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Nicht radikal genug

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Durch eine Masse an Veranstaltungen und viele prominente Namen allein werde niemand klug. Sagt unser Gastautor und kritisiert den Stuttgarter Kirchentag als ein Abbild der Großen Koalition: wenig radikal und schön brav in der politischen Mitte platziert.

Eine Veranstaltung macht mich schon jetzt neugierig. Sie steht unter dem Motto des Wortes von Papst Franziskus "Diese Wirtschaft tötet – Kirche gemeinsam gegen den Kapitalismus". Referent ist Ministerpräsident Bodo Ramelow von den Linken. Leider finde ich diese Veranstaltung nirgendwo im offiziellen, umfangreichen Kirchentagsprogramm. Es ist die kirchenkritische Zeitschrift "Publik-Forum", die zu diesem Vortrag einlädt – am Rande des Kirchentags.

Die evangelische Kirche hingegen wirbt mit dem Hinweis auf 2500 Veranstaltungen. Sollen wir etwa durch Masse klug werden? Mit einer überbordenden Themenmischung aus Religion, Spiritualität, Politik, Ethik, Ökologie und Ökonomie? Mit prominenten Namen von Kofi Annan, Angela Merkel, Joachim Gauck, Margot Käßmann bis Eckard von Hirschhausen? Sollen wir durch Prominenz klug werden?

Hinter viele "Klug"-Themen haben die Veranstalter klugerweise ein Fragezeichen gesetzt. So darf zum Beispiel die NSA-geschädigte Bundeskanzlerin zum Thema "Digital und klug?" referieren. Wie geht "kluges Wirtschaften?", wird gefragt in einer Zeit, in der jeden Tag 30 000 Menschen verhungern und in der die vier reichsten US-amerikanischen Männer über mehr Geld verfügen als die eine Milliarde der Ärmsten. "Macht Bibel lesen klug?" Die Bibel ist zwar das meistgekaufte Buch (viereinhalb Milliarden), aber zugleich das am wenigsten gelesene. Warum wohl? Auch deshalb, weil Jesus Aramäisch sprach, aber alle Jesus-Geschichten aus dem Griechischen übersetzt sind.

Jesus empfahl, das Essen zu teilen – ein gutes Zeichen

Wie viel Sinn oder Unsinn verbirgt sich also hinter einem solchen Mammut-Aufwand für dieses evangelische Massentreffen? Jesus hat empfohlen: Wenn du betest, dann geh in deine ruhige Kammer. Aber andererseits kamen auch Tausende an den See Genezareth zu seiner berühmten Bergpredigt. Beim "Wunder der Brotvermehrung" sollen es fünftausend gewesen sein, als Jesus empfahl, alles Essbare einzusammeln und es geschwisterlich zu teilen. Ein tolles Zeichen in unserer Zeit, in der wir täglich viele verhungern lassen, obwohl wir auf einer sehr reichen Erde leben und alle satt werden könnten – mit ein wenig mehr Klugheit. Vielleicht gelingt es ja in Stuttgart, dieses Wunder Jesu heutig zu machen. So würde Religion im Geiste des wunderbaren jungen Mannes aus Nazareth tatsächlich viel Sinn haben.

Ein Kirchentag hat dann Sinn, wenn sein Programm möglichst nahe an der Botschaft des Nazareners ist. Jesu Grundsatzprogramm ist die Bergpredigt. Hier spricht der Pazifist Jesus, der soziale Jesus und der ökologische Jesus. Wie spiegeln sich also die Themen Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung im Stuttgarter Programm wieder?

Der Kirchentag findet in einer unruhigen Zeit statt: Krisen und Kriege auf allen Kontinenten. Glaubenskriege im Nahen Osten, Krieg in der Ostukraine, Bürgerkriege in Afrika, Flüchtlingsströme, Klimawandel, Energiekrise, Ressourcenkrise, Wirtschafts- und Finanzkrise.

Der Friedensfreund und häufige Krisenvermittler Kofi Annan diskutiert mit Frank-Walter Steinmeier und dem englischen Bischof Nick Baines zum Thema "Wer übernimmt Verantwortung für Krisen und Konflikte?". An drei Nachmittagen wird in der Stiftskirche über Frieden und Krieg, Schuld und Versöhnung gestritten. Und nach der "öffentlichen Verantwortung der Kirchen" gefragt. Ob da auch thematisiert wird, dass in einem der ersten Nazi-Konzentrationslager in Schleswig-Holstein 1933 Vikare der Nordelbischen Kirche als Wachpersonal dienten?

"Europa als Friedensprojekt" steht auf dem Programm. In den Zeiten, in denen das Mittelmeer ein Massengrab für Afrika-Flüchtlinge geworden ist, drängt sich die Frage auf, ob der Friedensnobelpreisträger EU diesen Preis nicht beschämt zurückgeben sollte. Was würde Jesus zum Massenmord im Mittelmeer sagen? Der Mann aus Nazareth hat vor 2000 Jahren gepredigt: "Was ihr dem Geringsten meiner Geschwister getan habt, das habt ihr mir getan, und was ihr ihm nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan."

Aber schon damals haben seine Gegner – meist waren es sehr Fromme – bewusst gefragt: "Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen?" Heute heißt diese Skepsis im Munde deutscher Kanzler von Bismarck über Schmidt bis Kohl: "Mit der Bergpredigt kann man nicht regieren." Sie erklären Jesus für blöd und naiv. Ich habe das genau so auf früheren Kirchentagen erlebt. Immerhin hat der im Januar dieses Jahres verstorbene Alt-Bundespräsident und Alt-Kirchentags-Präsident Richard von Weizsäcker gesagt: "Regieren ohne Intention der Bergpredigt kann ich mir nicht vorstellen."

