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Schule in der Steinzeit

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Zu Baden-Württembergs Identität gehört die Überzeugung, einen Stammplatz auf der Überholspur zu haben. Das schöne Bild hat unschöne Flecken: Nach 58 Jahren CDU ist der gesellschaftspolitische Nachholbedarf beträchtlich. Beim Umgang mit behinderten Kindern wird er besonders schmerzlich offenbar.

Vier Tage sind die Abgeordneten des Schulausschusses aus dem baden-württembergischen Landtag in Südtirol unterwegs, vier Tage reiht sich Tiefschlag an Tiefschlag. Gleich zum Auftakt, bei der Diskussion mit den Bildungswissenschaftlern an der Freien Universität Bozen, wird deutlich, dass jenseits des Brenners mitnichten alles nur rund läuft beim anspruchsvollen Thema. Aber die Richtung stimmt und die Basis ebenfalls, auf der darüber diskutiert wird, wie die Allgemeinheit Kindern und Jugendlichen selbst mit schwersten Beeinträchtigungen und nicht zuletzt auch deren Familien im Unterricht gerecht wird.

Seit Mitte der Siebziger sind Sonderschulen hier Geschichte und alle Noten abgeschafft. Schüler und Schülerinnen erleben zuerst im Kindergarten und dann von Klasse eins bis acht, dass Anderssein selbstverständlich ist. Vor allem aber werden die Betroffenen und ihre Eltern nicht mehr vor die Qual der Inklusionswahl gestellt. Keine Mutter und kein Vater muss sich eine Entscheidung darüber abringen, welche Variante des Miteinanders richtig sein könnte für den eigenen Sprössling. "Der Gesetzgeber erspart uns, diese Diskussionen zu führen", sagt eine der Gesprächspartnerinnen aus der Schulverwaltung.

Genau diese Qual der Wahl muss die grün-rote Landesregierung in den kommenden Wochen in Paragrafen gießen. Fast zehn Jahre nach der Verabschiedung der UN-Behindertenkonvention hat eine Reform auf der Höhe der Zeit noch immer keine Chance im Südwesten, weil sich zu viele Eltern genauso wie Teile der Verwaltung und des politischen Establishments verweigern. Die einen bangen um den Bildungserfolg ihrer Kinder, wenn in deren Klasse Behinderte sitzen. Andere, allen voran oppositionelle Fachpolitiker, unterstützen sie in ihrem Egoismus und in ihrer falschen Leistungsideologie, problematisieren den gemeinsamen Unterricht, statt dafür zu werben.

Inklusiver Unterricht – eine Bereicherung für alle

Es gibt keine belastbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse, die Parallelstrukturen – hier allgemeinbildende, dort spezielle Schule – Vorzüge zuschreiben. Im Gegenteil, seit Jahren sind die Erfolge des Südtiroler Wegs ohne jede Separation – sogar in Krankenhäusern werden zumindest Stunden gemeinsam unterrichtet oder durch neue Medien übertragen – untersucht und beschrieben. "Wir haben einfach das bessere System", weiß Veronika Stirner von der SVP, der Schwesterpartei der Union, das Miteinander bringe die besseren Ergebnisse für alle: "Absonderung könnte das nie leisten."

Einige Bildungspolitiker der CDU – die FDP ist auf der Reise gar nicht vertreten – können das einfach nicht glauben. Das zeigen jede Menge Fragen voller Zweifel: Weichen nicht viele Eltern, die die Sonderschulförderung für ihr Kind bevorzugen, in Internate im benachbarten Österreich aus? Nein. Ist der Anspruch der Inklusion in der Praxis denn überhaupt überall erfüllbar? Ja. Werden alle Schüler und Schülerinnen angemessen unterstützt? Der Unterricht ist immer eine Bereicherung für alle.

