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Masse auf Kosten von Tier und Mensch

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Pro Liter Milch 59 Cent – das hat seinen Preis. Supermarktkunden sparen auf Kosten der Tiere, Melker und Treiber. Das erkennt, wer in die Gummistiefel schlüpft und sich auf dem landwirtschaftlichen Arbeitsmarkt verdingt. So geschehen im Rahmen des Baden-Württemberger Recherche-Projekts "Tierisch KUHL".

Ein Kuhstall, irgendwo nördlich von Baden-Württemberg. Ein Tierparadies! Für Tauben und Stare, die sich hier zu Hunderten oder gar Tausenden direkt über den Futterplätzen eingenistet haben. Auch für die Mäuse und Ratten, die sich zwischen Pellet- und Silofutter wie im Schlaraffenland fühlen. Und für die Katzen, welche die fetten Nager und aus Nestern gepurzelte Vogelbabys verspeisen. Ein Paradies, in dem zwar kein Honig, aber dafür umso mehr Milch fließt. 

Für die Kühe und Kälber, die hier leben, und die Menschen, die hier arbeiten, ist dieser Stall allerdings nicht das Gelobte Land. Das Gemäuer, in dem bis zu 1300 Kühe gefangen sind, ist in die Jahre gekommen. Beton und rostiges Metall prägen das Ambiente. Die Tiere stehen auf Spaltboden. Ein Teil der Ruheboxen, die ihnen zur Verfügung stehen, ist mit den humusartigen Resten der hofeigenen Biogasanlage verfüllt, ein anderer Teil besteht aus Beton und ist mit Gummimatten bedeckt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie arschkurz sind – auf dass die Kühe auf den Spaltboden scheißen. Fladen, die doch auf der Liegefläche landen, müssen vom Treiber im Akkordtempo heruntergefegt werden, während er die Gruppen zu jeweils 80 bis 100 Tieren in Richtung Melkstand scheucht.

Dieser Melkstand ist ebenfalls schon älteren Baujahrs, aber immerhin mit Computertechnik ausgestattet. Jede Kuh ist hier eine Nummer, die nebst ihrer Herdennummer erfasst wird. Dazu ihre Milchleistung. Wenn sie beispielsweise fünf oder mehr Liter unter dem durchschnittlichen Milchergebnis der vergangenen Tage bleibt, muss einer von zwei Melkern das Tier via Computer melden. Beim Verlassen des Melkstands wird die Kuh dann über eine Schleuse vollautomatisch auf einen Warteplatz aussortiert, um sie anschließend zu untersuchen.

Kälber werden wie am Fließband geboren

Kühe sind in Tierfabriken dieser Art vor allem eines: Milchmaschinen. Wenn eine heißläuft, brennt nichts durch, aber sie bekommt Fieber. Im Extremfall über 41 Grad. Das treibt dem Betriebsleiter dann Sorgenfalten auf die Stirn. Er ist ein ruhiger und auch in stressigen Situationen gelassen wirkender Mann, mit trockenem Humor gesegnet und – geschätzt – Mitte 40. Im Unterschied zu seinen von Zeitdruck getriebenen Mitarbeitern scheint er fast schon zärtlich mit den Tieren umzugehen. Er mag Kühe, wie er sagt, und erzählt zwischendurch von der Weidehaltung eines Bekannten mit Fleischrassen, in der vieles anders gemacht werden könne als hier, in diesem Stall, wo viele Tiere auf wenig Raum leben.

Kälber dürfen unter diesen industriellen Bedingungen beispielsweise nicht bei ihren Müttern bleiben. Mamas und Babys werden getrennt, noch ehe das Fell der Säuglinge trocken ist. Und geboren wird wie am Fließband. Denn bei Kühen ist es auch nicht anders wie bei Menschen: Ohne frisch geborene Kinder fließt keine Milch.

Was in früheren Zeiten Bauersleute stöhnen ließ, ist hier der angestrebte Regelfall: die Produktion von Flaschenkälbern. Die Handaufzucht kostet Zeit, von der zu wenig vorhanden ist – vor allem, wenn ein Kalb nicht selbstständig trinkt. Die Gesundheit der Kleinen ist daher oft angeschlagen. Husten, Durchfall und Fieber sind auch die Kinderkrankheiten im Kälberstall. Um die Überlebenschancen zu verbessern, werden die Boxen regelmäßig mit Hochdruckreiniger und Desinfektionsmittel als keimfreie Zone markiert – bis Urin und Kot die Fläche zurückerobert haben. Tierzucht und Keimzucht gedeihen hier in einer Symbiose. 

Apropos Tierzucht: Manches milchreiche Euter ist derart gewaltig geraten, dass es fast am Boden schleift. Die Versorgung des eigenen Kalbes würde in solchen Fällen schon aus anatomischen Gründen scheitern.

Das Leben am Leistungslimit ist also alles andere als ein tierisches Vergnügen. Fünf Jahre lang halten das die Kühe in der Regel durch. Für viele führt der Weg über den Spaltboden aber schon deutlich früher in den Schlachthof. Man darf aber bei alledem nicht vergessen, dass es mit der Bauernhofromantik von schwäbischen Kleinstlandwirtschaften früher auch nicht weit her war: Kühe standen oft ein Leben lang in dunklen Anbindeställen. Im Vergleich dazu können sich heutige Hochleistungskühe immerhin in ihren Boxenlaufställen frei bewegen. 

