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"Der perfekte Tatort"

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Matthias Katsch war Schüler des Berliner Canisius-Kollegs und hat die sexuellen Übergriffe öffentlich gemacht. Er saß am Runden Tisch des Missbrauchsbeauftragten und hat den Eckigen Tisch für Betroffene gegründet. Dass nun auch die evangelische Kirche mit Korntal ihren Skandal hat, überrascht ihn nicht.

Herr Katsch, Sie sind wegen Korntal zum Kirchentag gekommen. Wie wichtig war dieses Podium Missbrauch und Kirche hier in Stuttgart?

Es wäre ein Unding gewesen, bei einem Kirchentag im Schwäbischen den Fall Korntal außen vor zu lassen. Und ich hätte mir in der ersten Reihe den Landesbischof July gewünscht. Wichtig ist, dass man an der Spitze Bereitschaft signalisiert, zuzuhören und solche Prozesse auszuhalten. Dass das nicht angenehm ist, hat Bischöfin Fehrs auf dem Podium sehr deutlich gemacht. Wichtig war außerdem, dass mit Detlev Zander jemand auf dem Podium saß, der mutig vorangegangen ist. Es müssen die Betroffenen sein, die sprechen, sonst passiert nichts.

Landesbischof July hat den Stand der Betroffenen besucht, Verantwortliche der Brüdergemeinde saßen bei der Podiumsdiskussion in der ersten Reihe. Es gibt im Schwäbischen die Besonderheit, dass die Evangelische Brüdergemeinde zwar mit der Landeskirche vertraglich verbunden, aber als eigenständige Körperschaft nicht weisungsgebunden ist.

Das kenne ich von der katholischen Kirche auch, in der einzelne Klöster oder einzelne Bistümer selbständig sind. Trotzdem: Wenn es der Kirche in den Kram passt, wenn man vom Staat etwas will, dann redet man von der Kirche als Gesamtinstitution. Aber wenn einer etwas von der Kirche will, dann sind plötzlich rechtlichen Konstrukte wichtig, die alle so stimmen mögen. Aber hier geht es auch um moralische Fragen. Und da müssen die Verantwortlichen aus der ersten Reihe Gesicht und Präsenz zeigen und sich auch unangenehmen Fragen stellen. Ich bleibe dabei: Der Bischof hätte in der ersten Reihe sitzen müssen.

Die Vertreterin der EKD auf dem Podium hat doch deutlich gemacht, dass die Evangelische Kirche nicht untätig geblieben ist.

Aber der eigentlich skandalösen Frage, wieso ausgerechnet die Kirchen so ein Unglück über Kinder und Jugendliche in der Heimerziehung bringen konnten, ist man nicht nachgegangen. Und so war ich nicht erstaunt über die Vorwürfe gegen die Evangelische Brüdergemeinde. Korntal ist der perfekte Tatort, ein Hoch-Risiko-Ort: wo aus religiösen Motiven heraus keine Transparenz und Kritik herrschen, wo man nur nach innen guckt und das Außen als feindlich wahrnimmt. In einem solchen Klima, wo es patriarchalisch und hierarchisch zugeht, sind Kinder gefährdet. Das kenne ich aus dem katholischen Bereich und für mich war es nur eine Frage der Zeit, bis es auch im evangelischen Bereich ans Tageslicht kommt.

In Korntal wird seit Anfang des Jahres unter der Leitung der Erziehungswissenschaftlerin Mechthild Wolff aufgearbeitet. Sie saßen am Runden Tisch in Berlin, Sie haben den Eckigen Tisch für Betroffene von Missbrauch gegründet, seit fünf Jahren kennen Sie solche Prozesse aus eigener Erfahrung. Wo lauern die Gefahren?

Die strukturelle Ohnmacht der Betroffenen setzt sich auch hier fort. Als kleine ehrenamtliche Initiative müssen sie sich Gehör verschaffen und sehen sich dabei wieder einer mächtigen, reichen Institution gegenüber. Da ist es wichtig, dass die Institution Empowerment betreibt und den Betroffenen hilft, indem sie die Vereinigung der Betroffenen finanziell unterstützt und in die Lage versetzt, diese Rolle überhaupt wahrnehmen zu können.

