KONTEXT:Wochenzeitung
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Ich weine, weil ich dich mag

Ich weine, weil ich dich mag
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Mehr als ein halbes Jahr nun hat die Reporterin das Ehepaar Schöner begleitet. Vieles hat die Alzheimer-Patientin Ilse Schöner in dieser Zeit vergessen. Manchmal wird sie zornig. Eine Langzeitreportage, Teil zwei.

Wie man Kartoffeln schält und den Tisch deckt, das hat Ilse Schöner im vergangenen halben Jahr längst vergessen. Immer mehr Aufgaben muss ihr Mann übernehmen. Und seine Frau wird mit dem Nachlassen ihrer Fähigkeiten immer depressiver. Und manchmal auch bockig.

Juli 2010

Der letzte Besuch im kleinen Reihenhaus ist schon eine Weile her. Draußen grüßen die bunten, fröhlichen Schuhabputzer-Männchen wie gewohnt mit "Herzlich willkommen". Doch drinnen im Haus sieht manches anders aus. Viel ist passiert, und das heißt bei Demenz immer,  nicht zum Besseren. Es ist wie bei einer Treppe. Es geht immer wieder eine Stufe hinab, und mit viel Glück macht das Vergessen auf dieser Ebene eine kleine Pause. Doch verbessern lässt sich nichts mehr. Manchmal bringt das Rainer Schöner schier um. Dann sprudelt es aus ihm heraus, als rede er um sein Leben. Dass seine Frau nicht mehr allein ins Auto einsteigen kann und die Frage nach einem Behindertenparkplatz immer drängender wird. Und dass er manchmal Hoffnung braucht. "Habe ich Ihnen die Sache von Oberammergau schon erzählt?", fragt er und ist schon mittendrin im Erzählen. Es ist warm, wir sitzen draußen im Garten, der Tisch ist gedeckt neben den Blumenrabatten, bei den zwei großen Tannen. Vor 30 Jahren, als die Schöners gebaut haben, waren sie mal klein. Nun werfen sie ihren Schatten auf das Haus und auf den Kaffeetisch. Stumm sitzt Ilse Schöner mit am Tisch.

Bald verabschiedet sie sich zu "Sturm der Liebe", Folge 1097. Höflich lächelnd und sichtlich froh, nicht mehr dableiben und mitreden zu müssen. Es wird immer schwieriger für sie, der Unterhaltung zu folgen. Und wenn sie angesprochen wird, schaut sie immer öfter fragend zu ihrem Mann. Ihm fällt es schwer, ihr einfach die Zeit zu lassen, nach den Worten zu suchen, sie zu finden und mitzureden. Und sie verlässt sich immer mehr auf ihn. Es ist eine Symbiose, die nicht immer zum Guten ist. Sie bringt oft nur noch einzelne Wörter heraus. Man muss sich zusammenreimen, was sie sagen will. Doch das Puzzle lässt sich immer schwerer zusammenfügen. Sie reiht immer mehr Lücken aneinander. "Das  Dings", sagt sie oft. Ilse Schöners Welt besteht aus immer mehr Dings.

Sie weint viel. "Ich werde langsam blöd", sagt sie zu ihrem Mann, wenn sie alleine sind. Sie bekommt Angst vor Menschen, die doch ihre Freunde und Familie sind. In wenigen Wochen, im August, wird sie 71 Jahre alt, sie hat schon heute Bammel vor ihren Gästen. Vor kurzem, beim 70sten Geburtstag ihres Mannes im Kreis der Familie, hat sie wenig gesagt und nur vor sich hin gestiert. Und als sie einen Platz aufrücken sollte am Tisch, hat sie sich geweigert.

Manchmal reißt Rainer Schöner seine zögerliche Ilse mit

Sie fällt oft. Beim Nordic Walking des Alpenvereins kann sie nicht mehr mithalten. Bei der Gymnastik des Turnvereins nicht mehr mitmachen. Ihr Körper hat viele Bewegungsabläufe vergessen, ihre Inkontinenz ist ihr peinlich. Rainer Schöner will seine Frau aufheitern. Rausreißen. Ihr etwas geben, was sie glücklich macht.