Mehr als tausend Kühe in einer Schicht

Zurück zum Alltag des Großbetriebs: Der Krankheitsfall ist – wie alles hier – ein Kostenfaktor. Bei hochfiebrigen Mutterkühen wird nicht gleich der Tierarzt geholt, da packt der Betriebsleiter das Stethoskop lieber selbst aus, um sie abzuhören. Verdacht auf Lungenentzündung. Antibiotika sind vorrätig, der Landwirt kann rezeptlos zugreifen und spritzen. Dann muss die Kuh aber aus der Herde heraus. Würde von so einem behandelten Tier versehentlich Milch ins Milchwerk gelangen, bekäme der Betrieb einen Monat lang fünf Cent pro Liter Milch abgezogen. Bei 23 000 Liter pro Tag wären das gut 1000 Euro täglich.

Auch die Biestmilch der Tiere, die ganz frisch abgekalbt haben, darf auf keinen Fall in den Milchtank gelangen, weil sonst die ganze Ladung schlecht würde. Das muss der Treiber im Zusammenspiel mit den Melkern sicherstellen.

Der Treiber jagt in einer Schicht mehr als tausend Kühe vor sich her in Richtung Milchstand. Zudem hilft er den Melkern, und er schaut teilweise nach frisch geborenen Kälbern. Dementsprechend groß ist sein Zeitdruck. Tiere, die in ihren Liegeboxen nicht aufstehen wollen, werden mit Tritten traktiert oder mit einem kurzen Stock in den Körper gepiekt. Das muss weh tun. Schließlich sind Kühe keine Dickhäuter. Sie spüren sogar Mücken auf ihrem Fell, die sie mit einem Schwanzwedeln zu verscheuchen wissen.

Abhängig vom Treiber werden die Kühe auch mit Elektroschocks traktiert, wenn sie nicht aufstehen wollen oder können. Und bei manchen setzt es Stockhiebe, wenn die Tiere nicht schnell genug in Richtung Melkstand laufen – in ein Melkgefängnis: Sie gehen einen schmalen Gang entlang und biegen dann im 90-Grad-Winkel ab. Hinter ihnen schließt sich ein Brett, die nächste Kuh geht in die nächste Box, in der sie allenfalls minimal vor oder zurück kann.

Melker machen einen Scheißjob

Rund 40 Kühe können gleichzeitig abgefertigt werden. Das ist wie Fließbandarbeit: Sie beginnt mit dem Vormelken. Jedem Strich, wie die Euterzitzen im Fachjargon heißen, werden von Hand drei, vier Spritzer Milch entlockt. In dieser ersten Milch sind viele Keime enthalten, sie wird weggekippt. Dreckige Euter werden mit einem feuchten Tuch abgewischt, wobei das Tuch nur für eine Kuh verwendet werden darf. Damit Keime nicht übertragen werden. Danach werden die Melksonden angesetzt. Manche Kühe treten sie los, sodass sie erneut angesetzt werden müssen – in manchen Fällen, nachdem sie in einen Kuhfladen gefallen waren. Sobald kaum mehr Milch fließt, schalten die Melkmaschinen automatisch ab.

Danach werden die Striche der Kühe mit einer Desinfektionsflüssigkeit gedippt, auf dass sich die Euter nicht entzünden. Die Melksonden werden zudem in ein Bad mit Essigsäure getaucht, um sie zu desinfizieren, ehe die nächste Kuh angeschlossen wird. Lediglich eine Gruppe kranker Kühe, die nicht mit den anderen in Kontakt geraten darf, kommt nicht in diesen Genuss. Sie kommen bald zum Schlachter, das Desinfizieren der Melksonden wird gespart. 

All das geschieht im Akkordtempo. Die Melker machen buchstäblich einen Scheißjob. Die Kühe lassen ihre Fladen beim Gang in den Melkstand und beim Melken auf den Betonboden pflatschen. Dazwischen wird gepinkelt, als ob jemand einen Wasserhahn volle Kanne aufgedreht hätte. Wer hier arbeitet, ist bis zum Ende der rund achtstündigen Schicht von Kopf bis Fuß mit Kot und Urin bespritzt. Eine besondere Scheiße: Wenn eine Kuh beim Vormelken oder beim Dippen des Euters plötzlich loskackt. Dann ergießt sich die warme, stinkende Soße über den Arm des Melkers – wenn die Kuh etwas weiter vorne in der Box steht und der Melker folglich weit in den Melkstand hineingreifen muss, hat er die Fäkalien sogar auf der Schulter. Mal eben die juckende Nase am T-Shirt-Ärmel abzuwischen, geht dann nicht mehr.