Ein solcher Prozess braucht einen starken, neutralen Dritten, um das Machtgefälle auszugleichen?

Eigentlich bräuchten wir für derartige Fälle eine Unabhängige Aufarbeitungskommission, die das Parlament einsetzt. Aber es ist gut, wenn auch die Institution Anstrengungen unternimmt, die Vergangenheit aufzuklären. Wer dabei die Rolle der dritten Instanz übernimmt, muss an der Seite und mit dem Blick der Betroffenen auf den Konflikt schauen. Das muss die Institution Kirche, und in dem Fall die Brüdergemeinde Korntal, aushalten. Man kann einem solchen Prozess nicht neutral vorstehen, ohne Sympathie und Empathie für die Opfer. Frau Wolff muss nicht blind sein wie Justitia und das ist sie, denke ich, auch nicht.

Das kann auch mit einem Rausschmiss enden, wie die Deutsche Bischofskonferenz deutlich gemacht hat. Die hat dem Kriminologen Christian Pfeiffer nach zwei Jahren den Auftrag entzogen. Wer zahlt, bestimmt, was veröffentlicht wird?

Das ist ein Strukturproblem. Irgendwer muss bezahlen, und gerechterweise sollte von der Institution gezahlt werden, in der Missbrauch und Demütigungen stattgefunden haben. Es muss klar sein, auf welcher vertraglichen Grundlage man arbeitet. Das war auch bei Pfeiffer das Problem: Erst als es krachte, erfuhr die staunende Öffentlichkeit, wer da welche Absprachen getroffen hat. Das sollte vorher öffentlich gemacht werden. Auch in Korntal sollten die vertraglichen Grundlagen transparent sein. Man kann etwa als Wissenschaftler nicht gleichzeitig untersuchen und forschen.

Was spricht dagegen, die Aufklärung der Vorwürfe auch noch wissenschaftlich zu erforschen?

Wer unabhängig sein will, darf keine Eigeninteressen verfolgen. Doch wer wissenschaftlich forscht, Bücher schreibt, Vorträge hält, der tut das, um seine wissenschaftlichen Karriere voranzutreiben. Aber: Wenn die Opfer sich anschließend als Forschungsmaterial wiederfinden, muss das ausgeglichen werden, indem die Betroffenen beteiligt werden an diesem Forschungsvorhaben. Ein gelungenes Beispiel war das Projekt von Professor Heiner Keupp, dessen Institut die Missbrauchsfälle im Kloster Ettal untersucht hat. Detlev Zander hat auf dem Podium gesagt, alles muss auf den Tisch. Ihn und die anderen Betroffenen auch in den wissenschaftlichen Prozess miteinzubeziehen als Autoren und nicht nur als Objekte, gehört dazu. Das kann natürlich für Menschen, denen in diesen Heimkontexten oft auch formale Bildung verweigert wurde, eine Herausforderung sein. Generell sollte man anbieten, ihnen eine kompetente Ombudsperson beiseite zu stellen.

Ein Aspekt, den Sie aus Ihrer Erfahrung weitergeben. Welche Fehler sollte die Korntaler Aufarbeitungsgruppe nicht machen?

Mir fehlen zwei Aspekte. Es besteht die Gefahr, dass man die Vorwürfe zu Taten von Einzeltätern stilisiert und den Organisationsaspekt nicht wahrnimmt. Wenn wir sagen, alles kommt auf den Tisch, dann darf ich nicht nur die einzelnen Täter identifizieren, sondern auch das System dahinter und die Abhängigkeiten. Es braucht also einen systemischen und organisationstheoretisch geschulten Blick auf Abläufe und Strukturen. Mir fehlt auch der kriminologische Blickwinkel. Man muss es deutlich sagen: Es handelt sich hier um schwere Verbrechen. Bei der Evangelischen Brüdergemeinde in Korntal gibt es in der Vergangenheit konkret den Hinweis auf Prostitution und ein Netzwerk. Kinder wurden verkauft und zu Waren gemacht.

