahl" von Islamisten, die sich in Syrien und dem Nordirak dem IS anschließen wollten und wieder zurückgekehrt seien. "Wir behandeln die Sicherheitsfrage, wie wir sie auch bei einem Frauenhaus praktizieren würden", sagt Murawski. Geheimhaltung ist der beste Schutz. Konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung gebe es aktuell nicht.

Die betroffenen Städte arbeiten zum Teil mit Sicherheitsdiensten zusammen. "Wir haben alles Menschenmögliche getan, dann ist auch das Bauchgefühl okay", sagt ein Amtsleiter in einer der größeren Kommunen, die rund 50 Frauen und Kinder aufgenommen hat. "Gemessen an den Schwierigkeiten ist es sogar sehr gut gelaufen", sagt der Mann.

"Wir waren überrascht, wie normal die Frauen sind", berichtet die Flüchtlingsbeauftragte in einer kleineren Kommune. Dort besteht die Gruppe aus 14 Frauen sowie 30 Jugendlichen und Kindern, das Jüngste sechs Monate alt. Die Phase des Ankommens sei gut überstanden worden, erzählt die Betreuerin. Die Frauen lernten in einem Kurs Deutsch - sowie Lesen und Schreiben. Die Kinder gingen mit anderen Flüchtlingskindern in die Vorbereitungsklassen. Die Gruppe kaufe selbständig ein und koche für sich.

In dieser Woche sollen die ersten Therapiegespräche für neun Frauen in einer Einrichtung beginnen, die Erfahrung mit traumatisierten Flüchtlingen hat. Der verantwortliche Traumatherapeut vergleicht das Schicksal der Frauen mit dem von Zwangsprostituierten aus Nigeria. "Ich schätze, dass wir sie so zwei Jahre begleiten werden, dann sind sie flügge", sagt er.

Ab Herbst will nun auch Niedersachsen 40 IS-Opfer aufnehmen. Weitere Länder sollen Interesse angemeldet haben. Kizilhan spricht von allein 5600 Jesidinnen, die vom IS verschleppt wurden. Samira, so hofft er, wird im September nach Baden-Württemberg kommen.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


7 Kommentare verfügbar

  • Schwabe
    am 10.08.2015
    Antworten
    @Thomas Lederer (06.08.2015, 8:57 Uhr)
    "...Die Syrischen Frauen, um die es geht, sind wie Schwerverletzte Unfallopfer und müssen unmittelbar behandelt werden um überhaupt die Chance auf ein einigermaßen erträgliches Leben zu bekommen..."!
    Jetzt verstehe ich auch, warum alle privat Versicherten in…
Kommentare anzeigen  

Neue Antwort auf Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!