Jetzt also Oberammergau. Rainer Schöner will seiner Ilse den Besuch der Passionsspiele zum Geburtstag schenken. Sie haben so viel Kultur zusammen erlebt, sind gemeinsam in Konzerte gegangen, ins Theater, in die Oper. Beide mögen Jazz. Rainer Schöner ist voller Hoffnung, dass die Frau, die vergisst, dass seine Ilse ihren Gott, dem sie seit jeher verbunden ist, zuletzt vergisst. Dass die biblische Leidensgeschichte,  die sie seit ihrer Jugend kennt, so eingemeißelt ist in ihre Erinnerung, dass diese Passionsspiele ihr Freude machen in einem Leben, in dem sie immer weniger Anlass zur Freude findet. "Lass uns hingehen", hat sie vor kurzem gesagt, als Freunde davon erzählten, voller Sehnsucht. Und das von ihr, die sonst kaum mehr Wünsche äußert außer dem, in Ruhe gelassen zu werden. Rainer Schöner war elektrisiert. Er will alles tun, um an die begehrten Karten zu kommen. Er will alles tun, dass Ilse von 17 bis 22 Uhr durchhält - und das sind immerhin fünf Stunden.  

Manchmal ist Rainer Schöner, der vorsichtige Abwäger und Bedenkenträger, ein wagemutiger, fast tollkühner Mensch. Er reißt seine zögerliche Ilse mit. Die Schöners freuen sich beide auf diesen Ausflug wie auf ein kostbares, zerbrechliches Geschenk.  

August 2010

Ilse Schöner lächelt. So schöne Blumen als nachträglicher Geburtstagsgruß, sie freut sich. Doch eigentlich ist sie traurig. Es ist ein Gefühlsmix aus Scham, Hilflosigkeit und Angst. Aber vor allem Scham. Oberammergau - die Reise, auf die sie sich so gefreut hatten - ist gescheitert. Mit Feuereifer hatten sich beide Schöners in die Vorbereitungen und die  Vorfreude gestürzt. Doch bald wurde ihnen klar, dass der Kraftakt zu groß wäre. Denn Ilse Schöner verliert nicht nur die Kontrolle über ihren Geist, sondern auch über ihren Körper. Sie hatte Angst, die vielen Stunden nicht ausharren zu können, ohne dass ein "Malheur" passiert, wie die Schöners es nennen. Etwas, wofür sie sich schämt. Etwas, was nur Kindern passiert. Und jetzt auch ihr.  

Sie sind essen gegangen an ihrem Geburtstag, irgendwo hinter Esslingen, im Grünen. Es war ruhig und intim, die Kinder und Enkel waren da, "Finn, Max und …" Ilse Schöner schaut Hilfe suchend auf ihren Mann.

Oft weiß sie nun nicht mehr, was sie mit sich anfangen soll. Sie kann nicht mehr lesen. Sie will nicht nur fernsehen, und oft ist ihr nun langweilig wie einem Kind. Es ist ein Fulltime-Job für ihren Mann. Die Schöners überlegen sich, die alten Schallplatten aus dem Keller zu holen und sie sich wieder anzuhören. Manchmal ist ein Tag unendlich lang. Und dann wieder zu kurz, wenn man alles erledigen will, was erledigt werden muss. Und manchmal muss Ilse Schöner in die Tagespflege des Johanniterstifts, wenn ihr Mann ins Pflegeheim geht. Dort betreut er seit Jahren schon eine alte Frau, sie ist 92 Jahre alt, dagegen ist er ein junger Hüpfer. Er ist ihr Ansprechpartner, ihr Besuch und der Verantwortliche für ihre Patientenverfügung.

Plötzlich weiß sie nicht mehr, wie das geht - schwimmen

Ilse und Rainer Schröder gehen oft ins Freibad in diesem Sommer, jetzt, wo die Tage so heiß geworden sind. Sie, die immer gern und viel geschwommen ist, steigt nicht mehr über die Leiter ins Becken, weil sie nicht weiß, wie sie das anstellen soll. "Dreh dich um, geh mit dem Rücken zum Becken rein", hat Rainer Schöner gesagt. Sie hat ihn nur verständnislos angeschaut und angefangen, den Badeanzug auszuziehen. Nun gehen sie über die Treppe ins Wasser, das ist einfacher. Angela, die Enkelin, ist mit dabei.  Ilse Schöner stürmt los, rein ins Becken, losgeschwommen, vom Nichtschwimmer ins Schwimmerbecken. "So schnell konnte ich gar nicht gucken", sagt Rainer Schöner. Und dann merkt er, wie die Angst in ihre Augen kriecht und sie plötzlich nicht mehr weiß, wie das geht – schwimmen. Sie wird es verlernen wie das Radfahren.  

