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Stadtgestolper im Schwarzwald

Stadtgestolper im Schwarzwald
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In Villingen-Schwenningen gibt es keine Stolpersteine zur Erinnerung an die von den Nazis verfolgten Juden. CDU, Freie Wähler und ein rechtskonservativer Stadtrat im Gemeinderat hatten sich 2013 ein zweites Mal dagegen ausgesprochen. Das lässt manchem in der Stadt keine Ruhe. Und jetzt findet in dem Ort auch noch die einzige Pegida-Demo im Südwesten statt.

Vier Stolpersteine, vier Namen, vier Tote – ermordet von den Nazis in Auschwitz. Vier Stolpersteine liegen im Schneematsch, die kleinen viereckigen Messingplatten auf den Pflastersteinen glänzen golden. Sie sind nur für einige Minuten auf den Boden gestellt, abgelegt für den Moment. In das Pflaster eingelassen werden dürfen sie nicht. "Louis Bikart", "Jeanette Bikart", "Ruth Bikart", "Silva Irene Bikart" – so steht es auf den Steinen. Die Namen sind wichtig. Schließlich geht es in dieser Geschichte um Namen. Jeden einzelnen Namen, jeden einzelnen Schmerz.

Pierre-Louis Bikart, Enkel und Neffe, steht vor den Steinen, an dem Grundstück, auf dem früher seine Familie gelebt hat. Er ist mit seiner Schwester, seiner Frau und Verwandten aus Straßburg nach Villingen gekommen, weil die Schule, auf die Ruth Bikart ging, an diesem Morgen eine Gedenkplatte eingeweiht hat – für Ruth Bikart und Julie Schwarz, eine entfernte Cousine. Es ist der 27. Januar 2015. Vor 70 Jahren haben die Russen Auschwitz befreit.

Die Schule hätte gern Stolpersteine für die Mädchen gesetzt. Doch vor der Schule erlaubt die Stadt nicht, in der Schule erlaubt der Erfinder der Stolpersteine nicht. Die Steine müssen im öffentlichen Raum sein, nicht versteckt. Der Gemeinderat hat 2013 das zweite Mal nach 2004 diese Form des Gedenkens auf öffentlichen Plätzen, auf den Gehwegen der Stadt abgelehnt. CDU, Freie Wähler und ein Stadtrat der Deutschen Liga für Volk und Heimat stimmten dagegen. Der Künstler Gunter Demnig hat die Steine erfunden, um an die von den Nazis im Zweiten Weltkrieg verfolgten Juden, aber auch andere Gruppen, wie Sinti und Roma, zu erinnern. Sie werden vor den ehemaligen Wohnhäusern der Opfer in den Boden eingelassen. "Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist", zitiert Demnig den hebräischen Talmud. Das Herunterbeugen zu den Steinen, um die Tafeln zu lesen, sei zugleich eine Verbeugung vor den Opfern.

Doch warum fällt manchen das Erinnern so schwer? Was machen die, die sich damit nicht zufrieden geben wollen? Und warum findet jetzt auch noch ausgerechnet in Villingen-Schwenningen die einzige Pegida-Demonstration in Baden-Württemberg statt? Die Aktion einer islamfeindlichen Bewegung, die Stimmung gegen Ausländer macht.

Die Familie Bikart steht vor einem Autohaus in der Villinger Waldstraße. Wo Sigmund Bikart früher sein Vieh hielt, verkauft Hyundai heute seine bulligen Autos. Pierre-Louis Bikart, der den Namen seines Großvaters in seinem eigenen trägt, sagt: "Wir arbeiten seit 15 Jahren daran, dass die Steine richtig gesetzt werden, nicht nur für meine Familie, sondern für die ganze Gemeinde, die jüdischen Bewohner von damals." Die Aktion Pro Stolpersteine Villingen-Schwenningen geht von 22 Juden aus, die aus Villingen stammten und von den Nationalsozialisten ermordet wurden. "Wenn meine Generation es nicht erzwingt, wer kann es dann noch erzwingen?", sagt Bikart mit seinen schwarz-grauen Locken im weichen Elsässisch. "Was in ein paar Jahren noch daran erinnern wird, sind die Stolpersteine. Sonst wird es vergessen."

Mehr als 50 000 Stolpersteine sind mittlerweile in ganz Europa verlegt worden, wie es aus Demnigs Büro heißt. In Deutschland gibt es die Aktion in rund 1000 Städten. Nur in wenigen Fällen hat der Stadtrat gegen die Verlegung gestimmt. Prominentestes Beispiel ist München. Dort hatte sich die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, dagegen ausgesprochen. "Für mich ist der Gedanke unerträglich, dass diese Menschen und die Erinnerung an sie erneut mit Füßen getreten wird", sagte sie einmal. Es brauche ein Gedenken auf Augenhöhe. Der Gemeinderat lehnte die Stolpersteine 2004 ab.

