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Hungern für den Kopfbahnhof

Hungern für den Kopfbahnhof
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Der S-21-Gegner Ernest Petek sitzt sechs Tage in Erzwingungshaft, weil er sich weigert, ein Bußgeld für eine Blockadeaktion zu zahlen. Dabei hat die Polizei inzwischen eingeräumt, dass sie damals rechtswidrig gehandelt hatte. Ernest Petek ging in den Hungerstreik.

"In diesem Moment musste ich mich entscheiden: Zieh ich mein Vorhaben durch, oder halte ich mein Versprechen, dass ich meiner Tochter gegeben habe?" Am 5. Juni 2015 steckt Ernest Petek in einem Dilemma. Und es ist kein bloß moralisch-philosophisches, sondern ein sehr konkretes: Stimmt er der Zahlung von 200 Euro zu, wird er aus dem Gefängnis entlassen und kann seinen Hungerstreik nach sieben Tagen wieder beenden. Das will seine Tochter, aber das will er nicht. Doch wenn er nicht zahlt, muss er 20 weitere, zusätzliche Tage im Gefängnis bleiben – und die Nahrungsaufnahme verweigern. Damit würde er sein Leben ernsthaft gefährden. "Ich habe dann der Zahlung zugestimmt. Im Nachhinein glaube ich, das war nicht richtig."

Ernest Petek ist Rentner, er ist stur, er ist ein Dickkopf und er ist Vollzeit-S-21-Gegner. Seine E-Mails beendet er mit "Obenbleiber Ernest Petek". Ein drahtiger Typ, der früher in der Gewerkschaft aktiv war, aber dann ausgetreten ist, weil die ihm nicht entschieden genug gegen "diese Katastrophe, die Amputation des Stuttgarter Bahnhofs" vorgegangen ist. Einer, der sich in seine Prozessakten reingefuchst hat und der einem in drei Sätzen erklärt, wieso S 21 verfassungswidrig ist.

Seine Geschichte erzählt er ausführlich und ruhig. Nur manchmal regt er sich auf: wenn es um's Grundsätzliche geht, um die Zukunft, das (Wirtschafts-)System und dessen Jasager. Ernest Petek ist ein S-21-Gegner der ersten Stunde. Seit 1995 setzt er sich ein gegen die Tieferlegung des Bahnhofs und die damit verbundene Untertunnelung der Stadt Stuttgart. "Mir kann keiner sagen, wir hätten unsere Bedenken früher anmelden sollen."

Polizei erkennt Blockadefrühstück nicht als Versammlung an

In den Jahren 2012 und 2013 nimmt Petek an sogenannten Blockadefrühstücken teil. Drei Jahre später sitzt er deshalb im Knast. Wie kam das?

S-21-Aktivisten blockieren am Kurt-Georg-Kiesinger-Platz öffentlichkeitswirksam die Zufahrt zur Bahnhofsbaustelle. Die Polizei geht vor, als hätte sie es mit einer sogenannten Verhinderungsblockade zu tun. Sie behandelt die Aktivisten nicht als Versammlung im Sinne der Versammlungsfreiheit. Und löst die Versammlung somit nicht ordentlich auf. Die Ordnungshüter entfernen nur die Blockierer und nehmen ihre Personalien auf, weil sie sich einer Behinderung des Straßenverkehrs schuldig gemacht haben sollen. In vier Fällen zieht dies für Petek ein Rechtsverfahren nach sich.

Das Amtsgericht Stuttgart entscheidet in diesen vier Fällen, dass Ernest Petek ein Bußgeld zahlen muss. Dagegen legt er Widerspruch ein, allerdings ohne Erfolg. Am Ende handelt es sich um insgesamt 350 Euro für vier Fälle. Der Tübinger Rechtsanwalt Wolfram Leyrer, der ihn in der Angelegenheit vertreten hat, erklärt: "Vor dem Amtsgericht habe ich ausführlich die rechtliche Lage dargelegt und aufgezeigt, dass die Polizei damals rechtswidrig handelte." Das Gericht folgte allerdings der Staatsanwaltschaft und verhängte das Bußgeld. Damit hat es "die Augen vor dem Grundrecht verschlossen", sagt Leyrer. Eine Rechtsbeschwerde gegen das Urteil lässt das Oberlandesgericht nicht zu: Das verhängte Bußgeld sei zu gering.

Ernest Petek weigert sich allerdings weiter, die Bußgelder zu zahlen. Deshalb verhängt das Vollstreckungsgericht sieben Tage Erzwingungshaft. Pro 50 Euro ein Tag. Die Haft soll Petek im Januar 2015 antreten. Tut er aber nicht. Stattdessen legt er wiederum Widerspruch ein. Was er nicht weiß: Am 13. Mai 2015 stellt das Vollstreckungsgericht einen Vorführungsbefehl aus. Ernest Petek wird jetzt polizeilich gesucht, um ihn hinter Gitter zu bringen.