Jahrtausendelang galt in christlichen Kirchen die These vom "gerechten Krieg". Selbst Jesus soll gesagt haben, er sei nicht gekommen, den Frieden zu bringen, "sondern das Schwert" (Matthäus 10.34). Rückübersetzt aus dem Aramäischen – diese verdienstvolle Mühe hat sich der frühere evangelische Pastor Günther Schwarz gemacht –, hat Jesus aber gesagt: "Ich bin gekommen, um Streitgespräche zu führen."

Und wie steht es mit dem sozialen Jesus? Das Stuttgarter Programm zeigt, dass der Kirchentag unter diesem ebenfalls zeitgemäßen Thema eher in die politische Mitte gerückt ist. Er ist ein "Abbild der Großen Koalition", kritisiert "Publik-Forum". Von jesuanischer Systemkritik wie bei Papst Franziskus ("Diese Wirtschaft tötet") ist in der Tat nicht viel zu spüren. Eher haben sich die theologisch konservativen Evangelikalen gegenüber dem linken und linksliberalen Protestantismus durchgesetzt. So fragt auch Ellen Überschär, die Generalsekretärin des Kirchentags: "Wo sind denn die Leute, die das System kritisieren?" Man müsse eher eine "Form der Koexistenz" zwischen den Flügeln finden. Koexistenz oder Jesus? Er war ein Radikaler in jeder Hinsicht. Seine Botschaft ist eindeutig: "Deine Rede sei Ja, ja oder Nein, nein; alles andere ist vom Teufel." Jesus hatte es nie mit dem Mainstream, sonst hätten wir ihn längst vergessen.

Wir führen einen Dritten Weltkrieg gegen die Natur

Das gilt vom sozialen Jesus, aber auch vom ökologischen. Was treiben wir denn heute mit der Umwelt zum Beispiel durch unsere Energiepolitik? Jeden Tag rotten wir 150 Tier- und Pflanzenarten aus und vergrößern die Wüsten um 50 000 Hektar. Jeden Tag verlieren wir 86 Millionen Tonnen fruchtbaren Boden und blasen weltweit 150 Millionen Tonnen Treibhausgase in die Luft. Und pro Tag werden wir 240 000 mehr. Das geht morgen so weiter und übermorgen und im nächsten Monat und im nächsten Jahr. Wir führen einen Dritten Weltkrieg gegen die Natur. Sind wir noch zu retten?

So grundsätzlich wird diese Frage auf einem Kirchentag nicht gestellt. Das könnte ja anstößig sein und zu Kontroversen oder gar "Streitgesprächen" im Sinne Jesu führen. Papst Franziskus scheint da mutiger zu sein. In wenigen Wochen, so hat er angekündigt, werde er die erste Öko-Enzyklika der Papstgeschichte publizieren. Wir dürfen gespannt sein auf deutliche Worte. Hoffentlich deutlichere als auf dem Kirchentag. Aber vielleicht geht der reale Kirchentag ja weiter, als es das Programm ahnen lässt? 

Bleiben wir noch einen Augenblick beim ökologischen Jesus. Was sagt der Kirchentag in der Autostadt Stuttgart zum Benzinauto? Wird thematisiert, dass ein Liter Spritverbrauch 10 000 Liter Luft verpestet? Der alternative Verkehrsplaner Heiner Monheim wird das Thema auf dem Podium "Mobilität 2050" behandeln. Das würde auch Jesus tun. Er war ein großer Naturbeobachter und ein noch größerer Naturpoet. Seine Geschichten in bäuerlich geprägter Sprache am See Genezareth handeln von Samen und säen, von Brot und backen, vom Sämann und Acker, von Ei und ewigem Leben, von Gott und Gras, vom Wasser und vom Wein, von Wundern und Wölfen, von der Wurzel und von der Wüste. Er sprach vom Fischfang, vom Brotbacken und vom Pflügen. Und dieser Jesus soll nicht ökologisch sein? Er war eher Ökologe als Theologe. Er hat Gott in seiner Schöpfung entdeckt und "Vater" genannt.

Demgegenüber erscheint die Ökologie auf dem Kirchentag verkopft und belanglos, weitgehend der Natur entfremdet. In Jesu Leben und Lehre liegen die Wurzeln einer ökologischen Spiritualität, einer ökologischen Theologie und einer ökologischen Ethik. Davon ist der Kirchentag weit entfernt.

Das Stuttgarter Treffen diskutiert fast alle drängenden Zeitfragen. Aber es ist ihm nicht gelungen, Jesus in allen wichtigen Zeitfragen heutig zu machen. Da bleibt noch eine Menge Zukunftsarbeit.

 

Franz Alt, Jahrgang 1938, engagiert sich seit vielen Jahren für ökologisches Wirtschaften und religiöse Fragen. Die Bücher des früheren SWR-Journalisten (bis 2003) und Christdemokraten (bis 1988) wurden in zwölf Sprachen übersetzt und erreichten eine Auflage von zwei Millionen. Demnächst erscheint sein Buch "Ethik ist wichtiger als Religion", das er zusammen mit dem Dalai-Lama erarbeitet hat.

Seine Homepage ist <link http: www.sonnenseite.com de _blank>hier zu finden.


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12 Kommentare verfügbar

  • Paul
    am 01.06.2015
    Antworten
    aus:
    http://www.publik-forum.de/Politik-Gesellschaft/damit-wir-klueger-werden
    "Aber: Sie haben sich verändert. Seit Jahren verlieren sie politisch, aber auch kirchenpolitisch an Brisanz. Während Spitzenpolitiker noch vor Jahren in harte Diskussionen verwickelt wurden, dürfen sie sich inzwischen…
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