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Die Angst vor der Vielfalt

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Vor einem Jahr gewann Conchita Wurst den Eurovision Song Contest. Die Dragqueen hinterfragte mit echtem Bart und falschen Wimpern die Vorstellungen vieler von Mann und Frau. Sie fordert mehr Toleranz für Schwule und Lesben – ein frommer Wunsch. Im Südwesten sind Homosexuelle mit einem Rollback konfrontiert.

Die Haare hat Mira vermutlich von ihrem Vater. Glatt und hellblond – das Gegenstück zu den braunen Locken ihrer Mutter Marion Lüttig. Wie ihr Vater aussieht, weiß Mira mit ihren fünf Jahren allerdings nicht. Sie weiß nur, dass es einen Mann gab, der ihrer "Mama" und ihrer "Mami" geholfen hat, sie zu bekommen. Dass der Mann seinen Samen in den Niederlanden gespendet hat, wird Mira wohl später erfahren, ebenso wie seinen Namen, wenn sie es möchte. Das Mädchen strahlt und sitzt auf dem Sessel im Wohnzimmer. Vor ihr auf dem Tisch steht das iPad, darauf läuft ein Zeichentrickfilm. Neben dem Sofa lehnt eine Gitarre, die Fenster geben den Blick frei auf den Garten. Reihenhausidylle in Mannheim. 

"Es gibt viele unterschiedliche Familienkonstellationen", sagt Marion Lüttig, an ihrer linken Hand glänzt der goldene Ehering. "Die haben alle ein Recht zu bestehen." Seit zehn Jahren ist sie mit ihrer Frau Grit Läuter-Lüttig zusammen, seit mehr als acht Jahren verpartnert. Mira ist ihr leibliches Kind, ihre Frau hat das Mädchen adoptiert und brachte damals noch ihren siebenjährigen Sohn Lukas mit in die Beziehung.

Doch das Glück der Familie Läuter-Lüttig passt vielen nicht ins Weltbild. Im Jahr 2013 wurden Pläne der grün-roten Landesregierung bekannt, dass in den Schulen künftig über "sexuelle Vielfalt" und alternative Lebensformen neben dem traditionellen Familienkonzept gesprochen werden soll. Seither haben konservative Gruppen unter dem Spruch "Demo für alle" sechsmal zum Protest gegen diese Pläne aufgerufen. Sie befürchten, wie sie selbst sagen, eine Überforderung ihrer Kinder mit dem Thema Sexualität - und machen dabei massiv Stimmung gegen Menschen, die nicht ins klassische Vater-Mutter-Kind-Familienbild passen. Eine entsprechende Online-Petition unterschrieben mehr als 192 000 Menschen. "Ich habe gedacht, wir sind weiter in der Gesellschaft", sagt Marion Lüttig.

Sie ist Mitglied des Landesvorstands des baden-württembergischen Lesben- und Schwulenverbands und wurde bereits mehrfach in Mails beschimpft. "Ich nehme gesellschaftlich gesehen eine Rückwärtsbewegung wahr", sagt sie zur Akzeptanz von Schwulen und Lesben. Auch der Schwulen- und Lesbenverband in Deutschland sieht eine "homophobe Mobilisierung in der Gesellschaft", sagt der Sprecher Helmut Metzner. "Diese neue Bewegung ist eine ernste Gefahr für unsere offene Gesellschaft." Wie viele Menschen in der Bevölkerung homosexuell sind, lässt sich nicht sagen. Der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland geht von fünf bis zehn Prozent aus. Das wären im Südwesten bis zu 1,06 Millionen Menschen.

Die Sängerin Conchita Wurst gewann am 10. Mai 2014 beim Eurovision Song Contest in Kopenhagen mit ihrem Lied "Rise like a Phoenix". Als Zeichen für Akzeptanz von Menschen, die nicht ins gewohnte Mann-Frau-Schema passen, Schwulen, Lesben, Transsexuellen und Transgender, sang die österreichische Dragqueen später auch vor Mitgliedern des Europäischen Parlaments. Doch was hat der Sieg des schwulen Künstlers Tom Neuwirth, der hinter der Kunstfigur Conchita Wurst steht, wirklich bewegt? 

Die Kirche verweigert ihren Segen

"Es hat auf jeden Fall eine breite Diskussion über Geschlechterrollen angestoßen", sagt der Stuttgarter CDU-Bundestagsabgeordnete Stefan Kaufmann. "Für die Akzeptanz von Schwulen hat es aber nichts gebracht." Auch Kaufmann, der seit 16 Jahren offen schwul lebt, nimmt ein "konservatives Rollback" in der Gesellschaft war. Grundsätzlich wird er immer wieder übers Internet beschimpft. "Es wäre gut, wenn Sie nie geboren worden wären" oder "Es wäre gut, wenn Sie bald die Erde verlassen würden", müsse er lesen, erzählt der 45-Jährige – kurze braune Haare, Brille, dunkler Anzug – im Stuttgarter Grand Café Planie. "Das ist natürlich auch verletzend."