Unabhängig von den Prozessen gegen Ernest Petek reichen die damaligen Demonstranten um den bundesweit bekannten Aktivisten Holger Isabelle Jänicke in einem der Fälle beim Verwaltungsgericht Fortsetzungsfeststellungsklage gegen das Vorgehen der Polizei ein. Mit einer solchen Klage strebt der Kläger an, dass ein Gericht nachträglich die Rechtswidrigkeit eines bereits erledigten Verwaltungsakts feststellt. Am 20. Februar 2015 urteilt das Verwaltungsgericht: Das damalige Verhalten der Polizei war rechtswidrig. Sie hätte die Blockadefrühstücke als durch Paragraf 8 des Grundgesetzes geschützte Versammlung anerkennen und behandeln müssen und nicht nur als reine Verhinderungsblockade.

Dieses Verfahren bezieht sich auf einen der Fälle, in denen Ernest Petek ein Bußgeld zahlen soll. Die anderen drei Fälle sind identisch gelagert. "Ich habe gedacht, mit dem Urteil des Verwaltungsgerichts haben sich die vier Bußgeldverfahren für mich erledigt. Und natürlich auch die Erzwingungshaft. Schließlich hat das Referat Recht und Datenschutz des Polizeipräsidiums (PP REDAS) selbst die Rechtswidrigkeit anerkannt." Allerdings bezieht sich das Urteil des Verwaltungsgerichts nicht auf das Verfahren am Amtsgericht gegen Petek. Nur der Ausgangspunkt ist derselbe.

Plötzlich wird Petek in Gewahrsam genommen

Als Ernest Petek Ende Mai aus dem Urlaub zurückkommt, erfährt er von den Nachbarn, dass die Polizei ihn zu Hause gesucht habe. Er stellt keinen Zusammenhang zu der Erzwingungshaft her, sondern geht davon aus, dass die Beamten ihn in einer anderen Angelegenheit sprechen wollten. Denn besagte Bußgeldverfahren sind weder die ersten noch die einzigen Verfahren, die gegen den Aktivisten laufen. Unter anderem war er kurz zuvor in zwei anderen Fällen (Nötigung und Hausfriedensbruch) zusammengefasst zu 20 Tagessätzen à 10 Euro verurteilt worden.

Am Samstag den 30. Mai steht Petek auf der Polizeiwache, um nachzufragen, worum es denn gegangen ist bei diesem Hausbesuch. Bis dahin denkt er noch, der hänge mit Sicherheit mit Nötigung und Hausfriedensbruch zusammen. Die Beamten allerdings zeigen ihm den Vorführungsbefehl und nehmen ihn in Gewahrsam. 

Rechtsanwalt Leyrer legt gegen die Vollstreckung Widerspruch ein – vergeblich. "Man kann sagen, der Staat hat in Kenntnis dessen, dass das Verfahren rechtswidrig war, das Urteil vollstreckt." Ganz anders sieht das Claudia Krauth von der Stuttgarter Staatsanwaltschaft: "Manchmal bewerten verschiedene Gerichte denselben Sachverhalt unterschiedlich. Wenn ein Urteil des Amtsgerichts rechtskräftig ist, kann das Verwaltungsgericht da nicht mit einem eigenen Urteil in die Entscheidung reingrätschen. Solch einen Automatismus gibt es nicht."

"Innerlich war ich bereit, mein Leben dagegenzustellen"

Mit seiner Unterbringung in der Polizeizelle beginnt Ernest Peteks Hungerstreik. Das Abendessen lässt er stehen. So hat er es sich vorgenommen, als die Wahrscheinlichkeit eines Gefängnisaufenthalts immer realer wurde. Als die Anti-Bahnhofs-Proteste im Jahr 2010 hochkochten und die Polizei hart gegen die Demonstrierenden vorging, war Petek klar: "Die wollen uns einschüchtern. Aber ich lasse mich nicht einschüchtern. Wenn die mich irgendwann ins Gefängnis bringen, werde ich mit einem Hungerstreik antworten. Innerlich war ich bereit, mein Leben dagegenzustellen."

Am Sonntag wird Petek mit zwei anderen Männern nach Stammheim gebracht. Einem jungen Kerl legen die Polizisten Fußfesseln an, Petek und den Dritten im Bunde fesseln sie aneinander. Damit sie nicht fliehen. Der S-21-Gegner war noch nie im Gefängnis, die Situation ist fremd und unangenehm. "Klar versteh ich, dass die uns fesseln. Das ist wahrscheinlich das normale Vorgehen. Aber trotzdem fühlt man sich da gedemütigt." Im Kastenwagen geht's dann zum Knast. Dort beginnt das Erfassungsprozedere. "Ich musste mich nackt ausziehen, alle meine Sachen kamen in einen großen Sack." Als Häftling trägt man Einheitslook. Petek ist ein schmächtiger Mann, der graubraune Overall schlabbert an allen Enden.