In Villingen-Schwenningen verwiesen die Gegner auch auf die Ablehnung in München. Doch wer wann warum dagegen war, lässt sich mittlerweile nicht mehr klar sagen. Pierre-Louis Bikart hatte die Stolpersteine ursprünglich angeregt. Der Oberbürgermeister sprach sich für die Idee aus. Doch die Gegner befürchteten offenbar eine Entwertung der Immobilien, verwiesen auf München, sahen Kosten für die Stadt, warfen dem Künstler vor, mit der Erinnerung Geld zu verdienen. So erzählen es heute die Befürworter, so liest es sich mehr zwischen den Zeilen in alten Zeitungsartikeln. Neun Jahre später wagten die Kirchen einen neuen Anlauf. Doch die Ablehnung blieb.

Hauseigentümer meldeten sich in der Presse zu Wort: Sie hätten kein Problem mit Stolpersteinen vor ihrem Grundstück. Der Oberbürgermeister, Rupert Kubon (SPD), argumentierte, dass ein Künstler durchaus Geld mit seiner Kunst verdienen dürfe. Außerdem würde es die Stadt nichts kosten, weil für die Stolpersteine Patenschaften von Privatpersonen übernommen würden. 120 Euro pro Stein. Es gab den Hinweis auf andere prominente Vertreter der jüdischen Gemeinde in München, die sich für das Projekt aussprachen. Die bürgerliche Mehrheit lehnte trotzdem ab.

Mittlerweile wollen die meisten Gegner nicht mehr über das Projekt reden. "Im Moment ist alles gesagt", sagt die Fraktionsvorsitzende der CDU, Renate Breuning. Bei den Freien Wählern zeigt man sich vom Thema noch genervter: "Ich war dagegen, und ich bleibe dagegen, und da gibt es nichts weiter zu sagen", sagt der Fraktionsvorsitzende Erich Bißwurm. Die CDU hat nach der Abstimmung einen Antrag auf eine zentrale Gedenkstätte gestellt. Auf Anregung der Verwaltung gibt es nun zunächst eine historische Untersuchung, deren Ergebnis im Jahr 2017 vorliegen soll. Dann soll es wieder um die Gedenkstätte gehen – von der CDU geschätzte Kosten: 20 000 Euro. "Die Verwaltung schiebt das Thema nicht auf die lange Bank", wehrt der persönliche Referent des Oberbürgermeisters, Stefan Assfalg, eine entsprechende Frage ab. Wenn man ein solches Mahnmal errichten wolle, dann müsse man zunächst untersuchen, welche Opfer es gebe. "Auf dieser Basis wollen wir eine würdige Erinnerungskultur schaffen." 

Der einzige der Gegner, der sich offen äußert, ist der rechtsextreme Stadtrat der Deutschen Liga für Volk und Heimat, Jürgen Schützinger. "Man muss sich zukunftsorientiert verhalten und nicht vergangenheitsorientiert", sagt der 61-Jährige bei Schnitzel und Kristallweizen im Schnitzelhaus "C'est la vie". "Die Zeit ist rum." Die Stadt habe andere Themen, um die sie sich kümmern müsse. Dem Künstler Demnig wirft er ein rein wirtschaftliches Interesse an dem Projekt vor: "Das ist doch so offensichtlich, dass es um Geldmacherei geht, alles andere ist Propaganda", sagt der ehemalige Landesvorsitzende der NPD.

Durch die Ablehnung der Stolpersteine erregte Villingen-Schwenningen überregionale Aufmerksamkeit. Vor kurzem schaffte es die 82 000-Einwohner-Stadt erneut in die landesweiten Schlagzeilen. Immerhin gingen die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands (Pegida) im Südwesten bisher nur in Villingen-Schwenningen auf die Straße. Dort meldete Anfang Januar eine junge Frau die erste Demonstration für Sbh-gida an – was für die Region Schwarzwald Baar Heuberg steht. Rund 100 Menschen folgten dem Aufruf, standen vor dem dunklen Münster und wurden von Antifa-Gegendemonstranten niedergebrüllt.

Von einem rechten Problem der Stadt will der Referent des Oberbürgermeisters allerdings nichts wissen. "Das haben wir nicht", sagt Assfalg. "Wir liegen mittendrin im Südwesten, wenn jemand eine Veranstaltung plant und wenn er will, das die Menschen aus der größeren Region kommen, dann haben wir einen günstigen Standort." Er verweist auch auf den Autobahnanschluss. Also nur praktisch gelegen? Der Verfassungsschutz sieht in Villingen-Schwenningen und Umgebung "keinen Schwerpunkt der rechtsextremistischen Szene". Auch sei die Pegida-Demonstration nicht aus der Szene angemeldet oder von ihr "beeinflusst" gewesen.

Für Stadtrat Schützinger ist es dagegen nachvollziehbar, dass Pegida in Baden-Württemberg ausgerechnet in Villingen-Schwenningen auftritt. "Das rechte Wählerpotential ist da", sagt Schützinger, der seit 1980 im Gemeinderat sitzt. Er werde im Schnitt mit rund 2000 Stimmen wiedergewählt. "Es ist naheliegend, es nicht in Tübingen, Freiburg oder Heidelberg zu versuchen." In den Universitätsstädten wählen die Menschen eben eher links als rechts der Mitte. Was die Veranstalter zu den Überlegungen sagen, ist allerdings nicht bekannt. Auf eine Anfrage über Facebook reagierte Sbh-Gida nicht. 

