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Wenn der Bürger stört

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Jetzt soll's doch noch klappen mit dem Gehörtwerden. Daran arbeitet die Regierung Kretschmann seit mehr als drei Jahren. Die Frage ist aber, ob die Politik die Bürgerin und den Bürger überhaupt hören will.

Die Baden-Württemberger Grünen haben 2013 einen "Leitfaden für eine neue Planungskultur" verfasst, nach dem Projekte künftig so konfliktfrei und zügig wie möglich durchgezogen werden sollen. Die "Verwaltungsvorschrift zur Intensivierung der Öffentlichkeitsbeteiligung in Planungs- und Zulassungsverfahren" (als Pdf <link file:14190>hier zu finden) – sie ist seit einem Jahr in Kraft – soll die Behörden dazu zwingen, Bürgerinnen und Bürger frühzeitig einzubinden

Jetzt hat die Landesregierung außerdem einen Gesetzentwurf präsentiert, der auf kommunaler Ebene mehr direkte Demokratie garantieren soll. So wird das Unterschriftenquorum für Bürgerbegehren von zehn Prozent der Bürgerschaft auf sieben Prozent gesenkt. Kommt es zum Bürgerentscheid, gilt künftig ein Zustimmungsquorum von 20 Prozent statt wie bisher 25 Prozent. Für einen erfolgreichen Bürgerentscheid müssten jetzt ein Fünftel und nicht mehr ein Viertel aller Berechtigten stimmen. Außerdem wird die Bauleitplanung für Bürgerbegehren geöffnet und die Frist, Begehren gegen Beschluss des Gemeinderats einzuleiten, verlängert. Bürgerentscheide heißen nun Einwohnerentscheide, was diejenigen einschließt, die keinen deutschen Pass haben.

Bayern liegt beim Quorum vorn

Mit diesem neuen Gesetz – es soll noch vor der Sommerpause verabschiedet werden – liegt das Quorum Baden-Württembergs allerdings immer noch höher als das von Bayern. Innerhalb aller Bundesländer liegt Baden-Württemberg damit gerade mal im Mittelfeld.

Gleichwohl sehen viele Grüne eine neue politische Kultur am Horizont. Auch in konservativen Kreisen ist das Thema längst angekommen. Seit Stuttgart 21 seien die Zeiten vorbei, als Politiker und Unternehmer den Bürgern nur etwas zu verordnen brauchten, stattdessen sei heute Überzeugen verlangt, so die Zeitung "Die Welt". Und dieses Überzeugen will gelernt sein. Daran beteiligen sich sogar Bildungseinrichtungen. Die Verwaltungshochschule Ludwigsburg etwa kündigte im Juli 2012 an, einen Studiengang Bürgerbeteiligung einzurichten, und auf den Fluren der Stuttgarter Universität wirbt ein Plakat "Hier kann man Bürgerbeteiligung studieren" für einen neu eingerichteten interdisziplinären Studiengang. Pädagogen wollen Schüler beteiligen, und nicht nur die Lerchenrainschule möchte zur "Bürgerschule" werden. Der "Beteiligungshype" weckt überdies Geschäftsideen: Findige Kleinunternehmer bieten Dienstleistungen an wie "Professionelle Bürgerbeteiligung" oder eine "Infrastruktur für digitale Bürgerbeteiligung sowie Anliegenmanagement".

Dabei ist die Idee, dass sich Bürger an "der Politik" beteiligen, keineswegs neu. Im Gegenteil. In jedem Grundkurs Politik wird gelehrt: Die klassischen Idee der Politik besteht darin, dass sich Bürgerinnen und Bürger gleichberechtigt für die allgemeinen Belange einsetzen. Wer sich heraushält, wurde in der griechischen Polis als "idiotes" bezeichnet. Das Politische und die Politik, stellt auch der Historiker Reinhard Koselleck fest, gehen begriffsgeschichtlich von den Bürgerinnen und Bürgern aus, von ihrem Tun und nicht von staatlichen Strukturen.

Der Sozialethiker Friedhelm Hengstbach sieht politische Beteiligung als Menschenrecht. Bürgerbeteiligung ist folglich kein Privileg, sondern ein Recht. Sie gehört seit dem Ende der Monarchien zum Selbstverständnis bürgerlicher Gesellschaften. Scheinbar neue Zugeständnisse wie das einer "Politik auf Augenhöhe" wirken da wie ein eigentümliches Bekenntnis zu einer Feststellung, die in Europa bereits vor über zweihundert Jahren getroffen wurde: Dass nämlich alle Menschen politisch gleichberechtigt sind.