Als ihm zur Anstaltskleidung auch Geschirr ausgehändigt wird, sagt er: "Das brauch ich nicht, ich bin im Hungerstreik." Das Geschirr muss er trotzdem mitnehmen. Eine Anstaltsärztin rät ihm, unbedingt viel zu trinken, um seinem Körper nicht zu schaden. Petek ist in einer Viererzelle untergebracht. Seine Zellengenossen überlassen ihm ihren Kaffee, damit er wenigstens eine kleine Energiezufuhr hat. "Die haben mich gut unterstützt." Petek liegt viel, spart Energie. Aber er ist auch froh über die tägliche Stunde Hofgang. Denn viel zu tun gibt es nicht im Gefängnis. Zweimal die Woche dürfen die Häftlinge duschen, ein weiteres Highlight.

Am Dienstag besucht ihn seine Tochter. "Warum können deine Enkel nicht einen normalen Opa haben?", fragt sie ihn. Dabei macht er das alles – die S-21-Proteste, die Weigerung zu zahlen, den Hungerstreik – doch nur für die, sagt er. "Für die Zukunft." Denn mit dem Tiefbahnhof werde etwas gut Funktionierendes zerstört. "Die Milliarden zahlen am Ende meine Enkel und müssen mit den Folgen leben. Wenn weniger Züge fahren können, fahren noch mehr Menschen auf der Straße."

20 Tage länger in Haft – oder zahlen

Die Tochter sorgt sich allerdings weniger um eine abstrakte Gefährdung in der Zukunft, sondern vielmehr um den sehr konkreten Gesundheitszustand ihres Vaters. "Ich musste meiner Tochter versprechen, dass ich meinen Hungerstreik nicht nach der Haft fortsetze." Das hatte Petek ja auch nicht vor, und bei Haftantritt ging er davon aus, dass er nach sieben Tagen wieder entlassen würde. Doch dann kommt alles ganz anders: Am Freitagvormittag ruft eine Sozialarbeiterin der JVA ihn zu sich ins Büro: Die Staatsanwaltschaft hat per Fax eine Haftverlängerung um 20 Tage verfügt. Hierbei handelt es sich um eine Ersatzfreiheitsstrafe, jetzt wiederum für die Verfahren zu Nötigung und Hausfriedensbruch.

Peteks erste Reaktion: "Na gut, dann soll ich halt bleiben." Seinen Hungerstreik will er fortsetzen. Sein Körper ist geschwächt, er hat Schluckbeschwerden, die Kopfhaut juckt, im Hals sitzt ein ständiger Hustenreiz. Er ruft seinen Anwalt an, will wissen, ob der eine Zwangsernährung verhindern kann. "Aber sowohl der als auch die Sozialarbeiterin sagten, dass sie das nicht verantworten können." Schließlich stimmt Petek der Zahlung von 200 Euro (20 Tagessätze à 10 Euro) zu, um nach der Erzwingungshaft entlassen zu werden. Telefonisch verständigt er seinen Schwiegersohn und macht sich auf seinen letzten Tag in Haft gefasst.

Doch es folgt eine weitere unerwartete Wendung: Wenige Stunden später kommt ein Aufseher in die Zelle: "Petek, einpacken, Sie sind entlassen." Ernest Petek kann es zunächst gar nicht glauben, will gar den Irrtum aufklären. Aber der Beamte ist sich sicher, dass er den Richtigen entlässt. Peteks Schwiegersohn hatte bei der Haftanstalt angerufen. Er wollte wissen, ob er das Geld überweisen kann und an wen. Eine Überweisung wäre allerdings frühestens am darauffolgenden Montag angekommen und Petek hätte zwei Tage länger im Gefängnis bleiben müssen. Der Schwiegersohn solle die 200 Euro doch gleich bar bringen, sagt man ihm. Und wenn er 250 Euro zahle, könne Petek sofort raus. Denn dann sind zusätzlich zu den 200 Euro Strafe ja auch die letzten 50 Euro Bußgeld (entspricht einem Tag Erzwingungshaft) beglichen.

Nach sechs Tagen ist Ernest Petek wieder auf freiem Fuß. Um 13.15 Uhr verlässt er die JVA Stammheim. "Der Beamte ist mit mir vom Gebäude bis zur Pforte gelaufen. Ich war frei."

Zu Hause kocht der freie Mann sich erst einmal eine Suppe mit Brot. An vollwertige Mahlzeiten muss er seinen Körper erst wieder gewöhnen. Der Hungerstreik sei ihm unerwartet leicht gefallen. "Ich hatte mit mehr Schwierigkeiten gerechnet. Aber durch meinen starken Willen ging das gut." Bleibende Schäden hat er nicht davongetragen; nach einer Woche ist er wieder der Alte. "Wenn es nötig ist", sagt er, "werde ich sofort wieder in den Hungerstreik treten. Ich würde das aushalten."


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15 Kommentare verfügbar

  • Ernest Petek
    am 11.03.2022
    Antworten
    Da darf doch sicherlich von mir, als direkt Betroffener der Polizei-Maßnahmen und durch die Staatsanwaltschaft, diese Anmerkung sein - Zitat aus diesem Artikel:
    Ganz anders sieht das Claudia Krauth von der Stuttgarter Staatsanwaltschaft: "Manchmal bewerten verschiedene Gerichte denselben…
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