Die Kreise werden kleiner. Die Schöners kommen kaum mehr raus. Das Leben wird mühsamer. Ilse Schöner ist Pflegestufe zwei.  

September 2010

Einmal im Monat kümmert sich Rainer Schöner nur um sich. Er, die Klagemauer. Er, der Pfleger. Er, der Ehemann: einmal braucht auch er Hilfe und Menschen, die ihm zuhören, die in der gleichen Situation sind. Heute ist so ein Tag. "Die Treffen bei Kutzschenbach sind mir heilig", sagt er. Er steigt die Treppe rauf in die Bibliothek des Johanniterstifts. Der Tisch ist schon gedeckt, Kaffee gibt es und Kekse, so nach und nach treffen immer mehr Menschen ein, man plaudert, fragt, wie es geht, fachsimpelt, Expertengespräche. Hier treffen sich immer am zweiten Mittwoch im Monat pflegende Angehörige bei "Sofa", dem sozialpsychiatrischen Dienst für alte Menschen. Der Chef ist Hartwig von Kutzschenbach. Und dann ist schon Schluss mit Männern in der Angehörigengruppe: Die Pflege von Partnern, Eltern und Schwiegereltern ist fast ausschließlich Frauensache. Allein unter Frauen – manchmal genießt Rainer Schöner diese Situation.  

Er erzählt vom Demenzkongress in Fellbach, den er besucht hat. Von neuen Entwicklungen in der Medizin und deren Auswirkungen auf den Körper, aber er kommt schnell zum Schluss: "Es hat nichts gebracht, das war zu theoretisch." Hier sitzen die Praktikerinnen und Pfleger. Sie sind diejenigen, die den Popo abwischen und mit Depressionen umgehen müssen. Und sie sind froh, wenn ihnen endlich jemand zuhört und sie loswerden können, was sie drückt. Viele kommen schon länger hierher, erzählen vom dementen Vater, dem Bruder, dem Partner und dem schlechten Gewissen, das sie haben, wenn sie sich nicht rund um die Uhr kümmern. "Es sitzt wie ein graues Männchen auf ihren Schultern, manchmal sitzen da sogar zwei." - So beschreibt das der Gerontopsychiater Kutzschenbach, der es schafft, eine gewisse Leichtigkeit in die Runde zu bringen.

Der Psychiater rät: Mund halten und auf keinen Fall widersprechen

Die alten Hasen in der Runde erkennt man daran, dass sie routiniert und flüssig erzählen,  was seit dem letzten Mal passiert ist. Die Frau im rosa Pulli ist neu hier. Sie ist noch keine 60 Jahre alt, sie erzählt stockend, bei ihr ist die Gewissheit noch ganz frisch. "Was ist mit Ihrem Mann los?", haben sie die Nachbarn gefragt. "Der antwortet ja was ganz anderes, als ich gefragt habe." Und nun gehe der Verfall immer schneller. Die gepflegte Frau mit dem rosa Lippenstift weint. Auch das darf man in der Runde. Und Kutzschenbach erklärt, tröstet, gibt Tipps. Der Gerontopsychiater ist zuständig für schlechtes Gewissen, medikamentöse Behandlung und Windeln. Er weiß, welche Krankenpflegevereine es gibt, wo die Nachbarschaftshilfe einspringt und wo es Drehscheiben für den Autositz gibt, damit man leichter aussteigen kann. Der 55-Jährige garniert seine Tipps mit Humor und bringt eine Leichtigkeit in die Schwere der Pflege. Der demente Mann ist durch Medikamente munter geworden und versucht, die pflegende Frau rumzukommandieren?  "Mund halten und auf keinen Fall widersprechen", sagt Kutzschenbach. Er weiß, dass Widerspruch sinnlos ist. Und noch ein Tipp, den er gerne weitergibt: "Liebe deinen Nächsten, aber nur wie dich selbst." Vor 25 Jahren hat er "Sofa" gegründet.