Die Schutzkleidung besteht wohlgemerkt nur aus einer Schürze, Einweghandschuhen und Armstutzen. Diese Armstutzen haben das Qualitätsniveau eines aufgeschnittenen Gefrierbeutels mit zwei Gummizügen. Sie reichen bis über den Ellenbogen, verrutschen aber leicht. Sie werden tagelang verwendet, bis sie zerrissen sind. Auf dem Hof wird überhaupt massivst gespart. Der Betriebsleiter hebt sogar die Pappverpackungen der Medizinfläschchen auf, um sie auseinanderzufalten und die Innenseite als Notizzettel zu verwenden.

Im Vergleich zu einem Melker geht ein Hilfsarbeiter, der Ställe ausmistet, einem regelrecht sauberen Job nach. Obendrein sind die Melker geistig gefordert. Sie müssen im Blick behalten, welche Kühe gerade im Melkstand stehen. Sie haben einen Zettel mit den Nummern von Tieren, deren Milch für die Kälber in einen Eimer gemolken oder deren Milch untersucht werden muss – auch Milch-Untersuchungen machen Melker teilweise.

Sobald sie beim Vormelken feststellen, dass Milch sämig oder wässerig ist, müssen sie die Kuh melden – ebenso, wenn sie hinkt. Parallel dazu müssen sie im Blick behalten, wo das letzte Tier einer Gruppe steht, damit beim Entlassen aus dem Melkstand nicht Tiere verschiedener Gruppen gemeinsam abmarschieren und später mühsam getrennt werden müssen. Dasselbe droht in noch größerem Stile, wenn ein Treiber vergisst, ein Gatter zu schließen. Dann mischen sich die Kuhgruppen im Stall-Labyrinth und müssen wieder auseinandersortiert werden. Das darf schlicht nicht passieren, denn dafür ist keine Zeit. 

Acht Euro pro Stunde, keine Schmutzzulage

Für diese hektischen und körperlich anstrengenden Jobs, bei denen obendrein mitgedacht werden muss, erhalten ungelernte Berufsanfänger acht Euro pro Stunde plus Schichtzulage, aber keine Schmutzzulage. Mit zunehmender Berufserfahrung gibt es einen Euro, maximal 1,50 Euro mehr.

In einem neuen Stall sollen immerhin die Arbeitswege kürzer und die Haltungsbedingungen für die Kühe besser werden, kündigt der Betriebsleiter an. Die Planungen laufen, sie kommen aber nicht so schnell voran, wie er sich das vorstellt. Mehr Stroh soll das Wohlbefinden der Kühe steigern und damit wahrscheinlich auch ihre Milchleistung. Rund 15 Liter sind gegenwärtig eine übliche Größenordnung pro Melkdurchgang, dem sich die Paarhufer im 12-Stunden-Rhythmus unterziehen müssen. Manche schleppen sich mit Gelenken dorthin, an denen im Extremfall Geschwulste von der Größe eines Fußballs wuchern. Klauenprobleme kommen hinzu. Dementsprechend schmerzhaft kann für die Tiere schon das Aufstehen sein. Wenn sie sich dazu nicht schnell genug zwingen, setzt es eben Tritte oder Hiebe. Das ist ein tierischer Stress – für Menschen und Kühe.

Eines der unzähligen Kälber aus diesem Betrieb lebt inzwischen übrigens nicht mehr unter diesen Bedingungen. Das Pressebüro, welches das Rechercheprojekt "Tierisch KUHL" realisiert, hat das Tier für 40 Euro gekauft. Es handelt sich um eine junge Kuh, die offenbar nicht für die Milchvieh-Produktion taugte und von keinem Händler in die Kälbermast mitgenommen wurde – ein Tier, das ein Abfallprodukt der Milchproduktion war. 

 

Lisa Eberhardt ist das Pseudonym einer freien Journalistin, die sich über die Situation in der tierischen Lebensmittelproduktion informiert, indem sie in Betrieben als Arbeiterin anheuert: in Milchvieh- und Geflügelställen, in der Kälbermast, beim Tierarzt und im Schlachthof. Sie will sich ein Bild machen, wie es abseits offizieller Präsentationen in der Branche aussieht – und auf dieser Basis auch der Öffentlichkeit Einblicke bieten. Das Kalb Muhki hat sie gekauft und damit vor dem sicheren Tod bewahrt.

Das Rechercheprojekt <link http: www.facebook.com tierisch.kuhl _blank>"Tierisch KUHL" will keine Einzelfall-Diskussionen, sondern eine Grundsatzdebatte über die tierische Nahrungsmittelproduktion entfachen. Deshalb werden die landwirtschaftlichen Betriebe, in denen recherchiert wurde, in anonymisierter Form vorgestellt. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass es die Einkäufer sind, welche die Haltungs- und Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft maßgeblich beeinflussen – über die Auswahl von billigen oder fairer bezahlten Produkten.


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9 Kommentare verfügbar

  • Antonietta
    am 01.05.2015
    Antworten
    Fakt ist, dass eine Kuh jedes Jahr ein Kälbchen gebären muss, um überhaupt Milch geben zu können. Direkt nach der Geburt wird das kleine Kälbchen von seiner Mutter getrennt und in einen Käfig gesperrt. Die meisten Kälber werden nach ein paar Tagen zum Schlachthof gebracht und dort im jungen Alter…
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