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Angst im Wohlfühlmilieu

Angst im Wohlfühlmilieu
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Seit Jahren steht Freiburg in der Kriminalitätsstatistik des Landes auf Platz eins. Dem Wohlfühlfaktor hat das bisher keinen Abbruch getan. Seit eine Gruppe minderjähriger Flüchtlinge mitmischt, ist die Bevölkerung jedoch alarmiert. Berechtigte Sorge oder Panikmache?

Den Kopf gesenkt, die Arme mit Handschellen fixiert: So hockt der junge Randalierer vorm "Elpi". Daneben, sichtlich außer Atem, drei Türsteher, die den Mann vor die Studentenbar gezerrt haben. Einen Augenblick wirkt die Szene wie eingefroren. Dann gerät mit einsetzendem Regen alles in Bewegung: die Jugendlichen, die ihren angetrunkenen Kumpel verteidigen wollen, die Türsteher, deren Geduld am Ende ist. Und die Blutstropfen, die sich auf den Pflastersteinen mit dem Regen vermischen.

Es ist kurz nach 1 Uhr nachts in Freiburg. Für Partygänger aus der ganzen Region beginnt das Wochenende – für die Polizei der ganz normale Wahnsinn. Als die Beamten vorm Elpi eintreffen, streckt ihnen der Türsteher seine blutige Hand entgegen: "Gebissen hat er mich! Durch den Handschuh!" Der Kumpel des Delinquenten lallt: "Die haben doch angefangen. Wir wollen sie anzeigen. Alle. Und zwar sofort." 

Fälle wie dieser sind noch harmlos gegen das, was die Freiburger Polizei in anderen Nächten erlebt. Hauptkommissar Peter Wagner, Einsatzleiter an diesem Abend, erinnert sich an eine "Megaschlägerei" im Nachtbus: "Es war wie im Film. Wir mussten die Bundespolizei und die Hundestaffel zur Verstärkung rufen, bevor wir die Streithähne rausziehen konnten. Während wir Handschellen anlegten, wurden die anderen Leute – locker über 200 – schon unruhig, weil sie mit dem Bus nach Hause wollten."

Dass in einer Großstadt schon mal die Fäuste fliegen, ist nichts Besonderes. Die Situation in der Freiburger Innenstadt hat sich in den letzten Jahren allerdings so zugespitzt, dass die Polizei 2007 die "Gewa City" ins Leben rief, eine Spezialeinheit, die an den Wochenendnächten im Bermudadreieck patrouilliert, um alkoholbedingte Gewalt einzudämmen. Laut offizieller Statistik ist Freiburg, gemessen an der Einwohnerzahl, die kriminellste Stadt in Baden-Württemberg. 

Im Jahr 2013 registrierte die Polizei im Stadtgebiet 26 462 Straftaten – ein leichter Anstieg um 0,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Bei den Wohnungseinbrüchen gab es einen rasanten Anstieg um 46,7 Prozent auf 496 Fälle. Außerdem zugenommen haben Gewaltverbrechen (plus 8,2 Prozent), darunter allein Raubüberfälle um 18,4 Prozent. Die Zahl der Drogendelikte stieg um 6,6 Prozent. Dieses Jahr haben Langfinger Hochkonjunktur: Bis Anfang Mai registrierte die Polizei 259 Taschendiebstähle in der Innenstadt – ein Anstieg um 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.

Warum gerade in Freiburg so gerne gestohlen, geprügelt und eingebrochen wird, ist umstritten. Die Polizei argumentiert, viele Straftaten würden aus dem Umland "importiert"; besonders am Wochenende strömen Partygänger und Touristen in die Stadt. Und Kriminelle. Eine Analyse des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht (MPI) von 2007 scheint diesen Verdacht zu erhärten: Demnach werden 38,5 Prozent aller Diebstähle von Personen begangen, die nicht in Freiburg wohnen.

Langsam kippt das Sicherheitsgefühl

Genauso gut könnte allerdings die Nähe zu Frankreich eine Rolle spielen. Durch die Aktivitäten von Zoll und Bundespolizei werden schlichtweg mehr Straftaten registriert als in Städten, die nicht in Grenznähe liegen. Und selbst dies erklärt die "Crime City" nur teilweise. Das Max-Planck-Institut räumt folgerichtig ein, die Ursachen nicht definitiv klären zu können. 