Als Hochzeit der Partizipation gelten die 70er-Jahre 

Doch der Streit um die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger hat seine Konjunkturen. Offerten zur Beteiligung tauchen immer als Reaktion auf Protestbewegungen auf. Das war schon 1808 der Fall, als durch die preußische Städteordnung in Deutschland mehr kommunale Rechte gewährt wurde, auch um revolutionären Entwicklungen wie in Frankreich vorzubeugen. Es gehört eben zur eigentümlichen Dialektik sozialer Bewegungen, dass sich größere Protestwellen oft verspätet in Gesetzgebung und in Institutionen niederschlagen. Die Arbeiter etwa erhielten Sozialversicherungen und das Wahlrecht. Den für Gleichberechtigung streitenden Frauen wurden nicht nur Bildungsprogramme, sondern inzwischen auch Quoten – etwa bei der Bundeswehr – eingeräumt. Und Umweltaktivisten haben bewirkt, dass sich jeder durch Mülltrennen am Umweltschutz beteiligen kann.

Als "erste Hochzeit der Partizipation" gelten in der Bundesrepublik die 1970er- Jahre. Die außerparlamentarischen Bewegungen der 60er- und 70er-Jahre hatten für mehr Demokratie gestritten und unter anderem durch Hausbesetzungen darauf hingewirkt, dass das Städtebaurecht geändert wurde. Seit 1971 sind Planungsprozesse per Gesetz von Beginn an für Bürgerinnen und Bürger geöffnet, damit sich "die bauliche Gemeindeentwicklung nicht über sie hinweg gleichsam von Amts wegen vollzieht", so eine Gesetzesvorlage.

Dass heute betont wird, was zum Selbstverständnis bürgerlicher Gesellschaften gehört, offenbart eine seltsame Diskrepanz zwischen Politikern und Bürgern. Dies spiegelt eine Studie der Universität Koblenz-Landau (2011) wider. Im Bürgerbild von Politikern, so ergab die Analyse, zeigen sich folgende Tendenzen: Der Bürger wird gesehen als schwer fassbares Subjekt, als widerspenstiges Kind, das belehrt und über seine eigenen Interessen aufgeklärt werden muss, als Empfänger staatlicher Gaben und Beitragszahler für das Gemeinwohl sowie als Mensch, der Freiheit fürchtet, aber Freiheit braucht, um sich und die Gemeinschaft zu entwickeln.

Wenn der so gesehene Bürger sich allerdings selbstständig macht, eigene Formen des Politischen entwickelt und mit Mündigkeit droht, wie etwa die Protestbewegung gegen Stuttgart 21, dann lösen derlei Beteiligungsversuche Verwirrung, ja Empörung aus. Deshalb reagierten Unternehmer auf die Beteiligung der Stuttgarter Bürger mit Aussagen wie: Man dürfe sich nicht "einem Teil der Öffentlichkeit beugen", so Dieter Hundt, vormals Chef des Bundesverbands der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Oder: Eine Anerkennung der Bürgerbewegung hätte "die parlamentarische Demokratie auf den Kopf" gestellt, so die IHK.

Bürgerbeteiligung wird gewährt, wenn sie nicht stört

Da drängt sich die Frage auf, ob Bürger jetzt – historisch gesehen: einmal mehr – beteiligt werden sollen, nachdem sie sich beteiligt haben, damit sie sich in einer ganz bestimmten Weise beteiligen. Etwa in dem Sinn, wie Klaus Selle einen leitenden Ministerialbeamten zitiert: "Bürgerbeteiligung ist gut, solange sie nicht stört." Sie soll offenbar verstanden werden als etwas von den Regierenden Gegebenes, Gewährtes, nicht aber als ein erstrittenes Recht.

Außerdem verspricht eine derart gewährte Beteiligung, rentabel zu sein. Innerhalb der Industrie hat sich inzwischen herumgesprochen, dass Projekte durch Beteiligungsverfahren in der Regel schneller durchgesetzt werden können. Das liegt daran, dass zeitraubende und verzögernde Klageverfahren wegfallen. In diesem Sinne argumentiert auch die CDU Rheinland-Pfalz. Sie stellte ein "Sechs-Punkte-Programm für direkte Bürgerbeteiligung" vor. Die Überschrift: "Vertrauen zurückgewinnen – Verfahren beschleunigen". Die Projekte selbst sollen also nicht zur Disposition stehen, vielmehr geht es um die Beschleunigung der Verfahren. Solche Aussagen könnten innerhalb der Bürger ein gewisses Misstrauen schüren, dass nämlich Beteiligungsverfahren vor allem Alibicharakter haben, dass hier zwar Mitsprache, aber nicht Mitentscheidung stattfindet. 