Diesen Vorwürfen nachzugehen, gehört zur Aufarbeitung.

Ja, aber das ist auch ein generelles Problem solcher Einrichtungen, die Geld dafür bekommen, Kinder zu betreuen und das offenbar als Geschäftsmodel betreiben. Wer Oliver Twist gelesen hat, kennt diesen Mechanismus: Am meisten Geld bleibt übrig, wenn man möglichst wenig Geld für die Kinder ausgibt. Deswegen berichten Heimkinder regelmäßig, dass sie schlecht ernährt wurden und ihnen wenig Unterstützung zugekommen ist, obwohl der Träger viel Geld für den Heimplatz erhalten hat. Und das ist Betrug. Ich glaube, dass es gut ist, wenn man eine solche Untersuchung nicht einer einzelnen Person und Profession überantwortet. Frau Wolff ist sicher sehr gut geeignet. Aber man braucht eben noch andere Blickwinkel, um so ein strukturelles Geflecht wie bei einer solchen Einrichtung in Korntal aufklären zu können. Ein Team wäre gut.

Was muss intern bei der Brüdergemeinde passieren?

Inzwischen ist auf ihrer Homepage das Thema prominent zu sehen, das halte ich für wichtig. Es müssen dort natürlich in Zukunft auch die Zeugenaussagen und Namen der Täter öffentlich gemacht werden. Ich sehe auf der Homepage der Opferhilfe 20 Täter aufgezählt, anonymisiert, weil man sich nicht traut, in die rechtliche Auseinandersetzung zu gehen. Die Brüdergemeinde selbst müsste diese Namen öffentlich machen. Solange nicht Ross und Reiter genannt werden, kommt die Aufklärung nicht voran. Die Presse kann das nur bedingt leisten. Hier ist die Institution selbst gefordert, sich zu distanzieren. Das ist meine Erfahrung vom Canisius-Kolleg.

Steckt dahinter nicht die Angst, dass Betreuer, Lehrer und Verantwortliche zu Unrecht beschuldigt werden?

Dahinter steckt vor allem die Botschaft, eigentlich glauben wir euch doch nicht so recht. Wenn ich keinen Grund sehe, an den Aussagen zu zweifeln, dann muss ich mich auf die Seite der Betroffenen stellen. Die Opfer haben sich geoutet. Jetzt muss ebenso öffentlich benannt werden, wer die Täter waren. In der Berichterstattung wird dann der Name abgekürzt, aber der oder die Täter werden dennoch sichtbar. Dazu muss die Brüdergemeinde selber begreifen, dass Transparenz in ihrem eigenen Interesse ist. Die Missbrauchsexpertin Ursula Enders verwendet dafür den Begriff der "traumatisierten Institution". Natürlich sind Missbrauchsvorwürfe für jede Einrichtung zunächst ein Schock. Aber nur mit Offenheit kann man aus dieser Krise als bessere Institution hervorgehen. Die Zeit der falschen Rücksichtnahme auf die Täter muss vorbei sein.

 

Matthias Katsch (51) ist keiner, der als "Opfer" gesehen werden möchte. Der studierte Philosoph und Betriebswirt arbeitet als Unternehmensberater. Im Ehrenamt ist er Sprecher des "Eckigen Tischs", den Männer gegründet haben, die früher an deutschen Jesuitenschulen missbraucht wurden. Katsch arbeitet auch in den Gremien des Bundesbeauftragten für sexuellen Missbrauch mit. Die Missbrauchsvorwürfe ehemaliger Heimkinder in Korntal und die nun begonnene Aufarbeitung verfolgt er aufmerksam, seit sie bekannt geworden sind.


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7 Kommentare verfügbar

  • Angelika Oetken
    am 20.06.2015
    Antworten
    "als ich als Zivi in Korntal war, wurde ich fast das Opfer eines betrunkenen Autofahrers.
    Da kam ein "leitender" der Brüdergemeinde auf mich zu und wollte mir klar machen, dass hier Gott dahinter steckt und er mir damit klar machen wollte, dass dies seine letzte Warnung an mich war, "mein…
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