Worin die Ursachen auch liegen: Dem Wohlfühlfaktor hat die hohe Kriminalitätsrate bisher keinen Abbruch getan. Schließlich ist Papier geduldig, und – das darf nicht verschwiegen werden – in die Statistik fließen auch Delikte wie Fahrraddiebstahl und Trickbetrug ein. Doch nun scheint das Sicherheitsgefühl erstmals zu kippen. Verantwortlich dafür ist eine Gruppe unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (UMF), die für eine Vielzahl von Delikten verantwortlich sein soll.

Im Mai geriet zunächst der Stühlinger Kirchplatz, ein Park in der Nähe des Hauptbahnhofs, wegen Schlägereien und Drogengeschäften in die Schlagzeilen. Dann erschütterte eine Überfallserie das Nachtleben. Kurzzeitig sah es sogar so aus, als würde sich in Freiburg eine Bürgerwehr gründen: Türsteher des Szeneclubs Cräsh dachten Mitte Mai laut darüber nach, in ihrem Viertel für Ordnung zu sorgen. Obwohl sie nach einem Gespräch mit der Polizei zurückruderten, zeigt der Vorfall, dass vielerorts die Nerven blank liegen.

Laut Polizei wird aktuell gegen 47 minderjährige Flüchtlinge ermittelt, die hauptsächlich aus Nordafrika stammen. Sie sollen zusammengenommen 275 Straftaten begangen haben (Stand: 24. Juni). Während die Öffentlichkeit noch über mögliche Ursachen debattiert – Kriegstraumata, Drogenabhängigkeit, Schulden bei Schleusern –, wittern rechte Hetzblogs bereits Morgenluft. Im Internet wird munter gepöbelt über "kriminelle Asylanten, sinnlose runde Tische und hilfslose grüne Politiker".

Versetzt die neue Situation die sonst so liberale Stadt nun in Panik? "Die Situation taugt als Bedrohungsszenario, das vermeintlich einfache Antworten liefert", warnt Sabrina Ellebrecht vom Zentrum für Sicherheit und Gesellschaft der Uni Freiburg. Nämlich: Ordnung und Abschiebung. Umgekehrt habe gerade das grüne Klientel oft Probleme damit, eine stärkere Polizeipräsenz in der Stadt zu akzeptieren – eine Zwickmühle.

Die Freiburger erobern den Stühlinger Kirchplatz zurück

"Panik sehe ich nicht", sagt hingegen Dietrich Oberwittler, Kriminalitätsexperte am MPI und Autor der zuvor erwähnten Analyse. Statt in Hysterie zu verfallen, hätten die Freiburger besonnen reagiert, zum Beispiel durch regelmäßige Bürgertreffen auf dem Stühlinger Kirchplatz, um diesen "zurückzuerobern". 

Dennoch haben die Straftaten laut Oberwittler eine neue Dimension erreicht: "Gewaltkriminalität", sagt der Soziologe, "gab es bisher vor allem zu bestimmten Uhrzeiten an bestimmten Orten." Wer Samstagnacht durchs Bermudadreieck schlendere, wisse das. Neu sei die Situation im Stühlinger: "Ich verstehe, dass das ein Angstraum ist. Dort kann es inzwischen jeden treffen." 

Erschwerend hinzu kommt der Personalmangel bei der Polizei – ebenfalls ein Problem, das nicht erst seit gestern besteht. In einem Brief an Oberbürgermeister Dieter Salomon (Grüne) kündigte Innenminister Reinhold Gall (SPD) zuletzt fünf zusätzliche Beamte für die hiesigen Polizeireviere an – "enttäuschend", wie Salomon urteilte. 

Wie viel Personal tatsächlich notwendig wäre, lässt eine Aussage des ehemaligen Polizeichefs Heiner Amann im Freiburger Gemeinderat erahnen: "Mit 100 Leuten mehr ließe sich etwas machen."


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5 Kommentare verfügbar

  • Manfred weintet
    am 27.07.2014
    Antworten
    Tacheles:

    https://youtube.com/watch?v=N2nsTYbrWvs
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