Sein Aufbegehren hat er sorgfältig in Ordnern und Klarsichtfolien abgeheftet. Die unzähligen Bewerbungen und Absagen, die Widersprüche gegen das Jobcenter, den Schriftverkehr mit den Anwälten, die Antwort auf die "gelbe Karte", als er sich bei der Stadt über seine Sachbearbeiter beschwerte. Es ist der Versuch, Ordnung in ein Leben zu bringen, das ihm mit andauernder Arbeitslosigkeit immer mehr aus den Händen zu gleiten droht. Er schleppt sie mit in die Redaktion als Beweis, dass er nichts Unmögliches verlangt. Dass er keine Rache will, niemanden beleidigen oder anschwärzen will. "Ich möchte, dass man mir mit Respekt begegnet", sagt Jürgen G. mit ruhiger Stimme, während er seine Geschichte erzählt. So klingt einer, der nicht nur um einen Job, sondern auch um seine Würde kämpft.
Doch für Würde fühlt sich das Jobcenter nicht zuständig. Hier geht es darum, wer was und wie viel zahlt: für die gewünschte Fortbildung, für die Bewerbungsfotos und den Gründungszuschuss für die angestrebte Selbstständigkeit als Heilpraktiker. Es ist ein Hickhack um Zuständigkeiten, Kürzungen und Paragrafen, hinter denen der Mensch zu verschwinden droht. "Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jobcenters Stuttgart begegnen den Bürgerinnen und Bürgern grundsätzlich in respektvoller und kompetenter Form", schreibt Christopher Haag, Pressesprecher des Jobcenters, im Auftrag der Amtsleitung. Seit vor zehn Jahren die Hartz-IV-Gesetze eingeführt wurden, ist Arbeitslosigkeit kein strukturelles Problem mehr, sondern ein individuelles.
Jürgen G. fühlt sich nicht kompetent und respektvoll unterstützt, sondern verwaltet. Behandelt als lästiger Kostenfaktor, nicht als Mensch. "Wir leben in einer egomanischen Gesellschaft", sagt der 51-Jährige, und die Ruhe verschwindet aus seiner Stimme, "nur das Ich zählt." Viel gelernt habe er in dieser Zeit der Jobsuche, sagt er bitter, in dieser Arbeitslosigkeit, die für ihn zur persönlichen Krise geworden ist: dass er nämlich in einer "sozialrassistischen, entsolidarisierten, behindertenfeindlichen Welt" lebe. Die Hilflosigkeit hat aus dem Krankenpfleger einen zornigen Mann gemacht. Wer seit acht Jahren vergeblich versucht, finanziell und beruflich auf die Beine zu kommen, dem fehlt die Kraft für Geduld und Verbindlichkeit.
Dabei hatte sein berufliches Leben so vielversprechend begonnen. An den Abschluss der mittleren Reife schloss er eine Ausbildung zum Krankenpflegerhelfer an, besuchte zwei Jahre die Krankenpflegeschule in Tübingen, arbeitete dann zwei Jahre als Pfleger in der Tübinger Kieferchirurgie, anschließend bis 1999 in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Die Zeugnisse, auch sie sorgsam abgeheftet, bescheinigen ihm großes Engagement bei der Patientenbetreuung und bei der Fortbildung. Die Arbeit machte ihm Spaß. Doch eine angeborene Kiefer-Gaumen-Spalte zwang ihn immer wieder zu Operationen, Nachoperationen, Korrekturen. 17 seien es bisher gewesen. Das Handicap und seine gesundheitlichen Folgen hätten es ihm zuletzt unmöglich gemacht, in der Nachtschicht zu arbeiten.
Am Ende einer Abwärtsspirale steht ALG II
Er kündigte in Tübingen, auch weil er nach eine neue Herausforderung suchte. Man sollte meinen, dass Krankenpfleger beste Chancen haben, auch wenn sie nachts nicht arbeiten können. Doch die anschließenden Jobs dauerten meist nur wenige Jahre oder gar Monate. Der Mann, der Lob und Akzeptanz gewohnt war, musste feststellen, dass seine Arbeit keine Wertschätzung erfuhr. Immer verzweifelter schrieb er Bewerbungen, immer deprimierter wurde er über Ablehnungen. In Fortbildungen suchte er sein Heil, Astrologe wurde er, Heilpraktiker, alles selbst bezahlt, wie er sagt. Das Geld wurde knapp im Laufe der Jahre. Seit 2008 bezieht Jürgen G. Arbeitslosengeld II.
11 Kommentare verfügbar
Liane
am 15.07.2015Ganz stolz verkündet die Agentur sie hätten über 120 Mio an Strafgelder einbehalten... dass das für die Betroffenen weniger Brot, weniger Kleidung, wenig…