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Korntal beim Kirchentag

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Der Stuttgarter Exprälat Martin Klumpp war der erste Kirchenmann, der sich öffentlich zu Korntal geäußert hat. Jetzt hat auch das Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags beschlossen, das Thema Missbrauch beim Kirchentag 2015 in Stuttgart auf die Tagesordnung zu nehmen.

"Damit wir klug werden" lautet das Motto des Deutschen Evangelischen Kirchentags im Juni kommenden Jahres, wogegen generell nichts einzuwenden ist. Und zur Klugheit gehört nun auch ein Beschluss des Präsidiums des Kirchentags, den Missbrauchsskandal und die schleppende Aufarbeitung der Heimvergangenheit in Korntal unter diese Losung zu stellen. "Wir sind dran", sagt die Generalsekretärin der Großveranstaltung, Ellen Ueberschär, gegenüber Kontext, "es wird in Stuttgart vor Ort etwas passieren."

Seit zwei Jahren denken mehr als 50 autonome Projektgruppen darüber nach, worüber sie bei dieser christlichen Zusammenkunft in Stuttgart diskutieren wollen. Eine von ihnen wird sich nun tatsächlich der Korntaler Verhältnisse annehmen. Befördert vom Präsidiumsmitglied Christine Bergmann, der ehemaligen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung. Sie hatte sich schon Anfang Oktober dafür ausgesprochen, angesichts der schwerwiegenden Vorwürfe ehemaliger Korntaler Heimkinder beim Stuttgarter Kirchentag offensiv damit umzugehen (zum Artikel <link http: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft korntal-leugner-2463.html _blank>"Korntal-Leugner"). 

Jetzt bekräftigt auch die Generalsekretärin diese Linie, überzeugt vom Vorschlag des Stuttgarter Exprälaten Martin Klumpp, der Grundsätzliches formuliert hatte. "Es kann unter dem Deckmantel des Heiligen und Christlichen Schlimmes passieren", sagte Klumpp im Kontext-Interview (Zum Artikel <link http: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft das-heilige-und-der-teufel-2586.html _blank>"Das Heilige und der Teufel"), und er fragte weiter: "Gibt es in der Kirche Strukturen, die anfällig für Missbrauch sind und anfällig für Vertuschung von Missbrauch?" Je heiliger die Institution, so Klumpp in Anspielung auf das "heilige Korntal" der Pietisten, umso schwerer falle es, Sünde und Verfehlungen einzugestehen. Die geplante Podienreihe "Schuld und Versöhnung" wäre dafür doch die richtige Adresse.

Der Deutsche Evangelische Kirchentag ist das Großereignis der Christen in Deutschland und versteht sich als eine Bewegung evangelischer Laien, die alle zwei Jahre Hunderttausende Menschen anlockt. Hier wird nichts dem Zufall überlassen, das Motto steht schon lange, die Themen werden geplant und festgezurrt, alles, was außer der Reihe tanzt, ist schwierig. Die Württembergische Landeskirche als Kirche vor Ort darf drei regionale Themen bestimmen und hat sich entschieden: Jugend, Stuttgarter Reichtum – Vielfalt in Kultur und Religion, Evangelisch – nicht nur in Württemberg. Korntal liegt vor der Haustüre. Von der Gänsheide, dem Sitz der Württembergischen Landeskirche, sind es nur 13 Kilometer bis zur Evangelischen Brüdergemeinde: Mehr Regionalität geht nicht. Diskutiert werden sollte darüber nicht. Warum?

"Tagesaktuelle Themen fallen nicht in die Zuständigkeit der regionalen Projektplanung", sagt Pressesprecher Dan Peter, "hier geht es um Perspektiven, die weit länger hinausreichen, konkret sogar bis 2030." Die Korntaler Heimopfer gehören offenbar nicht dazu. Aber es melden sich immer mehr, auch mehr Täter werden bekannt, und dann wird es mit den hehren Langzeitperspektiven schwierig. Vom dritten Heimopfertreffen am vergangenen Samstag berichteten alle regionalen Medien. Seit Monaten ist Korntal ein mediales Thema, vor mehr als einem Jahr hat der Exzögling Detlev Zander den Stein ins Rollen gebracht, als er sich erstmals an die Brüdergemeinde wandte, immer wieder vertröstet wurde und schließlich auf Schadenersatz klagte.