"Es stimmt einfach nicht, dass die Kinder ohne Benachteiligung keine guten oder sehr guten Leistungen bringen können", weiß Stirner, die selber als Lehrerin Erfahrungen gesammelt hat. Wie reagieren die Eltern darauf, dass in der Klasse ihrer Kinder Kinder mit Benachteiligungen sitzen? Der erfahrene Direktor der Fachoberschule für Landwirtschaft in Auer, vergleichbar einem beruflichen Gymnasium, kann sich an keinen einzigen Fall von Elternprotest in seiner langen Laufbahn erinnern. "Es läuft bei uns nicht alles positiv", bekennt er offen, "aber die Botschaft des Gesetzgebers ist absolut unmissverständlich."

Ab dem dritten Lebensjahr gehen alle Kinder in den gemeinsamen Kindergarten, der politisch und verwaltungstechnisch im Schulressort verankert ist. Erzieherinnen und Lernpersonen – wie es geschlechtsneutral so schön heißt – absolvieren eine gemeinsame Ausbildung mit Bachelor und Master und können den sogenannten Integrationslehrer draufsatteln. In den betroffenen Klassen unterrichten die meiste Zeit zwei Pädagogen, außerdem steht den Kindern, je nach Benachteiligung, ein Mitarbeiter ausschließlich für die technische und persönliche Hilfe zur Verfügung: beim Essen, im Klassenraum, aber auch in der Ruhephase, sollte der Unterricht zu stressig werden.

Viele Jugendliche, etwa mit Downsyndrom, absolvieren auf diese Weise die allgemeine staatliche Abschlussprüfung nach acht Jahren, zumindest in bestimmten Fächern. Selbst ohne diese Abschlussprüfung steht allen(!) behinderten Schülern und Schülerinnen der Wechsel aufs Gymnasium offen. Der Übergang ins Berufsleben ist zumindest eine so große Hürde wie in Deutschland. Aber die Schule, die Einheitsschule, sagt eine der Professorinnen stolz, die funktioniert, weil sie "ohne Abstriche jedes Kind willkommen heißt". Noch so eine skeptische Abgeordnetenfrage: Es darf also quasi niemand abgelehnt werden? Die Antwort der Brunecker Professorin Edith Brugger-Paggi steht für's System: "Quasi gibt es bei uns nicht."

Südtirol blickt stolz auf eine funktionierende Einheitsschule

Der Aufholbedarf im Südwesten ist deshalb so immens, weil die Schulrealität insgesamt modernen Anforderungen nicht entspricht. Die CDU verweigert sich – selbst entgegen eigenen Bundesparteitagsbeschlüssen – einer Strukturreform. "Besonders in den Ländern, in denen das tradierte dreigliedrige Sekundarschulsystem noch stark ist, findet Inklusion in der Exklusion statt", schreibt ihr der Bildungsforscher Klaus Klemm per Studie im Auftrag der unverdächtigen Bertelsmann-Stiftung ins Stammbuch. Was allerdings auch nichts nützt, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Gebetsmühlenhaft beschwören die CDU-Experten ihr Credo vom besseren Schulerfolg durch die Trennung nach Klasse vier.

Selbst PISA, so gern ins Feld geführt, wenn es ums vergleichsweise gute Abschneiden Baden-Württembergs in bestimmten Teilbereichen geht, kann nicht überzeugen. Dabei liegt Südtirol im Länder/Provinzen-Vergleich beim Lesen sogar vor dem Dauersieger Finnland, in Mathe etwa gleichauf mit Baden-Württemberg und ausgerechnet in den Naturwissenschaften mit stolzen 530 Punkten im direkten Vergleich deutlich vorn. Trotz – oder wegen, wie die Verantwortlichen in Bozen sagen würden – der Einheitsschule bis zum 14. Lebensjahr. "Warum behalten Sie die Zweigleisigkeit?", will eine der Bildungswissenschaftlerinnen von den Gästen wissen und appelliert an sie, die Reform "doch mit Mut und ohne Hintertürchen" anzugehen. Der Direktor der Sozialdienste im Bezirk Überetsch berichtet von einem Besuch jüngst im renommierten Spastikerzentrum in München, in das tagtäglich Hunderte Kinder aus der ganzen Region zum Unterricht gebracht werden. Unverständlich sei das für die Südtiroler Verantwortlichen, "schockierend eigentlich".