Von einem ähnlichen Beteiligungsprinzip berichtet der international renommierte Geograf David Harvey. Amerikanische Thinktanks favorisieren solche politischen Regimes, die den Bürgern ein gewisses Maß an Beteiligung zugestehen. Etwa bei der Frage nach der Begrünung öffentlicher Flächen oder der Gestaltung von Parkanlagen. Den Bürgern werden bestimmte Orte zugewiesen, wo sie "Beteiligung" praktizieren dürfen, während die Rahmenbedingungen von einer Zentralregierung entschieden werden. Als Erfolg versprechendes politisches Modell dient – China. "Große Regierung, kleine Gesellschaft", sagt man dort.

Ohnehin stellt sich die Frage, welche Bedeutung landesweite und kommunale Gesetzgebungen haben, falls internationale Abkommen wie TTIP, CETA und TISA umgesetzt werden. Ein Bürgerbegehren zur Reduzierung des Feinstaubs am Neckartor etwa könnte völlig bedeutungslos sein, die Grenzwerte von giftigen Schadstoffen in der Luft per Gesetz von internationalen Großkonzernen beeinflusst werden. Kanada zum Beispiel hatte einen giftigen Zusatzstoff aus dem Autobenzin verbannt. Ein US-Konzern klagte zum "Schutz seiner Investitionen" auf Schadenersatz, das Gesetz wurde zurückgenommen. Jetzt ist der giftige Zusatzstoff im kanadischen Benzin wieder erlaubt.

Simulation von Demokratie

Solche Formen von Bürgerbeteiligung, die einen vorgegebenen Rahmen nicht zur Disposition stellen, dienen der postdemokratischen Aktivierung. Es sind Verfahren, in denen nur danach gefragt wird, ob eine Garage ober- oder unterirdisch gebaut werden soll, nicht aber, ob das ganze Gebäude gewollt ist und zum Selbstverständnis der Stadtgesellschaft passt. Derlei Verfahren dienen dazu, das Gefühl der Beteiligung und den Eindruck von Politik zu erzeugen. Tatsächlich handelt es sich aber um die Simulation demokratischer Verfahren oder um eine Entpolitisierung durch Politik. 

Bürgerbewegungen ihrerseits haben die Frage der Beteiligung längst zum Thema gemacht. Ein Ratgeber, der die Bürgerbeteiligungsverfahren rund um den Ausbau des Frankfurter Flughafens problematisiert, stellt schon 2003 fest: "Es findet nur symbolisch Politik im negativen Sinn statt, und die Beteiligung hat tatsächlich nur Alibifunktion."

Aktuellen Gesetzesveränderungen zur Unterstützung direkter Demokratie zum Trotz: Auch für die baden-württembergische Landesregierung wird die Frage zum Prüfstein, durch welche rechtsverbindlichen Regularien eine Mitentscheidung der Bürger, statt ihrer bloßen informellen Mitsprache, ermöglicht werden soll. Warnend wies Kretschmanns Staatsrätin Gisela Erler im Juni 2013 darauf hin, dass sich viele Menschen des Unterschieds von Mitsprache und Mitentscheiden nicht bewusst seien, "und das ist ein folgenschweres Missverständnis", so Erler. 

Bleibt freilich die Frage, wer den Bürgern dieses Missverständnis erklärt oder ob sie selbst darauf kommen und als Reaktion darauf doch lieber – wieder – außerparlamentarische Formen der Beteiligung wählen.


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10 Kommentare verfügbar

  • Ulrich Frank
    am 24.02.2015
    Antworten
    Ähnlich wird bei der von Fritz Kuhn - noch - versprochenen bzw. gleitmittelmäßig angekündigten grünlichen Bürgerbeteiligung hinsichtlich der Gestaltung der durch S21 freiwerdenden Flächen geschehen: bei der Plazierung von Bänkle darf mitgesprochen werden. Wenn für die Geld da ist. Anderweitig nicht.…
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