Rainer Schöner ist seine Sorgen los geworden. Viel Verständnis hat er gefunden für seine derzeitigen Hauptprobleme. "Meine Ilse ist total depressiv und weint, wenn ein Malheur passiert", sagt er, und jeder hier weiß, was ein Malheur ist. "Und ihr ist stinkelangweilig, weil sie so vieles nicht mehr machen kann."  Es gibt Tipps von allen Seiten. Rainer Schöner, der pflegende Mann - der von sich sagt: "Ich bin kein Held, aber ich tue, was ich kann." – Er  geht ein bisschen leichter die Treppe hinunter, als er sie hochgestiegen ist.

November 2010

Es ist die Jahreszeit für Depressionen. Grau greift sie nach Ilse Schöner. Sie spürt ihre geistigen und körperlichen Kräfte weiter schwinden. Auch die Seifenoper am Nachmittag ist keine Ruheinsel mehr. Inzwischen kann sie ihr nicht mehr folgen, so um die 1177ste Folge ist sie ausgestiegen. "So ein Mist", hat sie geschimpft. Sie weint öfter. Die Traurigkeit wächst und die Gewissheit, dass alles viel zu schnell ist hier für sie, dass sie den Anforderungen nicht mehr gewachsen ist, immer mehr an Fähigkeiten verliert, die so wichtig sind, um am Leben teilzuhaben. Es gibt Tage, da ist sie mehr als verzweifelt. Vor allem jetzt im November. "Ich gehör nicht mehr in diese Welt", hat sie kürzlich zu ihrem Mann gesagt. Dieses Weinen, das er gar nicht stoppen kann, zehrt an Rainer Schöner. Und die Pflege, die immer schwieriger wird.

Er spricht mit seiner Frau, dass er Ende Januar ins Kloster gehen will mit seiner kirchlichen Männergruppe. Das hat er in diesem Jahr ausfallen lassen, weil sich ihr Zustand so rapide verschlechtert hatte, nun will er es wieder versuchen. Eine Woche rauskommen aus der Mühle. Ruhe finden. Gespräche führen, die sich nicht nur um Verlust, Depressionen und Vergessen drehen. Er will es ihr rechtzeitig sagen, damit sie sich drauf einstellen kann. "Ilse, dann gehst du für fünf Tage in ein Pflegeheim." Er hat sich eins ausgeguckt in der Nähe der Tochter, so dass Ilse Besuch bekommen kann.

Doch Ilse Schöner ist empfindlich geworden. Mit ihrer Abhängigkeit wächst auch ihr Misstrauen. Sie fühlt sich schnell abgeschoben. Und sie hat Angst vor dem Alleinsein. Ohne ihren Mann. Sie fragt immer wieder nach, wann er denn geht. Es beschäftigt sie bis zum Januar.

Februar 2011

Rainer Schöner ist allein zu Hause im Reihenhaus, seine Frau ist für einen dreiwöchigen Aufenthalt im Fachkrankenhaus in Göppingen. Unter ihrem Stuhl am familiären Esstisch ist inzwischen eine Plastikfolie ausgelegt, es geht immer mehr daneben beim Essen. Rainer Schöner ist aufgeregt, nervös, flattrig an diesem Tag. Er weiß nicht, was er tun soll. Soll er seine Ilse sofort heimholen, was er am liebsten täte, seit er sie dort angeschnallt in ihrem Sessel sitzend gefunden hat? "Was soll das?", hat er den zuständigen Arzt erregt gefragt. "Meine Ilse ist doch nicht aggressiv."  - "Doch", hat der ihm geantwortet. Rainer Schöner kann das nicht glauben. Er knetet die Hände, während er erzählt. Seine Stimme ist eindringlich.

"Ich bin der penetrante Ehemann", sagt Rainer Schöner. Er weiß, dass die Sorge um seine Frau ihn manchmal unerträglich macht für andere. Er weiß, dass die anderen denken: Die nerven, die Schöners. Beide. Sie sind aus der Welt gefallen, sie zuerst und er mit, weil er versucht, sie zu halten. Sie stehen im Weg, sie sind sperrig, sie sind Sand im reibungslosen Getriebe eines gesellschaftlichen Alltags, in dem alles laufen muss wie geschmiert, und zwar schnell. Die Schöners laufen nicht wie geschmiert. Und schnell geht bei ihnen gar nichts. Nichts geht schnell, wenn Alzheimer erst einmal das Gehirn löscht. Schnell geht nur das Fortschreiten der Krankheit.  

Vor der Entscheidung: Weiter zu Hause pflegen oder ins Heim?

