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Kritische Bürger stören

Kritische Bürger stören
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Sei es die Autobahn in den Pyrenäen oder der Tiefbahnhof in Florenz: Technische Großprojekte wirken in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit und Verarmung wie Monumente sinnloser Geldverschwendung.

Das "Dritte Europäische Forum gegen unnütze, aufgezwungene Großprojekte" hat sich den weißen Elefanten zum Symbol gemacht. "Weißer Elefant" heißt ein technisches Großprojekt, das für viel Geld gebaut wurde, aber keinen wirtschaftlichen Nutzen bringt, sondern sozialen und ökologischen Schaden anrichtet. Dazu gehören etwa der Schnelle Brüter in Kalkar oder der Rhein-Main-Donau-Kanal. Hier, auf dem Forum, schleppen weiße Elefanten symbolisch die Embleme verschiedenster Protestgruppen auf dem Rücken. Zur Einstimmung dient der <link http: www.youtube.com _blank>"Mobi-Spot" mit Christine Prayon und Volker Lösch.

Sprache gibt Auskunft über Bewusstsein und Selbstverständnis. Das zeigt sich etwa, wenn man sich selbst einen Namen gibt. Wie es um das Selbstverständnis der Aktivisten bestellt ist, die sich vom 25. bis zum 29. Juli  zum dritten Mal trafen, um Erfahrungen im Kampf gegen den Bau technischer Großprojekte auszutauschen, macht sich schon im Veranstaltungstitel bemerkbar. Während des ersten Treffens in Italien war das "europäische Forum" kein "europäisches" Forum, sondern eines gegen unnütze Großprojekte. Ein Jahr später in Frankreich war es ein "Forum gegen unnütze, aufgezwungene Großprojekte", und nun in Stuttgart war es das "Dritte europäische Forum gegen unnütze, aufgezwungen Großprojekte". Nächstes Jahr soll ein Treffen in Rumänien stattfinden, dann wird das "europäisch" wieder gestrichen werden. Versuche, ein gemeinsames Selbstverständnis zu benennen, gehören dazu, wenn etwas Neues entsteht.

Vierzehn Initiativen stellten sich zu Beginn des fünftägigen Treffens vor, weitere kamen in den folgenden Tagen dazu. Sie stammten aus den verschiedensten Regionen Frankreichs, aus England, Italien, Spanien, Belgien, der Türkei, und selbst Vertreter indischer Initiativen referieren. Sie wehren sich gegen Trassen, Tunnel, Flughäfen, Kraftwerke und Brückenbauten. Selbstverständlich geht es auch immer wieder um Stuttgart 21. 

Unabhängigkeit von Parteien und Verbänden

Die Organisatoren legen Wert darauf, politisch unabhängig zu bleiben. Es soll ein Forum für Protestbewegungen jenseits von Parteien- oder Verbandsinteressen sein. Simultanübersetzer halfen, die Sprachbarrieren zu überwinden. 24 Workshops, 15 Vorträge und fünf Podiumsdiskussionen liefen wie am Schnürchen, während die etwa 2000 Teilnehmer aus der Küche der Stuttgarter Wagenhallen versorgt wurden.

Rita Schladt, die beigeordnete Bürgermeisterin eines 200-Einwohner-Dorfes aus der Bretagne, informierte vor allem über den geplanten Bau des Flughafens Notre-Dame-des-Landes. Der Streit dauert bereits seit den 70er-Jahren an. Viele Erfahrungen teilen die französischen Aktivisten mit anderen Initiativen. Allerorten würden Gelder für Großprojekte aufgebracht, während es etwa an der Sanierung öffentlicher Schulen fehle. Christian Grisollet, dessen Visitenkarte ihn als "Coprésident" von ACIPA, einer "Association Citoyenne Intercommunale" ausweist, ist die Solidarität wichtig. Er möchte die verschiedenen Protestbewegungen kennen lernen und deren Koordinierung vertiefen. In spontanen Begegnungen wurden Erfahrungen ausgetauscht.

Einige türkische Aktivisten des Taksim-Platzes erklärten, dass sich die Wirkung von Tränengasgeschossen reduzieren lässt, wenn man gleichzeitig kleine Feuer entzündet. Die Zuhörer aus Stuttgart lächeln höflich.

Der Bürger wird gleich zweimal zur Kasse gebeten

Zu den Highlights des Forums gehörte die Podiumsdiskussion "Ökonomische Hintergründe von Großprojekten". Zwar sind die Pläne für den Ausbau der europäischen Infrastruktur jahrzehntealt und unter dem Titel "Projekte europäischer Priorität" zusammengefasst, erläuterte Elena Gerebizza aus Rom. Aber ausgerechnet jetzt sollen sie, auf Druck der Investoren und über die Europäische Kommission, dringend fertiggestellt werden. Um das fehlende Geld zu beschaffen, wurden im Jahr 2012 die "Europa-2020-Projektanleihen" eingerichtet. Bei dieser Form des Public-private-Partnership werde ein alter Trick angewendet: Wenn beim Bau des Projekts etwas schiefgeht, sich etwa der Hochgeschwindigkeitszug nicht auszahlt, weil er nur von wenigen Menschen benutzt wird, dann übernimmt die Europäische Investitionsbank (EIB) die Kosten. Das Geld hat sie vorher zu großen Teilen von der öffentlichen Hand erhalten. So wird der Bürger oft gleich zwei Mal für Bauten zur Kasse gebeten: mit Steuern und mit den Tickets für die Zugfahrt oder die Autobahngebühr.