Doch lässt sich zwischen der Ablehnung der Stolpersteine im Gemeinderat und der örtlichen Pegida-Bewegung überhaupt ein Bogen schlagen – ist beides Ausdruck eines starken Rechtskonservatismus im Ort?

Eigentlich sollte das Stadtarchiv zu dem Thema etwas sagen können. Aber dort will man sich zu politischen Fragen nicht äußern. Dem bürgerlich geprägten Villingen in Baden sei früher ein eher von der Arbeiterschaft dominiertes Schwenningen in Württemberg gegenübergestanden, heißt es nur. 1972 wurden die Verwaltungen der beiden Städte zusammengelegt. Zugezogenen fällt der große Stolz der Villinger auf ihre historische Altstadt auf und das Leben dort sowie die stets ausgiebig gefeierte alemannische Fasnet. Also ein eher konservatives Villingen – aber sonst?

Schützinger lobt Pegida, Freie-Wähler-Chef Bißwurm will sich auch dazu nicht äußern, zumindest die CDU lehnt die Bewegung klar ab. Breuning sagt über die politische Lage in der Stadt: "Wir hatten Zeiten, in denen die Rechtsradikalen sehr viel stärker waren. Gott sei Dank ist Villingen-Schwenningen da nicht mehr an vorderster Front." Anfang der 90er-Jahre saßen noch zwei Republikaner und mit ihm drei NPDler im Stadtrat, erzählt Schützinger. Mittlerweile sieht er den rechten Flügel im Gemeinderat von zwei Stadträten der Alternative für Deutschland gestärkt.

Der Vorsitzende der Aktion Pro Stolpersteine Villingen-Schwenningen, Friedrich Engelke, tut sich eher schwer mit einer Verbindung beider Themen. Der kleine Mann mit Hut und weißem Schnauzer sagt über die Ablehnung der Stolpersteine: "Das ist eine politische Entscheidung. Ich glaube nicht einmal, dass die Stadträte mit dem Herzen hinter der Entscheidung stehen." Vielmehr sei es darum gegangen, die vom SPD-Oberbürgermeister befürwortete Idee zu torpedieren. Engelke lehrte früher Physik und Mathematik an der Hochschule Furtwangen. In den vergangenen Monaten hat er gemeinsam mit seinen Mitstreitern jeden Sonntag Mahnwachen für die Opfer der Nationalsozialisten vor dem Rathaus abgehalten.

Der Schulleiter der St.-Ursula-Schulen, Johannes Kaiser, sagt: "Die Gegner wollen nicht, dass das Thema immer wieder präsent ist." Schüler seiner Schule haben ein alternative Form des Gedenkens gefunden: <link https: virtuellestolpersteine.wordpress.com>virtuelle Stolpersteine. Im Internet sind die Geschichten aller Villinger Juden zu lesen, Familienbilder in Schwarz-Weiß zeugen von glücklichen Zeiten. In der Stadt gibt es nun an sieben Orten Aufkleber mit dem roten Adler des Stadtwappens, einem Davidstern – und einem QR-Code. Wer die Codes mit seinem Handy und einer entsprechenden App einliest, landet auf der jeweiligen Internetseite zu der Familie, die an dieser Stelle gelebt hatte. Die Aufkleber müssen regelmäßig ausgetauscht werden, weil die Davidsterne zerkratzt wurden.

Aber die Hoffnung aufgeben wollen sie in Villingen-Schwenningen noch nicht. Immerhin könnte man doch noch ein drittes Mal über die Stolpersteine abstimmen. In München wollen die Stadträte nun auch erneut über das Projekt beraten. Wenn es sich die bayrische Landeshauptstadt anders überlegt, vielleicht schwenken dann auch in Villingen-Schwenningen noch einige um. Die Grünen kündigen schon an, dass sie vielleicht zum Jahresende noch einmal einen Anlauf wagen wollen.

"Ich halte es durchaus für möglich, dass man noch einmal zu einer anderen Entscheidung kommt", sagt die Grünen-Stadträtin Cornelia Kunkis-Becker. Engelke sagt: "Diese Stadt hat sich zu bekennen zu einer Erinnerung." Der 72-Jährige sieht es als seine Verantwortung gegenüber den nachfolgenden Generationen an, die Erinnerung wachzuhalten. "Es ist eine Pflicht, aber auch ein Vermächtnis."

Vier Stolpersteine im Schnee, vier Namen, vier Tote – nur ein Stein fehlt noch, ein Name: Sigmund Bikart, Pierre-Louis' Vater. Er war der einzige der Bikarts, der Auschwitz überlebt hat. 35 Kilogramm wog er, als die Russen kamen. Er starb vor 15 Jahren im Elsass.


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11 Kommentare verfügbar

  • Sarkino
    am 09.02.2015
    Antworten
    Herr Hendrich von entspannter Meinungsvielfalt halten Sie offenbar wenig. Sie scheinen die Beiträge so zu betrachten, wie die Spießbürger in Goethes „Faust“, die entspannt am Fenster stehen und ein Glas Wein trinken.
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