Das heißt: Der Druck auf die pietistische Einrichtung wird immer stärker. Wenn 30 ehemalige Heimkinder wie vor wenigen Tagen bereits zum dritten Male zusammensitzen und von ihrem Leiden im Hoffmann- und Flattichhaus berichten, ist das nicht zu verschweigen. Da ist die Rede vom Lehrer, der Schüler an den Haaren durchs Klassenzimmer gezogen und mit dem Rohrstock auf die Fingernägel geschlagen hat. Von der Erzieherin, die Kinder aus nichtigem Anlass in den dunklen Keller sperrte. "Ich konnte bis vor fünf Jahren nachts nur mit Licht schlafen", sagt Andrea M. Ein anderer erzählt stockend von den seelischen Grausamkeiten und Demütigungen. Auf die Toilette durfte man nicht während des Unterrichts. Und wenn einem Kind das Schreckliche passierte, dass es das Wasser nicht mehr halten konnte, musste es 20-mal zum Fenster rausschreien: "Ich bin ein Schwein."

Wolfgang S. hat dieses demütigende Erlebnis genauso wie den Missbrauch durch einen Erzieher ein Leben lang mit sich herumgetragen wie ein düsteres Geheimnis, das er alleine aushalten musste. Dann hat ihm sein Bruder die Artikel über Detlev Zander geschickt. "Das klingt schrecklich, aber ich war so froh, dass ich nicht alleine bin", sagt Wolfgang S. und weint. Längst werden die Vorwürfe Detlev Zanders von anderen Heimkindern bestätigt. Und auch die Anzahl der Täter wächst. Es ist nicht nur der ehemalige Hausmeister, dem Missbrauch vorgeworfen wird. Die Vorwürfe reichen vom Heimbäcker über Erzieher und Lehrer bis hin zum ehemaligen Schulleiter. Und während die Heimopfer darüber reden, schwärmen an diesem Samstag die Nikolause der Brüdergemeinde aus, um in Stuttgart für sich zu werben.

Manchmal ist die Stille mit Händen zu greifen, wenn jemand leise weint. Manchmal ist die Empörung so groß, dass alle durcheinanderreden. Etwa, wenn die Lehrerin Dorothea Schweigert vom Treffen der ehemaligen Mitarbeiter berichtet, die auf Einladung der Evangelischen Brüdergemeinde am Dienstag vor einer Woche zusammengekommen waren.

Als Grund- und Hauptschullehrerin war Dorothea Schweigert von 1965 bis 1967 in Korntal, hat eine Ausbildung als Sonderpädagogin angeschlossen und von 1985 bis 2002 erneut in der Brüdergemeinde unterrichtet. Die 71-Jährige hatte erwartet, dass die Missbrauchsfälle und die psychischen und physischen Demütigungen offen angesprochen und benannt werden. Stattdessen seien die rund 70 ehemaligen Erzieher und Lehrer auf Kleingruppen verteilt worden, und die erste Frage sei gewesen: "Erzählen Sie mal, wie schön es in Ihrer Zeit in Korntal war."

Der weltliche Vorstand der Brüdergemeinde, Klaus Andersen, betonte, wie wichtig die Arbeit der Erzieher und Lehrer gewesen sei und dass man die nicht in den Schmutz ziehen dürfe. Doch die ehemalige Lehrerin war nicht gekommen, um sich trösten oder aufmuntern zu lassen. "Ich will eine offene Aufarbeitung, keine Alibiveranstaltung, und das habe ich im Plenum auch gesagt", berichtet die engagierte Pädagogin. Darauf hat ihr Andersen sein Wort gegeben und darauf vertraut sie nun.

Eine Pressemitteilung zu diesem ersten Mitarbeitertreffen hat die Brüdergemeinde nicht herausgegeben. "Wir arbeiten noch an der Zusammenfassung der Ergebnisse", teilt Pressesprecher Manuel Liesenfeld auf Anfrage mit. Wann damit zu rechnen ist, kann er nicht sagen und auch keinen neuen Termin nennen. Daran arbeite man derzeit ebenso wie an der Suche nach einer geeigneten Persönlichkeit, welche die wissenschaftliche Aufarbeitung vorantreiben soll.

Wenn dies im selben Tempo vorangeht wie bisher, dann wird Korntal vorher noch beim Stuttgarter Kirchentag im Juni 2015 diskutiert werden.


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4 Kommentare verfügbar

  • Angelika Oetken
    am 30.05.2015
    Antworten
    "Je heiliger die Institution, so Klumpp in Anspielung auf das "heilige Korntal" der Pietisten, umso schwerer falle es, Sünde und Verfehlungen einzugestehen"

    Je heiliger die Angehörigen einer Institution sich geben, desto größer sollte die Skepsis sein, mit der man ihnen begegnet.

    "Heiligkeit"…
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