Rainer Schöner weiß, was die anderen denken: die Ärzte, die er immer wieder mit seinen Fragen löchert und deren Erklärungen er nicht unhinterfragt schluckt. Er meint, dass seine Ilse dort schlecht behandelt wird und keine Bezugsperson hat, die sich um sie kümmert. Seine Tochter meint, dass sie dort sogar aufgelebt ist. Neulich hat Ilse Schöner ihre Tochter selbstbewusst und bestimmt weggeschickt, sie sei jetzt lange genug da gewesen, sie solle doch wieder heimgehen. Rainer Schöner weiß nicht mehr, was er glauben und was er tun soll. Soll er seine Frau heimholen?

Das neue Jahr hat nicht gut angefangen für die Schöners. Dabei schien anfangs alles so einfach. Rainer Schöner ging ins Kloster, und seine Frau fand sich gut zurecht im Pflegeheim auf Zeit. Sie war guter Dinge, sprach viel mit der Tochter, schien sich wohlzufühlen. Doch als sie wieder daheim ist, weint sie die ganze Zeit. Er versteht die Welt nicht.  "Warum weinst du bei mir und nicht bei den anderen?", fragt er verzweifelt.  "Weil ich Dich mag", antwortet sie. Ilse Schöners Zustand verschlechtert sich rapide. Beim Arztbesuch kann sie einfachste Fragen nicht mehr beantworten. "Wer wäscht Sie morgens?" – Fragender Blick auf ihren Mann. Stille. – "Wie heißen Ihre Kinder?" – Stille. – "Ist es eine Frau, die Sie morgens anzieht?" - Ein zögerliches Ja. Noch erkennt sie ihren Mann. Und auch ihre Kinder. Es ist eine Frage der Zeit, bis auch ihr Mann endgültig aus ihrem Leben kippt. Schon hat sie vergessen, dass er es ist, der sie jeden Morgen weckt und wäscht und ihr beim Aufstehen hilft.

Die Ärztin rät zur dreiwöchigen Kur. Seit sieben Tagen ist Ilse Schöner nun dort, und ihr Mann besucht sie jeden Tag. Was er sieht, macht ihn manchmal wütend. Etwa, wenn seine Frau plötzlich auf die geschlossene Abteilung verlegt wird und ihm keiner so richtig sagen will, was eigentlich passiert ist, die Schwester nicht, der Arzt nicht, und Ilse Schöner kann es nicht mehr.  

Rainer Schöner erzählt, wie er den Stationsarzt angeraunzt hat, und weiß doch, dass er auch ungerecht ist. Er hat sich entschuldigt, und weiß doch nicht so genau, ob sie wirklich gut aufgehoben ist, seine Frau. Oder ob alles nur noch schlimmer wird. "Wenn Sie sich solche Sorgen machen um Ihre Frau, dann sollten Sie sie mitnehmen", hat ihm die nette Schwester gesagt, und das hat ihn auch nicht beruhigt. Rainer Schöner muss sich entscheiden. Es ist diese Entscheidung, vor der er sich so gefürchtet hat. Die Entscheidung, ob seine Ilse in einem Heim nicht besser aufgehoben ist als zu Hause in der kleinen Reihenhauswohnung, wo er die Dachwohnung für eine Pflegerin ausgebaut hat. Sie haben sich vor wenigen Jahren etwas versprochen: Sich zu Hause zu pflegen. Rainer Schöners Mutter hat als 80-Jährige ihren Mann versorgt, als der Parkinson hatte. Bis zu seinem Tod. Was soll er machen? Für Rainer Schöner ist es die schwerste Entscheidung seines Lebens. Er gibt sich Zeit, darüber nachzudenken. Er ist verzweifelt. Doch er weiß, dass er sich entscheiden muss. Bald.

 

<link internal-link>Teil eins unserer Langzeitreportage: Ich gehöre nicht in diese Welt

<link internal-link>Teil drei unserer Langzeitreportage: "Liebe Ilse" – der Abschied


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2 Kommentare verfügbar

  • Siegrun
    am 16.04.2011
    Antworten
    Ich habe heute Ihre beiden Artikel gelesen. Seit sechs Jahren arbeite ich in der Demenzarbeit. Ich leite im Wechsel mit meiner Kollegin zwei ambulante Tagesgruppen und eine Halbtagesgruppe. Den Konflikt, den Sie beschreiben, erleben wir fast wöchentlich mit unseren Angehörigen. Es ist spannend zu…
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