Eine neue Qualität der Märkte sei, so Gerebizza, dass deren Hauptakteure vorrangig daran interessiert seien, Geld aus Geld zu gewinnen. Deshalb würden technische Großprojekte nicht gebaut, obwohl sie viel Geld verschlingen, sondern weil sie viel Geld verschlingen. Der Druck, den europäische Institutionen derzeit auf Kommunen ausüben, um Großprojekte fertigzustellen, erlaube es nicht, diese erneut auf ihre Wirtschaftlichkeit zu hinterfragen. Kritische Bürger seien deshalb besonders störend.

Das Problem der in diesem Moment angereisten Bürgerinitiative aus den Pyrenäen wirkte wie ein Beleg dieser Ausführungen: Seit 1987 wehrt sich das kleine Dorf gegen die Fertigstellung eines Teilstücks der Autobahn zwischen Bordeaux und Valencia. Der Bau wurde bald nach Beginn der Proteste ausgesetzt. Vor einem Monat aber bekam der Bürgermeister die Nachricht: Jetzt, 26 Jahre später, soll weitergebaut werden – und zur Kasse gebeten werden die Kommunen.

Der ausdauerndste Protest gegen ein europäisches Infrastrukturprojekt, so ein Fazit von Winfried Wolf, sei der gegen Stuttgart 21. Doch gerade aus Stuttgart hätten sich die Organisatoren mehr Teilnehmer gewünscht. Allerdings könnte ein Blick auf die Außenwahrnehmung der Stuttgarter Proteste ermuntern. Etwa, als eine Hamburgerin feststellte: "Es hat uns unglaublich mobilisiert, dass selbst die Schwaben, von denen das niemand erwartet hat, auf die Straße gehen."

Der weiße Elefant – Symbol des Protests von Tunesien bis Dänemark

Warum werden technische Großprojekte ausgerechnet jetzt zum Mittelpunkt internationaler Proteste und Gegenwehr? Bürgerinitiativen, die sich gegen Großbauten wehren, gibt es schon lang. In den 70er-Jahren waren, zumindest in Deutschland, mehr Menschen in ihnen organisiert als in politischen Parteien. Viele erinnern sich an die Kämpfe der Weinbauern im Larzac. Und schließlich sind auch Atomkraftwerke technische Großprojekte. Dass ausgerechnet jetzt der weiße Elefant von Dänemark bis Tunesien, von Belgien über Frankreich bis Rumänien zu einem Symbol des Protests wird, zeigt eine veränderte Wahrnehmung: Die Menschen sehen ihre Lebensqualität bedroht, da ihnen Bauten vor die Nase gesetzt wurden, die entweder massiv in die Landschaft eingreifen oder zu deren Gunsten öffentliche, identitätsstiftende Orte der Stadt geopfert werden sollen.

Eine gemeinsame Erfahrung ist, dass öffentliche, ergebnisoffen geführte Debatten über Sinn und Zweck dieser Projekte nicht erwünscht sind. Und vor allem: Während die soziale Schere in Europa immer weiter auseinanderklafft, Arbeitslosigkeit und Verarmung steigen, wirken diese technischen Großprojekte wie Monumente sinnloser Geldverschwendung und erzeugen den Eindruck, dass sich verantwortliche Politiker vor allem von Lobbyistengruppen dirigieren lassen, während sie nichts mehr fürchten als couragierte, mündige Bürger. Trotz der Verschiedenheit der lokalen Protestanlässe sehen sich die Aktivisten offenbar mit einem gleichen politisch-ökonomischen Prinzip konfrontiert.

So bleibt abzuwarten, ob sich die verschiedenen Initiativen und Protestbewegungen, die während des Forums gemeinsame Probleme und Möglichkeiten thematisieren, mit gesellschaftlichen Alternativen beschäftigen werden. Ob sie, wie es etwa Peter Grottian während des Forums für dringend geboten hielt, einen Gegenentwurf, eine "demokratische Alternative" zum immer noch dominanten Gesellschafts- und Politikmodell formulieren werden.


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6 Kommentare verfügbar

  • Rita Schladt
    am 06.08.2013
    Antworten
    Kleiner Nachtrag : mein Wohnort Blain hat 10.000 und nicht 200 Einwohner.

    Rita Schladt
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