Botschaften aus der pädagogischen Steinzeit

Inklusion ist nicht nur eine Frage der Haltung. Für Politiker und -innen ist es eine Charakterfrage. Weil es nicht um Wirtschaftskraft und Wettbewerb, um Schienen- oder Straßenbahn geht, sondern um Kinder. Da dürften gesicherte Erkenntnisse nie beiseitegeschoben werden, um sich an die eigene Ideologie zu klammern. Der Fortschritt ist hierzulande auch deshalb eine derartig phlegmatische Schnecke, weil CDU und FDP im Kampf um Wählerstimmen Vorurteile untermauern, statt bei der Überwindung mitanzupacken. Selbst in Pionierregionen im Land wie in Freiburg, wo Eltern ihre Kinder in den Achtzigern sogar in den Regelkindergarten einklagen mussten, ist die Tendenz zur Sonderschule dementsprechend ausgeprägt: Von den gut 500 Kindern zur Einschulung, die der sonderpädagogische Dienst im vergangenen Herbst testete und deren Eltern eingehend beraten wurden, fiel nur für 77 die Entscheidung zugunsten des inklusiven Bildungsangebots.

Die FAZ hat sich zum Sprachrohr der Ewiggestrigen gemacht, verbreitet Botschaften aus der pädagogischen Steinzeit: "Immer mehr zeigt sich der utopische, weltfremde Charakter einer Heilsidee, die über keinen positiven Begriff von Ungleichheit verfügt – als ergäbe sich aus der Gleichheit vor dem Gesetz (oder vor Gott) die Notwendigkeit, jedweden empirischen Unterschied zu ignorieren." Dem Expertenbericht der Vereinten Nationen kreidet solche Polemik die sachliche Feststellung an, dass "von einer Weichenstellung hin zu einem 'inklusiven System' erst dann gesprochen werden kann, wenn die sonderpädagogische Förderung systematisch und strukturell in der allgemeinen Schule verankert ist".

Im Landtag ist die Novelle des baden-württembergischen Schulgesetzes derzeit in der Beratung. An Wahlmöglichkeit und Doppelstrukturen wird sich vorerst nichts ändern. Nicht einmal die hohen Kosten, auf anderen Gebieten gern ausschlaggebendes Argument, stimmen die Konservativen um. Mehr noch: Die CDU-Fraktion fordert sogar den teuren, Ressourcen bindenden Bestandsschutz für alle einschlägigen Einrichtungen im Land. Und ihre inklusionspolitische Sprecherin, Ex-Sozialministerin Monika Stolz, kennt keine Scheu, auch noch offen auszusprechen, dass es der Druck der Opposition war, der die Zeitenwende verhinderte und Grün-Rot in die Knie gehen ließ: "Wir begrüßen insbesondere, dass die Landesregierung in einer Grundsatzfrage lernfähig war und gegen die Ideologen in den eigenen Reihen unserer Meinung gefolgt ist, dass wir trotz der Inklusion unsere hervorragenden Sonderschulen erhalten müssen." Dabei wirbt die Mutter von vier Kindern gerne mit dem Wahlspruch: "Die Zukunft ist für Schwache das Unerreichbare, für Furchtsame das Unbekannte, für Tapfere die Chance." Aber nur auf dem Papier.


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5 Kommentare verfügbar

  • Judith Dibiasi
    am 10.07.2015
    Antworten
    Wir wurden in Italien mit diesem Gesetz in die Umstellung buchstäblich hineingeworfen, mussten uns auf die Situation einstellen, haben auch anfangs viele Fehler gemacht- aber jetzt funktioniert es wunderbar. Ihr dürft nicht zu kompliziert denken! Allein schon die Tatsache, dass Kinder ohne…
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