Angeheizt haben nun zuletzt die "Hardcore-Katholiken", wie Kaufmann sie nennt, die Berichterstattung darüber, dass Kaufmann und sein Mann Rolf Pfander einen Dankgottesdienst in einer katholischen Kirche haben wollten. Nachdem die beiden sich im vergangenen Jahr verpartnert hatten, wollten sie die Verbindung kirchlich besiegeln. Doch als der Bischof von ihren Planungen erfuhr, untersagte er den Gottesdienst. "Das hat uns natürlich tief getroffen", sagt Kaufmann. Sein Partner trat nach 46 Jahren aus der katholischen Kirche aus und in die alt-katholische Kirche ein. Sie ist eine Abspaltung der katholischen Kirche und sieht sich nicht an die Weisungen des Vatikans gebunden – der lehnt Homosexualität nach wie vor grundsätzlich ab. Am 2. Mai feierten die beiden Männer mit 350 Gästen und einem alt-katholischen Pfarrer in der Schlosskirche des Alten Schlosses ihren Segnungsgottesdienst.

Marion Lüttig trat mit 19 Jahren ebenfalls aus der katholischen Kirche aus. Die junge Frau aus Salzkotten bei Paderborn hatte ein katholisches Privatgymnasium besucht, war in der katholischen Landjugendbewegung aktiv, wollte katholische Religionspädagogik studieren und Gemeindereferentin werden. Den Studienplatz hatte sie schon in der Tasche. Dann stellte sie fest, dass sie lesbisch ist. In den Kleinanzeigen eines Veranstaltungskalenders hatte sie von einem Lesbenstammtisch gelesen und dem Treff einer schwul-lesbischen Gruppe in der Kirche. Sie schaute sich beides an – und plötzlich war alles klar. "Ich habe gedacht: Ach super, ich bin doch nicht beziehungsunfähig."

Von ihrer neuen Erkenntnis erzählte sie damals sofort Freunden und Bekannten. "Ich habe es allen auf die Nase gebunden, ob sie wollten oder nicht." Ablehnung habe sie nicht erlebt, sagt Lüttig. Aber es seien auch nur wenige Menschen darunter gewesen, die sie ernst genommen hätten. Für die anderen passte diese Nachricht nur zu den anderen feministischen Ideen der Marion Lüttig. Von ihren Studienplänen und ihrem ursprünglichen Berufswunsch verabschiedete sie sich. Für die junge Frau war klar: "Ich kann als Lesbe nicht in der katholischen Kirche sein. Ich kann das nicht: nicht offen leben." Stattdessen ließ sie sich in Frankfurt zur Speditionskauffrau ausbilden.

Und wie reagierten ihre Eltern darauf, dass sie lesbisch ist? Marion Lüttig seufzt lange. "Meine Mutter war ziemlich am Boden zerstört gewesen und hat überlegt, was habe ich falsch gemacht?" Irgendwann habe sie sich gesagt, das sei Veranlagung, also sei sie unschuldig daran. Ihr Vater habe noch jahrelang zu seiner Tochter gesagt: "Man kann Entscheidungen auch noch ändern."

Keine Probleme mit der Karriere

Nach ihrer beruflichen Neuorientierung hatte Lüttig durch ihre offen gelebte Homosexualität keine Nachteile mehr. Im Gegenteil: "Es war ein Karriereschub, weil alle Arbeitgeber automatisch davon ausgegangen sind, eine Lesbe wird nicht schwanger."

Auch Stefan Kaufmann hat seine Liebe zu Männern nicht daran gehindert, promovierter Anwalt zu werden und in der CDU Karriere zu machen. "Sonst wäre ich nicht das, was ich bin." Kaufmann lacht. Allerdings sagt er auch: "Es gibt immer noch Kollegen, die sind homophob." Es gibt CDU-Abgeordnete im Bundestag, die über "die Schwuchtel" Volker Beck lästern, während Kaufmann danebensitzt. Beck ist Abgeordneter der Grünen und schwul. Der Spitzenkandidat der CDU im Südwesten, Guido Wolf, hat sich kürzlich gegen ein Adoptionsrecht für homosexuelle Paare ausgesprochen – ebenso wie Kanzlerin Angela Merkel. Beide sehen das Wohl des Kindes gefährdet.

Kaufmanns Aufstieg in der Partei begann erst kurz nachdem er sich geoutet hatte mit 29 Jahren. Am Ende der Schulzeit verliebte er sich in einen Mitschüler, der sein bester Freund wurde. Sie studierten gemeinsam in Tübingen, wohnten zusammen, fuhren zusammen in den Urlaub, redeten viel, auch über platonische Beziehungen – aber nicht über Kaufmanns Gefühle. "Es war eine heimliche Liebe." Er überlegte währenddessen: Bin ich schwul? Oder ist es nur der eine Mann? Könnte der nicht auch eine Frau sein?

Erst mit 29 Jahren sprach ihn sein bester Freund darauf an, ob er sich vielleicht für Männer interessieren könnte – und wenn es so wäre, wäre es kein Problem für ihn. "Das war der zentrale Satz", sagt Kaufmann. Zwei Wochen später outete er sich. Seine Mutter habe überrascht reagiert, aber gelassen. Sein Vater war bereits gestorben, als er zwölf Jahre alt war. Als ihn das erste Mal ein Mann küsste, dachte er: "Jetzt bin ich angekommen." Nur wenige Monate später traf er den ein Jahr älteren Rolf Pfander. "Es war Liebe auf den ersten Blick", sagt Pfander.

Privat wurde Marion Lüttig wegen ihrer sexuellen Orientierung bis heute nie angegangen. Auch im Kindergarten von Mira habe es höchstens mal den ein oder anderen skeptischen Blick gegeben, sagt sie. Nach einem Report des Statistischen Landesamts aus dem Jahr 2013 hat jedoch schon jede zweite eingetragene Lebensgemeinschaft im Südwesten Diskriminierung erfahren. Oft sind davon die Kinder in der Schule betroffen.

Probleme bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen

"Ich würde sagen, mittlerweile läuft es in vielen Bereichen besser", sagt Lüttig. Nur wenn es um die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gehe, werde es schwierig. "So lange schwule Männer dem Vorwurf ausgesetzt sind, wenn sie mit Kindern arbeiten, sind sie pädophil, so lange einer lesbischen Kita-Leiterin von einer kirchlichen Einrichtung gekündigt wird, so lange ist noch nicht alles in Ordnung." Vor einigen Jahren kündigte das Bistum Augsburg der lesbischen Leiterin eines Kindergartens in der Elternzeit, nachdem die Kirche von ihrer Partnerschaft mit einer Frau erfahren hatte.

Rolf Pfander saß kürzlich in der Straßenbahn auf dem Weg in die Stuttgarter Innenstadt. Der Verwaltungsangestellte wollte sich der Gegendemonstration zur "Demo für alle" anschließen. Pfander, ein schmaler Mann mit Siegelring am Finger, saß in der Straßenbahn einem älteren Ehepaar gegenüber. Der Mann Mitte 50 habe ihn von oben bis unten gemustert und dann zu seiner Frau gesagt: "Ach, die Gegendemo ist ja heute auch. Dass so was überhaupt Straßenbahn fahren darf." Auf einer der "Demos für alle" sprach übrigens auch Kaufmanns Parteifreund und stellvertretender CDU-Fraktionschef im Landtag, Peter Hauk.

Mit dem Sieg von Conchita Wurst sei in den Medien sehr viel über Geschlechteridentität und sexuelle Orientierung gesprochen worden, sagt Marion Lüttig. "Dass so viel von Schwulen und Lesben die Rede ist, irritiert Menschen." Es entstünde bei manchen das Gefühl: "Ich darf nicht mehr so sein, wie ich bin" – oder die selbst gewählte Vater-Mutter-Kind-Familie sei nicht mehr das gesellschaftliche Ideal. Kaufmann sagt, dass in den vergangenen Jahren viel erreicht worden sei. Unter anderem haben verpartnerte Homosexuelle nun die gleichen steuerlichen Vorteile wie Eheleute. Doch jetzt werde die konservative Gegenbewegung aktiv. Mit Erfolg. Das Kultusministerium spricht beim Bildungsplan mittlerweile nur noch von "Vielfalt". Das Wort "sexuelle" wurde gestrichen.


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5 Kommentare verfügbar

  • Hans Paul+Lichtwald
    am 13.05.2015
    Antworten
    Ein Rollback? Manchmal wurde die Toleranz auch medienwirksam überstrapaziert. Irgendwo wurde der Hetero dann zur Ausnahme hochstilisiert. Das ist wahrlich brandgefährlich, wenn Minderheiten zu besseren Menschen hochstilisiert werden.
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